Unter der Marmorkuppel. Mette Winge
niedergedrückt. Besonders die Damen. Sie betupften ihre Augen mit Spitzentaschentüchern, während der Wind an ihren langen schwarzen Schleiern zerrte.
Die Familie kam zum Schluß. T. S. Bramsnæs’ Gesicht glich einer Maske. Krogh bemerkte, daß er etwas sagte, aber kaum die Lippen bewegte. Wenn einer der Trauergäste kondolierte, beugte der Fabrikant ein wenig den Kopf. Sonst hielt er sich aufrecht. Seine Frau versuchte dasselbe, aber ihre Selbstbeherrschung war nicht so groß. Sie hatte den Schleier aus dem Gesicht geschlagen, und Krogh sah, daß sich tiefe Furchen unter ihren Augen eingegraben hatten. Sie sah aus, als hätte sie seit dem schrecklichen Ereignis nicht mehr geschlafen. Er verstand zwar ihren Schmerz, aber nicht, warum sie nicht kooperieren wollte. Sie hatte ihm nichts verraten.
Krogh wurde müde. Ihm drehte sich der Kopf, obwohl er geglaubt hatte, er wäre wieder gesund. Aber nachdem er fast den ganzen Tag gearbeitet hatte, fühlte er jetzt seine Kräfte schwinden.
Der Fabrikant war ihm ein Rätsel. Was wußte er in Wirklichkeit über seinen Sohn und dessen Leben? Etwas mußte es geben, dessen war Krogh sich sicher, auch wenn er geschwiegen hatte. Jedenfalls über das Wesentliche. Krogh war überzeugt, daß die Geschichte des Stubenmädchens stimmte, aber es fehlte der Beweis. Alle Kellner des Figaro hatten plötzlich an akutem Gedächtnisverlust gelitten. Auch Petersens dezenter Hinweis, es gehe um einen Mord, hatte ihnen nicht die Erinnerung zurückgeschenkt.
Die Dienstboten hatten an dem Begräbnis teilnehmen dürfen. Sie blieben für sich. Ludwigsen sah von seiner Kleidung und Haltung wie ein Herr aus, während die beiden Dienstmädchen aussahen wie das, was sie waren. Stach Ludwigsen so von seiner Klasse und seinem Beruf ab, weil er die abgelegten Kleider seines Herrn trug?
Die beiden Dienstmädchen wirkten bedrückt. Das Stubenmädchen schluchzte laut, während die Köchin noch magerer und vergrämter aussah als an dem Tag, an dem er mit ihr gesprochen hatte. Die Köchin blickte besorgt auf das Stubenmädchen, machte aber keine Anstalten, es zu trösten. Ludwigsens Miene verriet, daß er, Ludwigsen, das Weinen des Mädchens für unpassend hielt.
Die Trauerfeier hatte in der Garnisonskirche stattgefunden, und der Zug von Kutschen, der dem stattlichen schwarzdrapierten Leichenwagen – dem teuersten, der in Kopenhagen zu haben war, schätzte Krogh –, folgte, hatte die halbe Bredgade gefüllt. Auf dem Bürgersteig waren die Leute stehengeblieben, und einige Männer hatten den Hut abgenommen. Die Frauen gafften neugierig, während sie gleichzeitig von einem Fuß auf den anderen traten.
Das Gefolge zerstreute sich. Krogh wußte, daß kein Leichenschmaus stattfand. Er ging zu Petersen, der die Teilnehmer betrachtete. Jetzt kamen der Fabrikant und seine Frau an ihm vorbei. Er stützte sie, aber es kam Krogh so vor, als bedeutete sie ihm ungefähr genau so viel wie ein älteres Fräulein, das er aus Wohlerzogenheit über die Straße geleitete.
Bramsnæs grüßte Krogh äußerst knapp, während die gnädige Frau so tat, als sähe sie ihn nicht.
»Kommen Sie, wir gehen«, sagte Krogh zu Petersen. »Hier passiert nichts mehr.« Dann blieb er stehen. Er hatte einen weiteren Teilnehmer entdeckt, der durch das Tor kam. Er war überrascht, denn er hätte schwören können, sie wäre über alle Berge. Sie bewegte sich im Gegensatz zu dem übrigen Gefolge in einem fast anstößig schnellen Tempo. Sie kam wenige Schritte vor ihm vorbei und nickte ihm zu, weder herzlich noch verlegen, sondern mit der Selbstverständlichkeit, mit der man jemanden grüßt, dem man auf einem Diner vorgestellt wurde.
»Sehen Sie dieselbe Person wie ich, Herr Inspektor?«
»Ja, zum Teufel, Petersen. Unglaublich. Was sagen Sie dazu?«
»Verflixtes Weibsbild. Verhaften?«
»Nein, nur ja keinen Skandal. Folgen Sie ihr und sehen Sie, wohin sie geht. Dann schlagen wir morgen zu.«
Petersen verschwand. Krogh blickte ihm nach und fand, daß auch sein Gang etwas weniger Zögerndes bekam. Es sah geradezu aus, als fände der Polizeibeamte Petersen die Aufgabe attraktiv.
Krogh machte sich auf den Weg zur Kammer. Er wollte sehen, ob Danielsen Zeit hatte. Er hatte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, der seine Denkweise verstand. Danielsen war Untergerichtsassessor in einer anderen Kammer. Kroghs eigener Assessor war ein älterer, träger Herr, der möglichst viel Arbeit seinen Untergebenen überließ. Sein großer Mangel war, daß er einfach alles tat, um es den beiden Polizeipräsidenten recht zu machen. Außerdem sah er seinem bevorstehenden Ruhestand entgegen. Der Vizepolizeipräsident nahm ihn nicht ernst, meinte Krogh an dessen überlegener Haltung ablesen zu können. Er hatte nur Respekt vor Leuten seiner eigenen Rangstufe. Außerdem wollte er Resultate sehen. Schnelle Resultate. Das beförderte die Karriere und machte einen beliebt bei den ewig hungrigen Polizeireportern.
Ein schnelles Resultat war eine Verhaftung, fast gleichgültig von wem. War aus dem Betreffenden nicht genug herauszuholen, wurde er wieder freigelassen – immer in aller Stille. Über die Verhaftung hingegen ließ sich immer eine Menge schreiben, und manch armer Schlucker wurde ausschließlich wegen eines höchstpersönlichen Verdachts des Vizepolizeipräsidenten in den Zeitungen verurteilt. Er hatte eine große Begabung für Maßnahmen, mit denen die Vernehmungsrichter die Leute geständig machen sollten. Krogh riskierte, diesem Vizepolizeipräsidenten in die Arme zu laufen. Naja, das Risiko mußte er eben eingehen. Und wenn er erst einmal in der Kammer war, mußte er auch diesen Bericht fertig machen. Trotz seiner Kopfschmerzen.
9
Ludwigsen war ihnen beim Ablegen behilflich, als sie vom Friedhof zurückkehrten. Er mußte sich beeilt haben, denn er hatte sogar schon seine Livree angezogen. Schweigend gingen sie in den Salon. Keiner betrat das Herrenzimmer.
»Wir möchten gern einen Tee«, sagte ihre Mutter. Ludwigsen nickte und verließ den Raum. Sie fühlte sich innerlich völlig leer. Ihr sehnlichster Wunsch war, weinen zu können. Weinen, weinen, weinen, die Arme um den Hals der Mutter gelegt. Aber etwas hielt sie davon ab, die Mutter zu berühren. Als sie drei Tage nach dem schrecklichen Ereignis nach Hause gekommen war, hatte die Mutter sie einen Augenblick an sich gedrückt, aber dann weggeschoben und den Kopf abgewandt. Ihre Bewegung schien anzudeuten, daß sie, Simons Schwester, mitschuldig sei an seinem Tod. Noli me tangere drückte das Gesicht ihrer Mutter aus. Sie wünschte keine Hilfe, nicht von ihr.
Sie sahen sich an, dann verbeugte sich Ernst vor ihrem Vater:
»Schwiegervater, Sie erlauben, daß ich mich zurückziehe? Und Sie, belle-mère?«
Ihre Eltern nickten beide schweigend. Ernst sagte nichts zu ihr, sondern drehte sich auf Offiziersschulenmanier auf dem Absatz um und verließ den Salon. Ihr stockte der Atem. Das konnte er ihr doch nicht bieten. Einfach so zu gehen. Sie hörte, wie die Tür geschlossen wurde, dann drehte sie sich um und lief hinter ihm her. Er hatte schon seinen Mantel vom Bügel genommen und zog ihn gerade an.
»Wo willst du hin? Du kannst doch nicht einfach gehen. Nicht heute.«
»Ich habe hier nichts verloren. Deine Eltern sind viel zu sehr mit ihrem eigenen Kummer beschäftigt, um zu bemerken, ob ich hier bin. Und du willst nicht mit mir zusammen sein. Ich gehe in den Klub.«
Er hatte den Mantel angezogen und die Wohnungstür geöffnet.
»Ernst, du kannst nicht gehen. Nicht heute«, wiederholte sie. »Du...« Sie hob die Stimme.
»Ich wünsche nicht, das ganze Haus über unsere ehelichen Verhältnisse orientiert zu halten. Sei so freundlich und halte inne, wenn die Tür schon aufsteht.«
»Du hast dir doch nicht gedacht, zu spielen? Wenn du...«
»Ich spiele nicht.«
»Das hast du früher auch schon gesagt.«
»Ich spiele nicht. Gehe bitte hinein, es kommt jemand.«
Er ging mit elastischen Schritten die breite Treppe hinunter. Ein Diener kam herauf. Er sollte sich sicher erkundigen, ob eine Herrschaft auf einer der oberen Etagen zu Hause war.
Sie ging hinein, schloß die Tür und stand einen Augenblick still, die Hand am Türgriff.