Vorbei .... Walther von Hollander

Vorbei ... - Walther von Hollander


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Er steckte den Brief ein, sagte nichts weiter, trank seinen Wein, rauchte noch zwei Zigaretten. Juliane rauchte und trank nicht. Nach zehn Minuten fing sie an zu gähnen. Sie drängte Ali zum Aufbruch, zog ihn noch einmal an sich heran. Sah ihn lange und forschend an. Auge in Auge, ein altes Spiel, das sie früher immer gespielt hatten, wenn es galt, eine Wahrheit herauszukriegen oder eine Standhaftigkeit im Verschweigen zu beweisen.

      „Ali“, sagte sie dann, „wenn es eine wirkliche Liebe ist, dann musst du dich eigentlich freuen. Also freu dich. Aber sei dir klar, dass es vorübergeht. Verstehst du mich, Kleiner? Es geht vorüber. Denk dir, Henriette von Bütow hat drei Monate geweint, als der Mann auf der Jagd erschossen wurde. Jetzt, nach einem Jahr, heiratet sie den Vetter Bütow. Denk dir, so schnell geht das vorüber.“

      Und nach einer Pause, als müsste sie es ihm einbläuen: „Es geht vorüber, es geht vorüber. Hörst du?“

      Hans Adalbert lächelte die Schwester an. Er versuchte vergnügt auszusehen. Aber er sah grau und grämlich aus. „Ich höre“, brummte er und wies nach B. hinunter. Man hörte jetzt aus der Stadt eine Trompete heraufklingen, hell, lustig und frech.

      „Grossmann tutet“, sagte Juliane und lachte. „Doll, was?“

      „Ja ... ziemlich doll“, gähnte Hans Adalbert und ging hinaus.

      Er stand im dunklen Gang zwischen den mächtigen Schränken. Hinten im Gang brannte noch wie früher ein auf Öl schwimmendes Licht und warf die riesigen Schatten von Geweihen und Vögeln, von grossen Kronleuchtern und Wandarmen. Leutnant von Hagendörp schlich auf den Zehenspitzen an dem Bild des Reichsgrafen Ulrich aus der mütterlichen Linie vorbei. Er zog die Tür schnell hinter sich ins Schloss, als wollte er die Schatten abschrecken, er legte sich ins Bett, löschte das Licht, warf sich unruhig hin und her, machte wieder Licht und nahm nun endlich den Brief vor. Er las, die Augenbrauen angestrengt gehoben. „Na ja“, sagte er, „natürlich ... weiss ich ja.“ Dann löschte er endgültig aus. Draussen bellte Laura, die Hündin, wild auf. Grossmanns Trompete näherte sich, bog kurz vor dem Schlossweg ab und fuhr in Richtung Schwendorf davon.

      Dann war alles still, und Ali Hagendörp konnte über seinen Brief nachdenken und über Juliane, die immer gleich wusste, was los war, und wusste, wie es ausgeht ... und ob sie wohl auch diesmal recht behielt, und ob wirklich auch dies vorübergehen würde, wie jede andere Liebe? Das war doch ganz und gar unmöglich. Unmöglich! Denn sein Leben hatte sich endlich verändert.

      3

      Der erste, der von der Geschichte etwas Genaueres erfuhr, war Clemens, der zwölfjährige Majoratserbe. Er hatte nämlich die Luftballons, die sie am Abend vorher aufsteigen liessen, von der Dachluke aus in Sicherheit gebracht und festgestellt, dass er mit einer Wäscheleine leicht in das offene Fenster des Onkel Ali hineinkommen konnte. Er fand, dass Ali jetzt um neun Uhr endlich aufstehen könne. Denn wann sollte man wohl Tennis spielen, schiessen, reiten, wann sollte man rudern, schwimmen, wettlaufen, Pflaumen ernten und zum Hirscheschreien fahren, wenn man nicht gleich mit irgend etwas anfing? Er bewaffnete sich also mit einer wassergefüllten Blumenspritze, band sich eine Wäscheleine um, die er auf dem Dachboden um eine starke Säule wand, und rutschte über das Dach abwärts bis zur Regenrinne. Von hier aus schwang er sich in den Wipfel der mächtigen Edelkastanie, die mit gelben Blättern leuchtend vor dem Fenster des Onkels stand. In der Kastanie konnte er wie auf einer Treppe bis zur Fensterhöhe hinuntersteigen und auf einem ziemlich starken Ast so ans Fenster herankommen, dass er mit einem kleinen Klimmzug im Fenster sass.

      Er stieg vorsichtig hinein und hatte schon auf den schlafenden Ali gezielt, als er einen Brief auf dem Bett liegen sah. Den musste man besser wegnehmen. Denn sonst gab es durch die nasse Tinte eine Riesenschweinerei, und Mamsell Wenig würde sehr schimpfen und ihn bei der Mutter verpetzen. Clemens nahm also den Brief vorsichtig mit zwei Fingerspitzen fort. Dabei las er: „Liebster Ali ... müssen zu Ende sprechen ... so nicht auszuhalten ... werde einfach morgen nachfahren ... nicht böse ...“

      Clemens warf den Brief zornig in die Ecke ... einfach: „nachfahren“ ... Natürlich! Als ob es nicht schon genug Erwachsene um Ali herum gab. Gleich waren sie da: die Töches und die Brenningstedts, die Kusinen Klinke und die Marschallmädchen, und jetzt war es nicht genug mit denen, die schon hier waren, jetzt fuhren ihm auch noch die Damen von auswärts nach. „Liebster Ali ...“

      „Hallo!“ rief er ... „Onkel Ali, eins ... zwei ... drei ... Augen auf und Hände hoch, oder ich schiesse.“

      „Schiesse“, gähnte Ali und streckte sich, ohne die Augen aufzumachen.

      „Eins ... zwei ...“ begann Clemens ... „drei ...“ schloss Ali und hatte die Ladung Wasser im Gesicht. Clemens wollte natürlich ausreissen. Aber er hatte vergessen, die Leine abzuknüpfen, mit der er durchs Fenster gestiegen war, und blieb darum, als die Leine zu Ende war, in der Tür hängen wie der Fisch an der Angel.

      Die Szene endete mit einer ordentlichen Tracht Prügel und der feierlichen Überreichung einer neuen Luftpistole, die Onkel Ali gegen den ausdrücklichen Befehl des Vaters und der Mutter nun doch mitgebracht hatte. Er schärfte dem Neffen Vorsicht ein. Er dürfte höchstens oben auf dem Dachboden schiessen oder hinten im Park am Pavillon und natürlich überall im Wald.

      Clemens zog strahlend ab. Er holte sich eine alte Schiessscheibe vom Offiziersschiessen der Halberstädter Kürassiere, auf der ein Hirsch von vielen Kugeln durchlöchert war und um deren Blattschuss geschrieben stand: Oskar Freiherr von Hagendörp. Nach dieser Scheibe schoss Clemens den halben Vormittag über hinten im Park. Auf fünfundzwanzig Schritt traf er zweimal die Stelle, die sein Vater schon einmal durchschossen hatte. Trotzdem blieb er verbissen und ernst. Gegen elf Uhr kamen Ali und Juliane Arm in Arm den Weg hinunter. Als sie sich näherten, schwiegen sie. Also sprachen sie etwas Wichtiges. Natürlich. Tante Juliane hatte zornige Augen. Zwanzig Schritte weiter sagte sie: „Unsinn ... das erlebt jeder einmal.“

      Und Hans Adalbert: „Ausser dir, Juliane, ausser dir.“

      „Das ist noch nicht so sicher, Ali. Mit Vierunddreissig war unsere Grossmutter schon Grossmutter. Aber ich bin noch nicht Grossmutter. Verstehst du?“

      Worauf Hans Adalbert noch einmal zu Clemens zurückkam, die Schüsse begutachtete und selber einen in den Rand der Scheibe jagte. Ali, der Meisterschütze! Aber natürlich, wenn einer mit zitternder Hand schiesst! Juliane schoss auch. Sie traf, wie immer, ins Zentrum.

      Es blieb etwas Unruhiges in der Luft. Clemens spürte es genau. Gleich nach dem Mittagessen fuhren Juliane und Ali nach der Försterei Mühlenhoff. Marianne und Clemens durften mit. Sie fuhren quer durch die Stadt, hielten vor der Post. Hagendörp ging hinein, ein Telegramm aufzugeben. Marianne durfte solange die Zügel halten. Juliane ging neben dem Wagen auf und ab, blieb dann bei den Pferden stehen, streichelte ihnen den Hals. „Ruhig, Russka“, sagte sie. Dabei stand Russka still wie ein Holzpferd.

      Aus dem Café Gresshorn kam ein Mann schnell über den Platz, ein ziemlich unscheinbarer Mann mit Spitzbart, mit einem grauen, steifen Hut, einem hellgrauen Schniepel oder Cutaway, wie man das damals nannte, mit weissen Gamaschen. Er trat grüssend an Juliane heran. „Fräulein von Hagendörp“, sagte er leise und hielt den Hut überhöflich in der Hand. „Ich sah von weitem nur die Pferde. Russka und Schlippe, wenn ich mich recht erinnere. Prachtvolle Kerle. Darf man fragen, wie es Ihnen geht? Ich wollte dieser Tage Ihrem Herrn Bruder schreiben. Es handelt sich da um eine städtische Angelegenheit.“

      Juliane hielt die beiden Pferde an den Zügeln, als ob sie davonlaufen wollten. „Guten Tag, Herr Grossmann“, sagte sie. Sonst nichts. Grossmann konnte nun sehen, wie er die Unterhaltung in Gang hielt. Gleich weggehen mochte er nicht. Denn es standen der Rittmeister von Schwiering und der Rechtsanwalt Klusemann und der Bankdirektor Wiedenbein hinter der Efeuwand des Café Gresshorn und sahen herüber, ob Grossmann wirklich mit Juliane von Hagendörp sprechen durfte, wie er es behauptet hatte, oder ob sie ihn wegschicken würde. Er musste also bleiben, und er blieb.

      Hans Adalbert aber schrieb in der Post schon das dritte Telegramm. Das erste lautete: „Garberding, Braunschweig, Hoftheater. Auf keinen Fall kommen. A.“ Das zweite mit der gleichen Adresse: „Bitte nicht kommen. Ali.“


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