Blaulicht und Blutmond. Dr. med. Christoph Schenk
Den letzten Becher behält er für sich und nimmt gleich, wie auch die beiden Frauen, einen großen Schluck daraus. Dann setzen sie ihre Fahrt auf der E6 fort.
Anong wird es nach kurzer Zeit schwindelig. Ihr Herz rast und vor ihren Augen verschwimmt die Umwelt. Alles um sie herum dreht sich. Dann kippt die junge Thai plötzlich zur Seite. Sie ist eingeschlafen.
Giovanni hat das alles exakt im Rückspiegel beobachtet, fährt aber zunächst weiter, bis er die kleine Parkbucht unterhalb von Hintertupfingen entdeckt.
„Hier ist es ideal!“ denkt er sich und hält an.
Dann steigen Alessandra und er hastig aus dem Auto aus. Giovanni öffnet sofort die Heckklappe des PKW, holt einen Reservekanister heraus und übergießt Anong von Kopf bis Fuß mit Benzin. Den restlichen Treibstoff verteilt er im gesamten Innenraum des Autos. Als der Kanister leer ist, treten die beiden einige Schritte zurück. Es ist jetzt mucks-mäuschenstill, kein anderes Auto oder Motorrad auf der E6 zu hören.
Nun passiert es: Giovanni fasst in seine Hosentasche und holt eine Packung Streichhölzer raus. Sekunden später steht das Auto vollständig in Flammen...
Zu den Indizien:
Ermittlungen im Mailänder Umfeld von Giovanni ergaben, dass er ein sog. "Loverboy" war. Sein Aussehen und seine Art machten Eindruck auf Frauen. Hatten sie sich in ihn verliebt, so brachte er sie nach und nach dazu, für ihn auf den Strich zu gehen. Das machte ihn im Zusammenhang mit dem dubiosen PKW-Brand Anongs Tod sehr verdächtig.
Zeitgleich mussten thailändische Verwandte von Anong in Asien ausfindig gemacht werden, um zu klären, ob es sich bei der „unbekannten“ Toten überhaupt um Anong handelte. Das konnte mittels DNA-Test zweifelsfrei geklärt werden.
Die technische Untersuchung des PKW ergab, dass weder Brandauslöser noch Manipulationen am Auto zu finden waren. Insofern deutete einiges auf Brandstiftung zum Vertuschen eines Tötungsdeliktes hin.
Die Rechtsmediziner konnten aber mit den gängigen Methoden kein „Gift“ in den wenigen nicht verbrannten Gewebeproben von Anong nachweisen. Das gelang erst durch internationale Zusammenarbeit. In einem amerikanischen Speziallabor konnte nach Monaten der Bruchteil von einem Milligramm „Liquid-Ecstasy“ in Gewebeproben der jungen Frau nachweisen.
Schlussendlich dauerte es auch fast ein Jahr, um in dem völlig verkohlten Autoinneren noch den „Brandbeschleuniger“ nachzuweisen. Das Benzin und seine Verbrennungsrückstände waren durch das langanhaltende Feuer auch weitgehend zerstört oder hatten sich verflüchtigt.
Giovanni und Alessandra sind zum Zeitpunkt dieser Erkenntnisse aber längst im wahrsten Sinne des Wortes „über alle Berge“. Sie werden mit internationalem Haftbefehl gesucht.
Ob sie gefasst wurden weiß ich nicht.
Dunkle Geheimnisse
Schweiz 2008. Was für ein misslungener Start in den Dienst!
Pünktlich um 7 Uhr übernehme ich den Pieper vom Kollegen der Nachtschicht. Nur zwei Minuten später schickt uns die Rettungsleitstelle in das örtliche Altenheim:
„Leblose Person“.
Leblos bleibt die „Person“ dann auch: bei der 93-jährigen Hilde können wir nichts mehr ausrichten. Sie ist mausetot. Seit Stunden bereits, wie die weit ausgeprägte Leichenstarre deutlich zeigt. Nachdem ich alle Formalitäten erledigt habe - Leichenschau, Totenschein, Telefonat mit den Angehören - fahren Jan und ich zurück zu Rettungswache. Der erste Kaffee des Tages wartet.
Kurz bevor wir aber in die Fahrzeughalle fahren wollen, piept es erneut.
„Chirurgisch, männlich, 48“ steht auf dem Display.
„Kann doch nicht wahr sein!“, grummelt Jan, wendet das signalgelbe Auto und nimmt Ziel Richtung Nachbarort. Mit Blaulicht fahren wir am glasklaren Bergsee vorbei. Ein paar Angler sind in ihren Booten auf dem Wasser und die nimmermüden „Frühmorgens-Schwimmer“ ziehen kurze, eiskalte Bahnen.
Nach 13 Minuten erreichen wir die angegebene Adresse, das „Haus Erika“.
„Haus“ trifft es nicht gut. Gar nicht. „Villa Erika“ sollte das Anwesen hier heißen, besser noch: „Palast Erika“! Ein riesiges parkähnliches Anwesen mit einer monströsen Jugendstil-Villa im Zentrum. Davor steht ein Rettungswagen.
„Geh schon vor, ich bringe die Medikamente hinterher!“, sagt Jan.
Schnell eile ich den von Buchsbäumen gesäumten Kiesweg entlang, dann 10 Stufen hoch bis zum Eingangsportal. Hier werde ich von einer Frau in Empfang genommen. Die gepflegte, alte Dame weist mir mit resolut ausgestrecktem Zeigefinger den Weg zu der breiten Empore, die hoch in die oberen Etagen führt.
„Martin ist in seinem Zimmer, ganz oben im Dachgeschoß. Ich bin seine Stiefmutter!“, sagt sie knapp, fast herrisch.
„Boah, was für ein Haus! Hier wohnt richtig viel Geld!“, schießt es mir durch Kopf als ich die endlose Treppe hoch eile. Überall Ölgemälde und Bronzestatuen in allen Größen, goldene Lüster an den Wänden und dazu große Perserteppiche auf dem Marmorboden.
Außer Atem erreiche ich nach unzähligen Stufen das Dachgeschoß und stehe vor Martins Zimmer.
„Hier riecht es aber komisch!“, denke ich noch, kurz bevor ich den Raum betrete. Dann, als ich die Zimmertür ganz öffne, trifft mich der Schlag. Es stinkt erbärmlich! Eine Mischung aus dem fies-strengen Geruch „Wohnheim ohne Fenster für alleinstehende, schwitzende Männer“ und dem süßlich-morbiden Duft einer Leichenhalle.
Mich würgt es!
Ich wende meinen Blick in das Zimmer. Die winzige Dachbodenkammer ist bis zum letzten Quadratzentimeter zugemüllt: schmutzige Kleidungsstücke, krümelige Zigarettenreste, blutige Taschentücher, dazwischen vergammeltes Essen, zerknitterte Pornoheftchen und ein vergilbter Computer.
Auf diesem „Müllberg“ liegt Martin. Ein ausgezehrter, ungepflegter Mann mit filzigen Haaren, gelben, langen Fingernägeln und zotteligem Vollbart. Er hat nur eine dreckige Unterhose an, dazu ein verfärbtes T-Shirt. Im Unrat kniet ein Sani, der rhythmisch auf Martins Brustkorb drückt, während der zweite Sani mit einem Beutel Sauerstoff in Mund und Nase des Patienten presst. Ich mache rasch zwei, drei Schritte nach vorne und übernehme den Beatmungsbeutel.
„Schnell, kleb’ Du das EKG auf!“, bitte ich den Sani und frage weiter:
„Was ist passiert?“
„Die alte Frau hat wohl ein Poltern gehört. Sie ist dann hoch und sah den Mann hier liegen. Dann hat sie gleich den Rettungsdienst angerufen! Als wir kamen hatte er keine Atmung und keinen Puls!“
Das EKG ist bereit.
„Mach eine Sekunde Pause!“, bitte ich den drückenden Sani.
Der Monitor zeigt uns eine Null-Linie. Martins Herz steht still.
„Drück weiter! Und Du Jan, versuch einen Tropf zu legen!“
„Wissen wir sonst noch irgendwas von dem Patienten? Vorerkrankungen?“
Die Sanis schütteln den Kopf.
Ich blicke rasch zwischen zwei Beatmungen in Martins grüne Augen. Die schwarzen Pupillen sind riesig groß und zeigen keine Reaktion, als ich mit meiner Lampe hineinleuchte.
Die Sanis wechseln sich bei der kräftezehrenden Herzdruckmassage ab. Ich drücke ein weiteres mal reinen Sauerstoff in Martins Lungen. Dabei fällt mir zufällig eine winzig kleine Blutlache im Müll unter dem Kopf unseres Patienten auf.
„Womöglich vom Sturz eine Platzwunde am Kopf?,“ denke ich und taste mit meiner rechten Hand entlang des Hinterkopfes von Martin. An meinem Handschuh klebt nun Blut.
„So,