Keiner zwischen uns. Carolin Hristev
sowieso. Ibo wird zwar respektiert, aber eher so gezwungenermaßen. Weil er so krass ausrasten kann. Das hat mit echter Ehre nichts zu tun.
Keine Ahnung, was geworden wäre ohne Hamza. Seitdem sind wir Brüder.
Ich würde ihn nie verraten, niemals.
Er war auch mit auf Papas Beerdigung.
Irgendwie mochte er mich von Anfang an. Ich weiß noch, wie wir am ersten oder zweiten Tag an unserer Schule, ganz am Anfang der fünften Klasse, so lange nach dem Unterricht auf dem Schulhof Fußball gespielt haben, bis der Hausmeister uns nach Hause geschickt hat. Nur zu zweit, und es hat derbe Spaß gemacht. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass das echt ’ne coole neue Schule ist.
Da wusste ich ja noch nicht, was Ibo und Oliver sich so für »Spiele« ausdenken würden.
Egal. Ist lange her.
Ich drehe mich auf die andere Seite und denke ein bisschen an Marie. Das ist auf jeden Fall ein viel, viel schöneres Thema als irgendwelche Filme über Sklaverei.
5
MARIE
Es gibt Tage, an denen ich meine neue Klasse sogar ganz gerne habe.
Heute ist so ein Tag.
Wir haben auf dem Sportplatz Zweifelderball gespielt, und – unglaublich, aber wahr – die meisten Spieler der gegnerischen Mannschaft wurden von Marie Stadler, in anderen Worten, meiner Wenigkeit, ins Aus befördert, und das, obwohl Sport normalerweise nicht gerade meine Stärke ist! Ich bin richtig high, als wir verschwitzt und lärmend im Umkleideraum sitzen.
»Mann, Marie, und das mit links!«, quietscht Djamila.
»Und du sagst immer, du bist nicht gut in Sport!«, meint Gülcan mit leisem Vorwurf.
Bescheiden lasse ich mich ein wenig feiern.
Zu Hause werfe ich mich aufs Bett und rufe mir Nelsons anerkennendes Lächeln in Erinnerung, mit dem er mich während des Spiels bedachte.
Ganz ehrlich, so schlecht ist meine Klasse nun auch wieder nicht. Sie ist sogar um einiges besser als meine alte Klasse auf der Privatschule, auf der ich bis vor Kurzem war. Dort ist es normal, vom Chauffeur in der Limousine zur Schule gefahren zu werden, und bei einer Vier kommt Papas Anwalt vorbei. Türkische oder schwarze Mitschüler hatte ich dort nicht. Dementsprechend langweilig sehen die Klassenfotos aus: Lauter Mädchen mit langen blonden Haaren in Designerklamotten, und Jungs mit Haarschnitten für siebzig Euro.
Wäre ich auf dieser Schule geblieben, hätte ich nie meine beste Freundin gefunden.
Und ich hätte nie Nelson kennengelernt.
Ich drehe mich auf den Rücken und starre an die Decke. Und überlege, ob es wirklich gut für mich gewesen ist, Nelson kennengelernt zu haben. Mein Seelenfrieden ist seitdem jedenfalls dahin.
Es gibt Tage, an denen ich meine neue Klasse hasse wie die Pest. Eben war noch alles wie immer. Ich stand bei Herrn Zimmermann am Lehrertisch, weil ich noch eine Frage zur Hausaufgabe hatte, vor mir Barin, die gleichzeitig mit mir in die Klasse gekommen ist. Sie wollte auch etwas mit ihm besprechen, und zufällig hörte ich, was es war. »Ich nicht auf Klassenfahrt kommen kann«, flüsterte sie.
Und Herr Zimmermann, trottelig, wie er ist, wiederholte den Satz erst mal schön langsam und laut. »Du kannst nicht mit auf Klassenfahrt kommen? Aber Barin, weshalb? Habt ihr nicht extra das Reiseziel geändert, damit du mitkannst?«
Bäm. Genauso gut hätte er ein Wespennest in die Klasse werfen können. Alle, die in der Nähe standen, waren bereits hellhörig geworden, und Barin rot. In ihren Augen sammelten sich Tränen. »Mein Vater erlaubt nicht«, stammelte sie.
Und da ging es los.
»Wie bitte?! Wir fahren wegen ihr nicht nach Holland, und jetzt kann sie nicht mitkommen?!!!«
»Und das sagt die jetzt?«
»Wegen der bekloppten Kröte fahren wir an einen See!! Alter, statt Amsterdam! Das kotzt mich so hart an, echt jetzt!«
Während die Aufregung immer größer wird, schleicht Barin an ihren Platz und versteckt das Gesicht in den Armen.
»Wusste ich gleich, dass das ’ne Scheißidee war!«
»Du hast doch auch dafür gestimmt!«
»Lüg nicht, hab ich nicht!«
Herr Zimmermann hat nicht die leiseste Ahnung, was er machen soll, und das Geschrei und Geschimpfe wird immer schriller. Nur Karim kreischt vor Lachen. »Immer Frau Häuser mit ihren tollen Ideen!«, schreit er und schnappt nach Luft. »Und ihr fallt noch drauf rein! Ihr habt so kein Rückgrat, Leute! Ha ha, geschieht euch ganz recht!«
Und in all dem sitzt Barin und weint.
Ich muss den ganzen Tag noch daran denken.
»Voll doof für Barin«, sagt Gülcan. »Jetzt wird sie von der ganzen Klasse gehasst, und auf die Reise darf sie auch nicht. Sie tut mir richtig leid.«
In den nächsten Tagen ist Barin ziemlich allein. Gülcan und ich versuchen zweimal, sie ins Gespräch zu ziehen, aber sie sagt nicht viel und schaut hauptsächlich auf den Boden. Immerhin beruhigen sich die anderen irgendwann und hören auf, pausenlos über sie und Frau Häuser und Mecklenburg-Vorpommern zu meckern. Hauptsache, für eine Woche keine Schule, das ist nach einer Weile die allgemein vorherrschende Meinung.
6
NELSON
Freitagabend, endlich, Digga. Ich werde nie verstehen, warum eine Schulwoche länger ist als ein Monat Sommerferien.
Hamza lehnt im Türrahmen, cool gestylt, und guckt zu, wie ich auf der Suche nach meinem neuen T-Shirt im Schrank wühle. Hamza sieht einfach zu gut aus – schwarze Haare, extrem weiße und gerade Zähne, und dunkle Augen, die so glühen. Also, nicht meine persönliche Meinung, bin ja nicht schwul oder so. Aber man kriegt ja schon mit, wie einer so bei Frauen ankommt.
»Wie viel Jahre dauert’s noch, Digga?«, fragt er, dabei hab ich das T-Shirt schon gefunden und angezogen und schnappe meine Jacke, jetzt müssen wir nur noch Mamas Ermahnungen hinter uns bringen. Schon nach dem ersten halben Satz ihrer kleinen Rede zum Thema Alkohol falle ich ihr ins Wort. »Mama! Hamza trinkt überhaupt nicht! Ich trinke ja auch nicht, aber Hamza probiert nicht mal! Meinst du, da werde ich mich mit Alkohol zudröhnen, wenn wir zusammen unterwegs sind?!«
Dass Hamza, weil er Moslem ist, noch nie auch nur einen Schluck Bier getrunken hat, das habe ich ihr schon hundertmal gesagt.
»Du hältst mich echt für einen schlechten Freund, Mama!« Ich bin sogar ein bisschen sauer.
Hamza grinst. Er weiß genauso gut wie ich, wie sich die Fortsetzung anhört.
»Nelson.« Mama legt eine Hand auf meine Schulter und sieht mir fest in die Augen. »Nelson. Und keine Drogen. Keine. Versprochen??«
»Klar, Mama. Versprochen.«
Endlich wünscht sie uns viel Spaß und lässt uns gehen.
In dem schmierigen Fahrstuhlspiegel gucke ich, wie ich von der Seite aussehe.
Hamza boxt mich in den Rücken. »Schwul, oder was?!?«
Normalerweise hau ich Leuten erst mal eine rein bei solchen Sprüchen.
Aber Hamza darf, was andere nicht dürfen. Zwischen Brüdern ist auch so ein Spruch mal erlaubt.
Wir gehen ins CRUSH, unseren Lieblingsclub auf Sankt Pauli. Im Gegensatz zu mir ist Hamza schon sechzehn, und vom Aussehen her würde man ihn eher auf siebzehn schätzen. Deswegen machen die beiden Typen am Eingang eigentlich nie Stress. Sie kennen uns schon. Der eine begrüßt uns mit Handschlag. »Was geht?«
»Läuft. Alter, geht ja ganz schön