Unter der Marmorkuppel. Mette Winge
Krogh saß an dem Schreibtisch des pompös ausgestatteten Herrenzimmers. Hier hatte der junge Bramsnæs gesessen. Das Grogglas hatte einen Rand auf der polierten Fläche hinterlassen. Auf dem Tisch vor ihm lagen einige Papiere und Jetons. Die Spielmarken waren säuberlich sortiert gewesen, aber die Stapel waren eingestürzt. Die Papiere waren voller Berechnungen. Die Zahlen waren addiert und subtrahiert, ausgestrichen und neu geschrieben worden. Krogh sah sie sich sorgfältig an. War es eine Aufstellung von Spielschulden, oder waren es Spekulationsberechnungen? Es lag auch ein Brief dabei. Nach der Handschrift zu urteilen, mußte er von einer Dame geschrieben worden sein. Er war ganz kurz. Die Dame bat den jungen Bramsnæs, ihn am Freitag um acht im Restaurant Royal zu treffen. »Es ist nicht unwichtig, daß Sie kommen.« Die Unterschrift war ein großes, energisches E. Heute war Freitag.
Er sah sich im Herrenzimmer um. Es war modern und teuer eingerichtet. Der mächtige Schreibtisch hatte einen Aufsatz, auf dem zwei Büsten standen. Es waren auch einige Photographien aufgestellt. Eine zeigte eine hochgewachsene, schlanke Dame mit aufgestecktem Haar. Diese Frisur ließ sie noch größer erscheinen. Sie blickte direkt auf den Betrachter, und um ihren Mund lag ein fester Zug. Krogh schaute sich das Bild genau an. Dann stellte er es wieder hin. Eine andere Photographie zeigte den jungen Bramsnæs. Er hatte die gleichen Augen wie seine Mutter. Er posierte als moderner Flaneur, in allen Details à la mode und nicht von hundert anderen in Kopenhagen zu unterscheiden.
Auf einem dritten Photo war die ganze Familie zu sehen. Es mußte einige Jahre alt sein. Es zeigte dieselbe Dame, einen kleinen Jungen und ein etwas größeres, mürrisch blickendes Mädchen. Hinter ihnen stand ein Herr mit einem Allerweltsgesicht. Das mußte der Fabrikant T. S. Bramsnæs sein. Die Frau wirkte auf diesem Bild weicher und fröhlicher.
Der Stuhl, auf dem Krogh saß, war ebenso wie der große Schreibtisch aus Eiche, und der Bezug des Sitzpolsters hatte eine kräftige Farbe. Krogh strich mit der Hand darüber. Es war wohl das, was seine Mutter geschnittenen – oder war es ungeschnittener? – Mokett nannte. Links vom Schreibtisch war das Fenster. Die nach allen Regeln der Kunst drapierten Vorhänge, das Meisterwerk eines Tapezierers, waren reich mit Posamenten und Quasten verziert. Sie ließen nur wenig Licht herein. An der Wand zum Korridor stand ein Sofa, das vom Stil zu den Stühlen paßte. Es waren echte Möbel, sicher aus einer der feinen Tischlereien. Der Teppich war bunt und paßte für Kroghs Geschmack nicht zu den Stuhlbezügen. Aber davon verstand er sicher nichts. An den Wänden hingen zahlreiche Gemälde in den verschiedensten Rahmen. Die meisten waren aus Gold, andere schwarz mit Gold und wieder andere aus schwarzem Samt. Die Decke war in dunklen, goldenen Farben dekoriert. Den Stuhl, auf dem der junge Bramsnæs tot aufgefunden worden war, hatten sie weggeräumt. Die Flecken auf dem Teppich waren immer noch da, aber sie fielen wegen des Blumenmusters nicht auf.
Das spärliche Morgenlicht, das seinen Weg durch die Vorhänge fand, erhellte ein kostspielig und bequem eingerichtetes Herrenzimmer, in dem sich friedlicher Zigarrenrauch zur Decke zu schlängeln pflegte, während selbstzufriedene Herren nach dem Essen über ihre Börsensiege und Schäferstündchen mit kleinen Näherinnen plauderten. Es sah nicht aus wie ein Ort des Todes und der Tragödie.
Krogh lehnte sich zurück, und während er den Blick über die Gemälde, die schwarzgrauen Radierungen und die buntbemalte Decke entlangwandern ließ, dachte er über den Verlauf des gestrigen Tages nach.
Zusammen mit Petersen hatte er sich die große Wohnung vorgenommen. Erst das Herrenzimmer und dann die anderen Räumlichkeiten. Der Arzt hatte den Toten untersucht und wollte ihn sich im Krankenhaus genauer ansehen.
Sie hatten nichts Bemerkenswertes im Haus entdeckt. Alles war gut gepflegt und sauber. Den großen Wohnräumen war anzusehen, daß sie nicht oft benutzt wurden. Außer in den Schlafzimmern hielt man sich nur im Eßzimmer und im Herrenzimmer auf.
Es war schon spät, als Petersen und er im strömenden Regen nach Hause gingen. Zum Østerbro-Viertel war es nicht weit, aber er war trotzdem völlig durchnäßt angekommen.
Zu Hause hatte seine Mutter mit ihrem Nähzeug gesessen. Sie arbeitete an einer riesigen Stickerei, einer Tischdecke für 24 Personen. Er wußte, daß die Decke für ihn war. Er hatte ihr liebevoll bedeutet, daß er als Angestellter der Polizei weder Geld noch Platz haben würde, Gesellschaften für 24 Personen zu geben, doch sie hatte bloß sanft lächelnd den Kopf geschüttelt.
»Ich weiß mehr als du, mein Sohn. Ich habe das Gefühl, du wirst eines Tages sowohl eine Frau als auch Haus und Platz für Gesellschaften haben. Und Assessor wirst du auch noch.«
Die Mutter war sofort in die Küche gehuscht, um sein Essen aufzuwärmen. Das Mädchen ging um sechs nach Hause. Er hatte protestiert, aber erfolglos.
»Unsinn. Du brauchst dein warmes Essen, Johannes. Das fehlte noch, daß du nichts Ordentliches zu essen bekämest.« Er protestierte noch einmal, aber nur schwach, denn er wußte, sie würde nicht auf ihn hören. So war es seit seinem dreizehnten Lebensjahr gewesen, als sein Vater gestorben war. Von diesem Tag an hatte sich seine Mutter an ihn geklammert. Deshalb hatte sie Erleichterung gezeigt, als er von einem halbjährigen Parisaufenthalt zurückkehrte und seine Verlobung auflöste. Dabei gefiel ihr Therese, und zwar nicht nur, weil das Mädchen aus gutem Hause stammte. Aber er wußte, daß sie ihn in ihrem Innersten für sich allein haben wollte. Sie hatte mit ihrem Verstand akzeptiert, daß er eines Tages eine Familie gründen und sie allein bleiben würde, denn sie wollte ihm und seiner jungen Frau nicht zur Last fallen. Das hatte sie immer gesagt, und er wußte, daß sie es auch so meinte. Aber sie dachte nicht gern daran. Je mehr sich also seine Heiratspläne in die Länge zogen, desto glücklicher war sie.
Manchmal war ihre Fürsorglichkeit anstrengend. Unablässig ermahnte sie ihn, einen Wollschal umzulegen, wenn der Herbstregen einsetzte, und zu Hause die nassen Strümpfe auszuziehen, wenn er einen Verbrecher beschattet hatte. Sie nannte Verdächtige immer Verbrecher, obwohl er seine Mutter eigentlich für vorurteilsfrei hielt. Jedenfalls in Anbetracht ihres Alters. Sie war 57 Jahre alt.
Sie hatte weitergestickt, während er die aufgewärmte Kohlsuppe gegessen hatte – nicht gerade sein Leibgericht, und das gepökelte Schweinefleisch war reichlich fett gewesen. Aber er hatte einen solchen Hunger gehabt, daß alles heruntergerutscht war. Anschließend hatte sie die Ecke, an der sie gerade arbeitete, über dem Knie glattgestrichen, einen bewundernden Blick darauf geworfen und gefragt:
»Was ist es diesmal? Etwas Unheimliches?«
»Kann man schon sagen. Totschlag, wahrscheinlich sogar Mord.«
»Ein richtiger Mord?«›
»Ja, sieht so aus. Bestialisch.«
»Willst du erzählen, oder...«
»Aber ja.« Er berichtete ihr gerne von seinen Fällen. Nicht weil sie ihm helfen konnte, sondern weil ihm beim Erzählen Dinge einfielen, die er sonst vielleicht vergessen hatte.
»Wie ist der junge Mann ums Leben gekommen?«
»Mit einem Revolver erschossen – Kopfschuß.«
Er war sich nicht sicher, ob sie wußte, was das bedeutete. Er spürte die aufsteigende Übelkeit im Zwerchfell.
»Wie grausam. Wer war der Tote?«
»Nun, ein junger Mann, 24 Jahre alt, Student. Wohlhabende Familie. Der Vater ist der Fabrikant T. S. Bramsnæs. Du wirst die Metallwaren aus seiner Fabrik kennen, Mama. Sie haben einen Flügel als Warenzeichen. Er ist wohlhabend, soweit wir wissen. Die Mutter ist eine geborene Baronesse von einem seeländischen Gut. Reiches Haus, aber ich weiß noch nicht so viel.«
»Wie ist der Mörder hereingekommen?«
»Er oder sie – in diesen Zeiten kann es ja genauso gut eine Frau sein – ist hereingelassen worden oder hat einen Schlüssel gehabt. Und ist wieder hinausgegangen. Keine Zeichen von Einbruch.«
»Wann wurde er ermordet, der arme Kerl?«
»Tja. Der Arzt sagt, der Tod sei ungefähr zwischen elf Uhr gestern nacht und zwei Uhr heute morgen eingetreten. Aber er wird es näher untersuchen. Ich werde morgen mit dem Vater des jungen Mannes sprechen. Und mit