Blaulicht und Blutmond. Dr. med. Christoph Schenk
vor den Fenstern und eine gute handvoll Psychopharmaka morgens und abends, die ihn seine Umwelt wie durch Watte erleben ließen.
Klaus’ Freiheit war vorübergehend weg, aber nach einigen Wochen ging es aufwärts.
Erst nur sehr langsam, dann jedoch mit immer größeren Schritten. Er fühlte sich täglich besser, nahm regelmäßig an den Einzel- und Gruppentherapien der Klinik teil und war sogar beinahe täglich im Sportraum. „Ein gesunder Geist wohnt in einem gesunden Körper!“ stand dort auf weißen der Wand geschrieben.
Seine Lebensfreude war zurückgekehrt.
Auch die behandelnden Ärzte waren einigermaßen überrascht vom schnellen Fortgang seiner Genesung. Und so war es dann nur konsequent, dass Klaus nach einem Monat von der geschlossenen Abteilung auf die „Allgemeinstation“ verlegt wurde. Er genoss die zurückgewonnene Freiheit. Klaus besorgte zusammen mit anderen Erkrankten den wöchentlichen Einkauf, kochte für seine fünf Mitpatienten und half den Krankenschwestern seiner Station, wo es nur ging.
Heute an diesem Februartag nun ein weiterer großer Schritt in Richtung auf seine vollständige Genesung. Als Klaus seine Frau Marion in der Vorhalle der Klinik sieht, werden seine Schritte schneller und seine Augen beginnen zu leuchten. Die beiden fallen sich in die Arme, halten sich lange Momente fest gedrückt in den Armen. Dann gehen sie, ohne ein Wort zu sagen, durch kalten Nieselregen zum Parkplatz, auf dem das Auto steht. Knapp vierzig Kilometer sind es nun noch bis nach Hause.
Auf halber Strecke hält Marion an einer Tankstelle an.
„Ich mache nur rasch den Tank voll, dann gehts auch schon weiter!“
Klaus nickt still. Und während sich Marion jetzt um das Auto kümmert, schaut sich Klaus im Auto um.
„Muss ich demnächst mal wieder putzen. Innen und außen. So schmutzig war unser Auto lange nicht!“, denkt er und beginnt auch gleich die Handschuhablage vor ihm aufzuräumen. Alte Parkhausbelege, Quittungen, eine leere Schachtel Kinderschokolade.
„Kann alles in den Müll!“, sagt er leise und schüttelt den Kopf.
Da hält er plötzlich einen Brief in der Hand. „Einschreiben“ steht da mit dicken Lettern drauf. Und weiter: „An Klaus und Marion Meier“. Er öffnet den Briefumschlag und beginnt zu lesen.
Ihm schnürt es schon beim Lesen des ersten Absatzes die Kehle zu...
Kurz bevor Marion wieder ins Auto steigt, legt er das Einschreiben zurück in die Ablage.
„Dann wollen wir mal weiterfahren!“, sagt Marion Sekunden später, schließt die Fahrertür und startet den Motor.
Ihr Mann antwortet nicht. Sagt keinen Ton. Klaus bleibt nach außen ganz ruhig, im Inneren jedoch kocht er. 1000 Gedanken rasen ihm durch den Kopf. Er hat das Gefühl, dass sein Schädel gleich platzt.
Fünf Kilometer später führt die schnurgerade Kreisstraße die Eheleute durch ein kleines Dorf. Marion hält sich strikt an die Geschwindigkeitsbeschränkung von 50km/h. Klaus ist immer noch still, scheint gedankenversunken.
„Klaus, ist alles in Ordnung? Du bist so ruhig?“, fragt Marion und gibt am Ortsausgang von Klein Dehlum wieder Gas.
Da öffnet ihr Mann unvermittelt seinen Sicherheitsgurt, reißt im gleichen Moment die Beifahrertür auf und springt bei etwa 60 km/h aus dem fahrenden Auto. Er klatscht auf den nassen Asphalt, überschlägt sich einige Male und bleibt nach gut zwanzig Metern regungslos am Straßenrand liegen...
Nachtrag:
Klaus hatte sich neben der Unterarmfraktur drei Brustwirbelkörper gebrochen. Er lag insgesamt knapp drei Wochen in der Unfallchirurgie. Anschließend hat er seine Therapie in der Landesklinik fortgesetzt.
In dem erwähnten Einschreiben, das Klaus zum Sprung aus dem Auto veranlasste, drohte die Sparkasse den Eheleuten mit der Zwangsversteigerung ihres Einfamilienhauses. Marion und Klaus hatten einzelne Kreditraten nicht begleichen können.
Susanne
Schweiz. Winter 2008.
Seit Dienstbeginn heute morgen um acht piept es ununterbrochen. Talstation hier, Bergstation da. Ein Ski- oder Snowboardunfall nach dem anderen. Das Wetter der letzten Tage trägt Mitschuld daran: tagsüber herrlicher Sonnenschein und des nachts strenger Frost. Das lässt den Schnee über den Tag schmelzen und sulzig werden. In der Nacht friert er dann knüppelhart. So ist dann beinahe jeder Sturz ein „Treffer“: ausgekugelte Schultern, verdrehte Knie, Wirbelsäulen- und Schädelhirnverletzungen. Das ganze Programm...
Giovanni, Hinrich, Bjarne und ich sitzen ausgelaugt um kurz vor sieben endlich mal für etwas längere Zeit auf dem Sofa der Rettungswache. Essen, trinken, Wunden lecken.
Zur gleichen Zeit klingelt in der Notrufzentrale das Telefon.
„Rettungsleitstelle Bern. Was können wir für Sie tun?“
Der Stimme nach ist ein Kind am anderen Ende der Leitung.
„Mein Papa ist krank. Schläft und zuckt!“
„Mit wem spreche ich denn?“
„Mit Susanne.“
„Bist Du allein?“
„Ja. Mama ist mit Oma spazieren!“
„Wo bist Du denn? Weißt Du wo Du wohnst?“
„Wir sind in den Skiferien.“
„Susanne, warte mal. Nur ganz kurz!“
Der Disponent der Rettungsleitstelle öffnet rasch an seinem Computer ein Programm zur Ortung von Festnetztelefonnummern. Der Monitor zeigt ihm innerhalb von Sekunden die Adresse jenes Apparates an, von welchem aus Susanne anruft. Während er nun die Alarmierung von Notarzt und Rettungswagen vorbereitet, spricht er gleichzeitig wieder mit der jungen Anruferin.
„Atmet Dein Papa?“
„Er grunzt!“
„Kannst Du ihn wecken?“
„Hab ich schon versucht. Er schläft. Und zuckt!“
„Mach Dir keine Sorgen. Gleich kommen Leute, die sich um Deinen Papa kümmern!“
Ein letzter Klick am Computer und kurze Zeit später piept es bei uns gleichzeitig in vier Hosentaschen.
„Krampfanfall. Unterheiderstrasse 15“ steht auf dem Display des Alarmmelders.
„Irgendwann muss es aber auch mal aufhören. Die Pisten sind längst geschlossen!“, sagt Hinrich und steht vom Sofa auf.
„Alles hat ein Ende nur die Wurst hat zwei...!“ bekommt Hinrich eine gesungene Antwort von Giovanni, der sich schon seine Stiefel anzieht.
Gemeinsam gehen wir in die Fahrzeughalle. Blaulicht an und los.
„Susanne, kannst du schon allein die Wohnungstür aufmachen?“, fragt der Disponent derweil die kleine Anruferin.
„Ich bin schon acht!“
„Super! Dann pass jetzt mal gut auf: wenn Du ein Auto mit Sirene hörst, dann öffnest du ganz schnell die Tür und lässt die Männer rein, die Deinem Papa helfen wollen. Dann zeigst Du den Männern gleich wo dein Papa liegt!“
Schon nach drei Minuten erreichen wir die angegebene Adresse in einer Ferienhaussiedlung. In der geöffneten Wohnungstür steht ein kleines Mädchen im Schlafanzug. Wir schnappen unsere Ausrüstung und gehen zu dem Kind.
„Hallo, hast Du uns angerufen?“
Das Mädchen schaut mich schüchtern an und nickt.
„Wie heißt Du denn?“
„Susanne!“