Keiner zwischen uns. Carolin Hristev
ist die zweite Woche ohne Mama, und obwohl ich normalerweise, wenn sie da ist, auch nicht unbedingt extrem viel Zeit mit ihr verbringe, ist es mittlerweile ziemlich deprimierend. Die Wohnung fühlt sich so leer an, und egal, wie laut ich Musik aufdrehe, irgendwie wird es nicht lebendiger. Wenn Mama in der Klinik ist, hab ich immer einfach nur Angst, dass es so bleibt. Dass die schlimme Phase nicht vorbeigeht und sie für den Rest ihres Lebens traurig sein wird.
Ich nehme das Foto in die Hand, das auf meinem Schreibtisch steht. Mein Vater und ich. Er hat den Arm um mich gelegt und wir lachen. Elf Jahre war ich da alt.
Ich hole das Bild aus dem Rahmen und lese zum hunderttausendsten Mal die Schrift auf der Rückseite. Mit meinem Nelson im Hansapark.
Vorsichtig stecke ich das Bild zurück und bastle den Rahmen wieder zusammen.
Hunger habe ich keinen mehr.
Stattdessen lege ich mich aufs Bett. Und dann kommt einer dieser elenden Vermiss-Anfälle.
Ja, ich weiß, was alle denken. Ich kenne die Klischees über afrikanische Männer. Hier mit einer deutschen Frau anbändeln, sie schwängern, sie sitzen lassen.
Aber mein Vater hat meine Mutter nicht sitzen gelassen. Mein Vater hat meine Mutter geliebt. Vor zwei Jahren ist er gestorben, und er fehlt mir ohne Ende.
Ich nehme einen Zettel und versuche, einen Rap zu schreiben. Manchmal hilft das, wenn ich meinen Vater besonders stark vermisse. Die ganze Wut, der ganze Schmerz, wenn die auf dem Papier sind, ist für eine kleine Weile ein bisschen weniger davon in mir drin.
Aber heute kriege ich keine zwei Zeilen zustande. Ich gebe auf, lege meinen Kopf auf den Zettel, presse die Augen zusammen und versuche, an gar nichts zu denken.
Erst als es anfängt, komisch zu riechen, bemerke ich den Rauch, der vom Flur in mein Zimmer wabert. Die Pizza! Der Ofen qualmt wie ein Wagen zwischen Unfall und Explosion. Als ich die schwarzverkohlte Pizza herausangle, verbrenne ich mir die Hand.
Fuck, das war’s wohl mit Abendessen.
Macht nichts. Ich habe ja noch eine Drei-Liter-Packung Eis.
Nach dem Essen schalte ich den Computer an und spiele ein bisschen »Grand Theft Auto«. Ich bin ziemlich gut, und ich nehme mir vor, heute das letzte Level zu knacken.
Gegen dreiundzwanzig Uhr habe ich es geschafft. Das größte Problem ist, den Fluchtweg zu finden, wenn man nach dem Banküberfall die Scharfschützen vom FBI umgelegt hat. Ich muss ganz schön lange probieren, aber irgendwann habe ich den Trick durchschaut.
Ich bin einfach nur stolz und zufrieden mit mir.
Ich hole den Rest der Eispackung aus dem Gefrierfach und mache es mir vor dem Fernseher gemütlich. Das hab ich mir jetzt echt verdient.
3
MARIE
»Marie!! Aufstehen! Sonst kommst du zu spät!«
Ich drehe mich zur Wand.
»Mach schon, Marie!« Die Ungeduld in der Stimme meiner Mutter nimmt zu, und schließlich schäle ich mich resigniert aus der Decke. Ach ja. Jeden Morgen dasselbe.
Gülcan wartet schon, als ich aus der Haustür komme. »Hallo, Marie!!«, quietscht sie freudig, und wie immer umarmen wir uns fest und lange. Hätte ich in meiner neuen Klasse nicht Gülcan kennengelernt, dann wäre mein Leben komplett unerträglich.
»Alles klar?«, frage ich, denn irgendwie sieht sie bleich aus.
»Wir schreiben heute Mathearbeit«, seufzt Gülcan.
Man könnte meinen, das würde ihren sicheren Tod bedeuten. Mit Grabesstimme fährt sie fort: »Ich und Mathe, das ist wie Tolga und Hochsprung.«
»Ha ha! Oder wie Ibo und Fegen.«
»Wie Herr Zimmermann und cool.«
Wir biegen in den kleinen Weg durch die Grünanlage ein, die sich vor unserem Schulgebäude befindet, und stoßen auf Alex und Julius.
»Na, Streberin?«, sagt Julius beiläufig, als er mich sieht.
Ich versuche, darüber hinwegzuhören. Wie genau habe ich das eigentlich hingekriegt, in meiner neuen Klasse innerhalb kürzester Zeit zur Zielscheibe des Spotts zu werden?
Ibo und Tolga tauchen auf. »Hey, die Streberin!«, sagt Ibo grinsend. »Englisch macht dieser Einschleimerin jetzt bestimmt richtig Spaß, endlich ein Lehrer, der genauso langweilig ist wie sie selbst.«
Gülcan zieht mich ins Schulhaus und zum Klassenzimmer. Die Jungs laufen in einigem Abstand hinter uns her. »Streberin, Streberin«, kommt ein heiserer Singsang aus Ibos Kehle. Mit brennendem Kopf stelle ich meine Tasche ab und setze mich auf meinen Platz. Warum musste ich ausgerechnet auf diesem Planeten geboren werden? Wiegt die sauerstoffangereicherte Atmosphäre Mitschüler wie Julius und Ibo auf?!
Ich komme gerade aus dem Bad, als meine Mutter von der Arbeit kommt, sodass wir uns im Flur begegnen. Seit meine Eltern sich vor einem halben Jahr getrennt haben, ist unser Verhältnis, gelinde gesagt, gespannt.
»Hallo Marie!«, sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Wie ist das eigentlich mit deiner Klassenfahrt?«, flötet sie, während sie sich die Schuhe auszieht.
»Welche Klassenfahrt? Habe ich jemals irgendetwas von irgendeiner Klassenfahrt gesagt?«
Sie richtet sich auf und schaut auf den Infozettel, der an der Pinnwand hängt. »Das ist doch bald so weit – am neunzehnten Mai soll’s losgehen, in drei Wochen schon!«
»Ich fahre da ganz bestimmt nicht mit.«
Meine Mutter schaut mich an, als hätte ich einen geschmacklosen Witz gemacht. »Was ist denn das jetzt schon wieder?«
»Ein deutscher Aussagesatz, und die Aussage ist, dass ich nicht auf irgendeine Klassenfahrt fahre.«
Vielleicht würde eine andere Mutter fragen, warum ich nicht mitfahren werde. Aber meine Mutter ist keine andere Mutter. Meine Mutter sieht mich genervt an. »Immer deine Aktionen!« Sie lässt ihre Tasche fallen und geht in die Küche. Ich höre, wie sie herumhantiert und die Mikrowelle zuklappt.
Und jetzt fragt sie doch: »Gibt es dafür irgendeinen Grund?«, ruft sie mir aus der Küche zu. Der Tonfall impliziert, dass es für die Dinge, die ihre Tochter tut, nie einen Grund gibt. Die Frage ist rein rhetorisch.
Was soll ich sagen – in meiner neuen Klasse bin ich nur als Streberin bekannt? Die Jungs verachten mich, die meisten Mädchen halten Abstand? Und das Schlimmste – ich bin hoffnungslos verliebt in jemanden, der um Welten zu cool für mich ist?
Bin nicht sicher, dass meine Mutter dafür Verständnis hätte.
Ich habe einen Moment zu lange gewartet.
Die Mikrowelle piept, meine Mutter öffnet sie, und das Zeitfenster für »Mit meiner Tochter über ihre Probleme reden« schließt sich.
»Du fährst mit, und Punkt. Thomas und ich wollen schließlich auch mal Zeit für uns haben.«
4
NELSON
»Nelson! Mein lieber Junge«, sagt Mama, als sie aus dem Fahrstuhl tritt und mich in der offenen Wohnungstür stehen sieht.
Ich lege meine Arme um ihren Hals und drücke meine Wange in ihre wunderschönen, hellroten, langen Haare. Das Haar riecht nach Klinik. Bei Gott, wie ich diesen Geruch nicht ausstehen kann. Und Mama ist noch viel blasser als sonst – ich hab keine Ahnung, mit was für Zeugs die sie da vollstopfen.
Hinter ihr kommt unser Nachbar Herr Yilmaz aus dem Fahrstuhl. Er hat sie mit dem Auto abgeholt und stellt jetzt Mamas Tasche in den Flur.
Mama nimmt mit beiden Händen seine Hand. »Vielen, vielen Dank!«
»Keine Ursache«, sagt