Unter der Marmorkuppel. Mette Winge

Unter der Marmorkuppel - Mette Winge


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      Zu Beginn hatte es nicht viel ausgemacht. Das Gut warf genug ab, der Verwalter war tüchtig, und sie hatten gelebt, wie sie – und er – es gewohnt waren, mit Gästen und Bediensteten und häufigen Fahrten in die Hauptstadt. Ihre Mitgift versetzte sie in den Stand, zu tun, was ihnen beliebte.

      Der ganze Kummer fing erst an, als sie das zweite Kind erwartete. Das älteste, Henriette, war krank gewesen, hatte eine Bronchitis gehabt, und beides zusammen hatte an ihren Kräften gezehrt. Es war, als würde das kommende Kind sie mit Haut und Haar fressen. Sie fühlte sich krank und beschwert und nahm kaum wahr, was um sie herum vorging. Deshalb entdeckte sie nicht, daß etwas nicht stimmte. Ernst hatte angefangen, immer später nach Hause zu kommen, wenn er ausgegangen war, um L’hombre zu spielen. Manchmal kam er nicht aus den Kleidern, sondern schlief angezogen auf dem Diwan im Büro ein. Sie konnte tags darauf noch riechen, daß er getrunken hatte.

      Eines Nachmittags im Spätsommer hatte sie mit dem Kind und dem Kindermädchen auf der Gartentreppe gesessen, sich aber unwohl gefühlt und war ins Haus gegangen. Sie wollte sich etwas ausruhen, dann würden die Vorwehen sicher vorübergehen.

      Als sie in das dunkle Vestibül kam – sie war von der Sonne geblendet und konnte nicht richtig sehen –, begriff sie mit einem Mal, daß etwas nicht stimmte. Daß etwas Schreckliches passiert war. Die Tür zum Büro stand offen, und sie hörte Stimmen. Laute Stimmen. Es waren Ernst und der Verwalter und eine dritte Stimme, die sie nicht kannte. Sie horchte, und langsam begriff sie, daß Ernst im Laufe der Nacht die Hälfte des Viehbestandes verspielt hatte. Der Verwalter hatte protestiert, als ein Fremder und sein Helfer angefangen hatten, das Vieh von der Weide zu holen. Sogar die Reitpferde hatte er verspielt. Die hatte der Fremde zuerst genommen und zusammengebunden. Auch ihr Pferd, die hellbraune Stute. Der Verwalter hatte den Fremden ins Büro geholt, um ihn vor den Gutsbesitzer zu bringen. Denn das könne doch nicht stimmen.

      Aber es war so, und überdies hatte er auch noch ihre Mitgift und einen Teil des Grundbesitzes verspielt. Sie dachte mit schmerzhafter Klarheit an die Situation zurück. Allmählich tauchte wieder das dunkle Vestibül mit seinen Aufsätzen und der Ledertapete, dem Stock- und Schirmständer, dem Tisch in der Mitte mit dem Aufsatz für Visitenkarten und einer Vase mit dunkelroten Dahlien vor ihrem geistigen Auge auf. Das leicht dunstige Augustlicht war durch die schmalen Fenster, die nach Westen lagen, gefallen. Ihr war es so vorgekommen, als habe sie dort eine Ewigkeit gestanden, aber es hatte sich nur um ein paar Minuten handeln können.

      Sie war überzeugt gewesen, sie würde eine Frühgeburt erleiden, denn sie war krank geworden. Der Arzt hatte sie mit sanfter Besorgnis angesehen und gefragt, ob sie etwas Unangenehmes erlebt habe. Sie hatte den Kopf geschüttelt.

      »Aber nein, Herr Doktor. Henriette ist hingefallen und hat sich das Knie aufgeschlagen, das ist alles. Mehr kann es nicht sein, und bitte, belasten Sie nicht meinen Mann damit. Es geht bald vorüber.«

      Sie hatte es geschafft. Als sie ein paar Wochen später niederkam, wickelten sie das Kleine in Watte, damit es nicht auskühlte. Sie hatte ihm nicht so viel Zärtlichkeit gegeben, wie es gebraucht hätte, denn ihre Gedanken hatten immerzu um die Tatsache gekreist, daß Ernst ihr Vertrauen mißbraucht, sie doppelt betrogen hatte. Erst hatte er gespielt – und verloren, und dann hatte er ihr nichts davon erzählt. Sie konnte ihm nicht verzeihen.

      Der Junge war, vielleicht aus diesem Grund, ein weinerliches Kind geworden, das sie heftig irritierte. Während Henriette schnell wieder vor Lebenslust und Humor sprudelte, war er immer bedrückt und schlecht gelaunt. Sie hätte ihn rütteln können, so widerwillig und lustlos war er. Aber meistens nahm sie sich zusammen, denn sie fühlte, daß es ihre eigene Schuld war. Sie hatte sich nämlich lange Zeit, nachdem sie den Betrug ihres Mannes entdeckt hatte, gewünscht, sie würde nicht mehr leben.

      Dann hatte ihr Vater ihnen unter die Arme gegriffen. Er war Ernst gegenüber mit großer Strenge aufgetreten, und Ernst hatte geschworen, er werde selbstverständlich nie mehr spielen. Selbstverständlich! Dabei konnte er es nicht lassen. Es ging ihm genau wie einem Branntweintrinker, der Branntwein riecht. Waren Karten auf den Tisch, dann spielte er, und zwar mit hohem Einsatz. Manchmal kam er erst nach Hause, wenn die Leute schon bei der Arbeit waren. Dann ging er, graugelb im Gesicht und mit glasigen Augen, in das Büro und warf sich auf den Diwan. Er antwortete nicht, wenn sie ihn ansprach, er ging einfach an ihr vorbei. Er glich einem Gespenst.

      Es war wie eine chronische Krankheit, und sie hatte mit der Zeit gelernt, damit zu leben. Und vielleicht war es nicht so schlimm, wenn er bloß nicht verlor.

      Im letzten Jahr hatte er nicht verloren. Seine Augen waren nicht mehr matt, der Dämon hatte ihn weniger geplagt. Sie hatte auch nicht mehr so viel Angst, und es kamen weniger Gläubigerbriefe. Nicht, daß er sie ihr gezeigt hätte, aber sie konnte es auf mehrere Ellen Abstand riechen, wenn so ein Brief in der Post lag.

      Sie atmete freier und hatte auch erlaubt, daß er sie des Nachts besuchte, obwohl sie dadurch wieder in andere Umstände kommen konnte.

      Eines Tages – es war wieder ein Sommertag – hatte sie mit den Kindern in der Laube gesessen. Die Kinder hatten gespielt, Henriette mit ihren Puppen und Harald, der Junge, im Sand, den er in großen Mengen in den Mund stopfte. Plötzlich hatte Simon dagestanden. Sommerlich gekleidet, elegant sah er in seinem modernen gestreiften Sommeranzug aus. Sie war aufgesprungen, angenehm überrascht. Er war noch nie unangemeldet gekommen. Doch ihre Freude erlosch in dem Augenblick, als sie sein Gesicht sah.

      »Was ist passiert? Ist was mit Mama? Papa?«

      »Nein, ihnen fehlt nichts. Wo ist dein Mann?«

      »Ernst? Er ist ausgefahren. Im Jagdwagen, glaube ich. Er hat nicht gesagt, wohin. Was möchtest du von ihm?«

      »Was ich möchte? Ihn schütteln, zerreißen, seinen Kopf an die Mauer schlagen. Ich will...«

      »Bist du noch ganz gescheit? Was hat er getan?«

      »Er hat Schande über die Familie gebracht. Über dich, deine Kinder, über uns alle.«

      Simon hatte laut gerufen, ohne Rücksicht auf die Kinder. Henriette klammerte sich schweigend an ihr Kleid, Harald heulte. Sie hatte das Kindermädchen gerufen, das Simon neugierig mit großen Augen verschlang und nur widerwillig mit den beiden Kindern abzog. Als sie um die Ecke des Hauses verschwunden waren, hatte sie ihn dazu gebracht, sich hinzusetzen und ruhig zu erzählen, was geschehen war.

      Ernst war beim Falschspiel erwischt worden. Er hatte nicht nur mit gezinkten Karten gespielt, sondern auch falsche Wechsel ausgestellt und sie mit dem Namen ihres Vaters unterschrieben. Das mit den gezinkten Karten wußte allerdings nur er, Simon, aber die falschen Wechsel hatten ihren Vater sehr erzürnt. Er war verbittert und würde kaum zu besänftigen sein. Darum hielt Simon sein Wissen über die Falschspielerei zurück. Aber sollte sich der Fall wiederholen, dann gebe es keine Gnade, das versprach er ihr. Er würde dafür sorgen, daß Ernst ins Zuchthaus käme. Und das bedeute Schande und Skandal. Ob sie wisse, daß sie mit einer tickenden Bombe im Schoß dasaß? Die ihre Existenz und die ihrer Kinder zerstören konnte?

      Während Simon seiner Wut Luft machte, spürte sie, wie das letzte bißchen Freude und Geborgenheit, das sie hatte, wie schmutziges Wasser am Ende eines Waschtages versikkerte.

      Ihre Welt war zusammengebrochen, und wäre sie guter Hoffnung gewesen, hätte das Kind sicher eine Mißbildung davongetragen.

      Das Rote war viele Tage über der Zeit gewesen, aber in jener Nacht war es schließlich in einem Strom von Blut gekommen. Alles war durchnäßt gewesen – sogar die Matratze.

      Simons Schlußwort hing ihr noch in den Ohren: »Das beste wäre, er schösse sich eine Kugel vor den Kopf.«

      Sie hatte ihn verteidigt, so gut sie konnte. Hatte gerufen: »Du verdammst ihn einfach, ohne daß wir wissen – daß ich weiß –, ob es wahr ist.«

      »Es ist wahr! Glaubst du wirklich, ich wäre den ganzen Weg herausgekommen, wenn es nicht stimmte? Du mußt dafür sorgen, daß er nie mehr spielt. Nie mehr, sage ich. Dann kann ich es vielleicht vertuschen. Obwohl die Gerüchte schon in der Luft schwirren. Ich habe die Beweise, und die werde ich behalten. Aber wenn er...«

      Seitdem


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