Keiner zwischen uns. Carolin Hristev
die halbe Klasse meldet sich. Unter anderem ich, weil nämlich auch Marie ihren Arm in die Luft streckt.
Gleich darauf bereue ich es. Was will ich in Mecklenburg- Vorpommern? Meine Tante wohnt in der Hauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern und ich bin jede zweite Ferien dort. In den Niederlanden war ich im Gegensatz dazu noch nie.
»Spinnst du, Alter?«, sagt Hamza.
»… elf, zwölf, dreizehn!«, zählt Frau Häuser mit einem schlecht versteckten Siegerlächeln. Mecklenburg-Vorpommern hat mit einer Stimme Mehrheit gewonnen. Und natürlich sind die anderen stinksauer.
»Ich denke, das ist die richtige Entscheidung«, sagt Frau Häuser. »Wenn ihr selbst mal in so einer Situation seid, werdet ihr es zu schätzen wissen, wenn andere auf euch Rücksicht nehmen.«
»Pf, ich hab mein deutschen Pass«, sagt Theo wütend, und da wird Frau Häuser richtig ärgerlich. »Das war so ungefähr das Unpassendste, was man jetzt sagen konnte, Theo.«
Es klingelt. Manche stürmen nach vorn und reden auf Frau Häuser ein, aber Hamza und ich nehmen unsere Rucksäcke und verschwinden. Ist sowieso klar, dass die Sache entschieden ist.
»Was sollte das denn?!?«, sagt Hamza, als wir im Flur sind und der Tumult leiser wird. »Wieso hast du nicht für Holland gestimmt?! Ein See, Alter. Statt Ausflug nach Amsterdam. Manchmal bist du echt derbe bekloppt, Nelson.«
2
NELSON
In der ersten Stunde sollen wir unseren neuen Klassenlehrer kennenlernen, der kommt, weil Frau Häuser seit letzter Woche in Mutterschutz ist. Alle sind gespannt und deswegen ziemlich leise, als es klingelt und wir darauf warten, dass er auftaucht.
»Mal sehen, ob der auch Filme mit uns guckt«, sage ich zu Hamza. Dabei schaue ich unauffällig in die Richtung, in der ich Maries blonde Haare sehe.
Ein dünner Mann steckt den Kopf zur Tür herein. »9b?«
»Yes!«, brüllt Tolga zur Antwort. »In anderen Worten: Die geilste Klasse der Welt!«
Der neue Lehrer sagt nichts, sondern zieht die Tür hinter sich zu und stakst stumm zum Lehrertisch. Klack – klack – klack, macht es. Ein paar von uns kichern. Zu seinem Anzug trägt der Lehrer glänzende flache Lederschuhe, und diese Schuhe sind es, die bei jedem Schritt so klicken und klacken wie Frauenschuhe mit hohen Absätzen. Der Lehrer stellt seine Sachen ab und sich selbst – klack – klack – klack – vor die Tafel. Inzwischen hat es jeder gemerkt und die halbe Klasse kichert. Dann sagt der Lehrer stockend, dass er Zimmermann heißt. Und dass wir bitte Namensschilder schreiben sollen. Als wir alle ein Namensschild geschrieben haben, fragt er, ob wir Fragen haben.
Drei, vier Hände gehen hoch. Er nimmt Ibo dran.
»Was hören Sie für Musik?«
Ein paar lachen.
»Haydn, Brahms … Wagner auch«, sagt Herr Zimmermann und knetet seine Finger.
Nie gehört.
Duygu, die Nervensäge, zappelt mit den Fingern in der Luft herum und stellt eine typische Mädchenfrage: »Haben Sie eine Freundin?«
Duygus Frage scheint Herrn Zimmermann noch unangenehmer zu sein als die von Ibo. »Im Moment nicht … keine Fragen mehr?«
Es bleibt leise.
»Well, let’s start with English then«, sagt Herr Zimmermann, und wir sind uns jetzt schon einig: Der Typ ist eine Schlaftablette und das Interessanteste an ihm sind seine Schuhe.
Ich spiele mit Hamza »Drei gewinnt«, bis unser neuer Lehrer es mitkriegt und den Zettel in den Mülleimer schmeißt. Fünf Minuten höre ich zu, aber es ist derbe langweilig, und als von Julius eine Papierkugel geflogen kommt, bin ich extrem dankbar. Ich schmeiße die Papierkugel Ibo in den Nacken, und als der sich umdreht, gucke ich interessiert an ihm vorbei zur Tafel. Ibo knüllt sein Namensschild zusammen und zielt auf Hamza, aber trifft nicht, der Loser. Er tut aber so, als wäre das Absicht gewesen. Als er wieder an die Tafel schaut, werfe ich ihm mein Namensschild in den Nacken. Diesmal merkt er, dass ich es war.
»Ey, Nelson, du Wichser!« Jetzt trifft er sogar fast.
»Ähm …«, ruft Herr Zimmermann in Ibos Richtung, »wie heißt du?«
Ibo lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. »Für Sie Ibrahim.«
»Nach der Stunde fegst du, Ibrahim!«
Das hätte Herr Zimmermann wohl besser nicht sagen sollen. Die meisten Lehrer kommen mit Ibo inzwischen ganz gut klar – solange er nicht wütend ist.
Aber Ibo wird ziemlich schnell wütend. Besonders dann, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Und Ibo fühlt sich besonders ungerecht behandelt, wenn jemand so was zu ihm sagt wie: ›Du fegst.‹
Er springt auf. Sein Gesicht ist dunkelrot. »Was, wieso ich, Mann? Mach ich nich, Mann, mach ich nich! Die anderen haben auch geworfen, ich hab nur zurückgeworfen! Das is unfair, ich feg nich, mach ich nich!«
Ich könnte mich jetzt melden und sagen, dass ich ihn zuerst abgeworfen habe. Aber wieso sollte ich den Kopf für Ibo hinhalten?
Herr Zimmermanns Stimme wird lauter. »Und ob du fegst! Hör auf zu diskutieren! Setz dich wieder hin, wir sind hier im Unterricht!«
Ibo fuchtelt mit den Armen in der Luft herum. »Die anderen haben auch geworfen! Die haben noch viel mehr geworfen! Können Sie zehnmal sagen, dass ich fege, mach ich trotzdem nich! Das regt auf, Mann! Ungerecht ist das, Mann!«
Herr Zimmermanns Gesicht ist jetzt fast so rot wie Ibos. »Wo sind wir denn hier?! Das ist doch kein Kindergarten!«
»Genau!«, schreit Ibo. »Und deswegen können Sie mir gar nichts befehlen, Sie Schwuchtel!«
Es ist superleise, nur Duygu prustet los.
Ich melde mich, aber keiner nimmt mich dran, weil Herr Zimmermann immer noch fassungslos Ibo anstarrt.
»Ich hab zuerst geworfen«, sage ich trotzdem und nehme den Arm runter. »Ich feg dann.«
»Hier?!«, ruft Ibo. »Sehen Sie? Sehen Sie, wie ungerecht Sie sind, Mann?! Das lass ich mir nicht gefallen!«
Herr Zimmermann weiß immer noch nicht, was er sagen soll. Er ist jetzt nicht mehr rot, sondern bleich.
»Du bleibst nach der Stunde da, Ibrahim!«, ruft er. »Ich lasse mich hier nicht beleidigen, in der ersten Stunde!«
»Mir doch egal!«, schreit Ibo, und dann klingelt es und Ibo schießt aus der Tür und die anderen hinterher.
Nach der Schule chillen Hamza und ich noch ein bisschen auf dem Spielplatz.
»Du fegst!«, ruft Hamza mit zittriger Stimme und weit aufgerissenen Augen. Ich lasse mich vor Lachen rückwärts von dem abgewetzten Rücken des Krokodils fallen. Dann springe ich auf und rufe: »Was hören Sie für Musik?«
Ich gebe mir selber die Antwort, mit der langweiligsten Stimme, die ich hinkriege: »Ach … Heiner und Prams.« Dann mache ich Duygus Stimme nach: »Haben Sie eine Freundin?«
Die Antwort versuche ich irgendwie tuntig klingen zu lassen: »Im Moment nicht. Ich stehe nämlich nicht auf –«
»Aber sobald eine beim Date nicht einschläft«, fällt Hamza mir ins Wort, »frag ich sie. Bisher sind alle eingeschlafen, aber – ich – «, er reißt den Mund auf und gähnt laut, »gebe – die – Hoffnung – «, er macht perfekt die Körperhaltung von Herrn Zimmermann nach, »nicht – auf.« Er fängt an zu schnarchen, und schwankt hin und her, als ob er im Stehen eingeschlafen ist. Ich muss so hart lachen, dass mir der Bauch wehtut. Mir fallen die Schuhe von dem Typen ein, und mit der Zunge produziere ich ein Klacken, das diese Schwuchtellederlatschen ziemlich genau imitiert, und stolziere dabei um die Tischtennisplatte. Dann ruft Hamzas Mutter an und sagt, dass das Essen fertig ist.
Ich