Unter der Marmorkuppel. Mette Winge

Unter der Marmorkuppel - Mette Winge


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Lieber. Aber weil er Diener ist, muß er ja nicht unbedeutend oder falsch sein.«

      »Mama, du hast nicht unser Exemplar gesehen. Er wirkt nicht besonders reinherzig. Er sieht so aus, als würde er beim Servieren die Flasche nicht ganz leeren, um einen guten Schluck für sich selbst zu behalten.«

      »Ja, ja. Da magst du recht haben. Aber genieß du nur in Frieden deine Zigarre. Du hast einen langen Tag hinter dir.«

      Und dann hatte sie sich wieder auf ihre Stickerei konzentriert und er sich auf seine Zigarre. Er dachte daran, wie seine Gedanken um diese Wohnung und ihre Bewohner gekreist waren, während der Zigarrenrauch zur Decke aufgestiegen war. Mit welchen Geheimnissen lebten die reichen Menschen in den großen Wohnungen? Sie mußten ja welche haben – wie alle Menschen.

      Ludwigsen, der Diener, hatte aufgemacht, nachdem er an der quastenverzierten Klingelschnur gezogen hatte. Seine Maske war wieder unversehrt, steif und korrekt.

      »Haben Sie Nachricht von dem Fabrikanten?«

      »Ich gehe davon aus, daß der gnädige Herr in wenigen Minuten hier sein wird. Wünschen Sie zu warten?«

      »Ich möchte mir das Herrenzimmer – und den Rest des Hauses – genauer ansehen. Mein Assistent kommt in ein paar Minuten. Und dann erbitte ich mir ein Gespräch mit Herrn Bramsnæs, und – wenn möglich – auch mit der Dame des Hauses.«

      »Die gnädige Frau kommt erst später. Die gnädige Frau wird sicher äußerst erregt sein. Ich glaube nicht, daß die gnädige Frau...«

      »Ich werde Frau Bramsnæs heute nicht behelligen. Aber mit Herrn Bramsnæs muß ich leider trotz des Trauerfalls dringend sprechen, wegen der Aufklärungsarbeit. Es muß nicht in der Sekunde sein, in der er das Haus betritt. Ich warte, bis es ihm recht ist – aber das Gespräch muß heute noch stattfinden. Ich bleibe vorläufig im Herrenzimmer. Würden Sie meinen Assistenten zu mir schicken, wenn er auftaucht?«

      Und jetzt saß er hier und sah sich um. Wieder. Sah auf das geschnitzte Eichenholz, den Rand, den das Grogglas hinterlassen hatte, auf die blauen, weißen und grünen Jetons, auf die Zahlenkolonnen, auf den Brief mit der Verabredung, auf einen Bücherschrank mit schön eingebundenen und wenig benutzten Büchern, und auf einige ausgeklügelt drapierte Vorhänge, die das Morgenlicht fernhielten.

      Die Zahlen störten ihn. Sie mußten etwas bedeuten. Er schrieb sie ab, addierte sie nach der Methode des jungen Bramsnæs, strich sie aus wie er und addierte sie wieder wie er. Es war kein Fehler in der Rechnung, aber er begriff nichts. Es waren anscheinend bloß Zahlen.

      Es klopfte. Petersen stellte sich mit einer linkischen Habachtstellung in die Tür und meldete sich zum Dienst. Er war ein großer, stattlicher Mann mit einem üppigen Schnauzbart, den er nicht immer genügend stutzte. Manchmal war er so lang, daß er ihm beim Sprechen in den Mund geriet. Petersen war Witwer und wohnte mit seiner Schwester im Nørrebroviertel. Krogh mochte ihn ganz gern, allerdings mißfiel ihm sein militärisches Gehabe, aber er sagte nichts dazu. Er hatte versucht, seinen Leuten – es waren drei – die Feldwebelmanieren abzugewöhnen, aber das hatte sich herumgesprochen, und sein Vorgesetzter hatte ihn deswegen gerügt. Es ließe sich keine Disziplin aufrechterhalten, wenn man bei dergleichen durch die Finger sehe.

      »Etwas Neues, Petersen?«

      »Nein, Herr Inspektor. Man erwartet möglichst bald Ihren Bericht.«

      »Ja, ja. Ich schreibe ihn, sobald wir mit den Hausbewohnern gesprochen haben, vor allem mit dem Vater des Ermordeten. Er soll bald hier sein, sagt der Diener.«

      »Ich glaube, er ist gerade gekommen. Ich sah eine Droschke ins Tor fahren.«

      Krogh horchte. Es drang ein Murmeln aus dem Korridor herein.

      »Was meinen Sie eigentlich, Petersen?«

      »Wie bitte?«

      »Ja, was ist Ihre Einschätzung der Lage?«

      »Ich möchte nicht zuviel sagen, wir haben ja gerade erst angefangen, aber wenn Sie darauf bestehen, so finde ich, ganz vorsichtig gesagt, Sie wissen ja... tja, also der Diener kommt mir nicht ganz koscher vor.«

      »Nicht ganz koscher? Was meinen Sie damit?«

      »Ja, was ich meine: Verdächtig. Aalglatt.«

      »Nicht ganz koscher und aalglatt, eine seltsame Charakteristik, aber er hat so etwas... Ja, ja, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Aber wir warten mit ihm, bis wir mit dem Fabrikanten gesprochen haben. Haben Sie eine Liste der Angestellten?«

      »Hier.« Petersen zog ein zerknittertes Papier aus der großen aufgenähten Tasche seiner Jacke. »Außer unserem Freund, dem Diener, ist da noch die Köchin, die er erwähnt hat, ein Stubenmädchen und das Küchenmädchen, das jeden Abend nach Hause geht. Die anderen wohnen hier. Dann gibt es noch einen Knecht, der das Wasser heraufträgt. Da die Herrschaft keine Equipage mehr hält, hat sie auch keinen Kutscher mehr.«

      »Haben Sie herausgefunden, wo die Leute in der Mordnacht waren?«

      »Ja, in groben Zügen. Köchin und Stubenmädchen hatten frei, sagt der Diener. Sie waren beide nicht im Hause. Die Köchin hat ihre Schwester besucht, und die andere hat auch Besuche gemacht. Ich habe das Gefühl, die hat nicht nur ihre Familie besucht. Der Knecht sagt, er habe den ganzen Abend in seiner Kellerkammer gesessen und an einer Holzfigur geschnitzt. Er soll sehr gut schnitzen können. Und er habe nichts gesehen und gehört. Und es lagen auch überall Späne und Werkzeug herum. Es kann also stimmen, was er sagt. Das Küchenmädchen ist angeblich den ganzen Abend zu Hause bei seiner Mutter gewesen. Es ging um sechs Uhr abends von hier fort und kam gestern morgen um halb sieben zurück.«

      »Hm, gehen wir lieber noch einmal das ganze Haus durch. Ich bin...«

      Die Tür wurde geöffnet, und ein schwarzgekleideter Herr mittleren Alters trat ein. Sein Gesicht war wie auf der Photographie auffallend nichtssagend. Die Augen waren graublau, die Brauen hell, die Nase kurz und platt. Er hatte schütteres Haar und versuchte, die bloßen Stellen auf dem Hinterkopf durch geschicktes Frisieren zu verbergen. Er trug einen Kneifer. Krogh erhob sich, verbeugte sich und wollte sich gerade vorstellen, als er auch schon unterbrochen wurde.

      »Ich weiß, wer Sie sind, Herr Kriminalinspektor. Sie sind hier, um die tief tragischen Umstände des Todes meines Sohnes zu untersuchen. Ich weiß, Sie wollen kondolieren. Unterlassen Sie es bitte und stellen Sie Ihre Fragen so kurz wie möglich. Ich hoffe, Sie verstehen...«

      Die Stimme des Fabrikanten klang angespannt und gepreßt, und er machte eine schraubende Bewegung mit der Schulter, die Krogh als Ausdruck von Unbehagen deutete.

      »Wer ist dieser Mann?« Bramsnæs zeigte auf Petersen.

      »Polizeibeamter Petersen, mein Assistent. Er macht Notizen und ist in vollem Umfang informiert. Er ist einer unserer zuverlässigsten Leute. Erlauben Sie, daß ich anfange. Gut. Wann haben Sie die Stadt verlassen?«

      »Vor fünf Tagen. Ich war auf Juellinge zur Jagd eingeladen, bei dem dortigen Lehnsbaron. Ich bin, wenn immer ich es ermöglichen kann, auf Juellinge dabei. Die Jagd ist hervorragend dort. Wir waren Mittwoch und Donnerstag draußen. Donnerstag fand das Jagdessen statt. Die übrige Gesellschaft reiste im Laufe des Freitags ab, aber der Kammerherr hatte mich lange vorher schon eingeladen, anschließend noch eine Woche zu bleiben und mich auszuruhen. Er ist ein sehr guter Freund und wußte, daß ich ein wenig Erholung brauchte. Wir verbrachten ein paar friedliche Tage, bis das unglückselige Telegramm kam.«

      »Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?«

      »Montag, am Abend vor meiner Abreise. Er kam spät nach Hause. Ich saß hier in meinem Zimmer und arbeitete. Wir wechselten ein paar Worte, ehe er und ich gegen halb zwei zur Ruhe gingen. Ja, es war spät, und ich sah meinen Sohn nicht am nächsten Morgen, als ich das Haus verließ. Mein Sohn war kein early riser, wie die Engländer sagen.«

      »Ihr Sohn studierte?«

      »Ja, er studierte – meinem Wunsch gemäß – Staatswissenschaft, um Diplomat zu werden. Ich hatte gehofft, er würde die Fabrik übernehmen. Aber danach


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