Vorbei .... Walther von Hollander
trat, sah er noch gerade Herrn Grossmann den Platz überqueren und zwischen den Efeuwänden verschwinden. „Er hat gar keinen Trompeter hinter sich“, sagte Clemens, „warum tutet er nur, wenn er fährt?“
„Das ist also Grossmann“, lachte Ali, „ist viel breiter als sein Vater, der Knuppkugel-Grossmann.“
„Ja, das ist Grossmann“, sagte Juliane und gab Russka und Schlippe einen leichten Hieb, so dass sie aufsprangen und im Trab davonzogen. Ali konnte knapp auf seinen Sitz heraufkommen. „Es ist übrigens erledigt“, sagte er, und als Juliane ihn prüfend ansah: „Hoffe doch. Wenigstens vorläufig.“
„Vorläufig ... na schön“, sagte Juliane und nickte dem Bürgermeister Koste zu, der mit gezogenem Hut auf dem Bürgersteig stehengeblieben war und den Wagen vorbeifahren liess. Die Ausfahrt war im übrigen prachtvoll. Die Sonne heizte wie im Sommer. Unten am Fluss war der Wald schon leuchtend und bunt, ja er lichtete sich sogar ein wenig. Aber tief im Gehölz war er noch sommergrün und dicht. Auf der Försterei Mühlenhoff summten die Bienen durch die Jagdgeschichten des Försters und zwischen den Einmachrezepten und Schnapsrezepten der Försterin. Draussen die Heide blühte noch. Es gab einen ganzen Garten voller Astern, Herbstrosen, Tagetes, voll Löwenmaul und Nelken. Auf dem Rückweg erzählte Hans Adalbert Reitergeschichten und Garnisonswitze. Die beiden Kinder, die so schrecklich gerne lachten und so sehr wenig zum Lachen fanden, sassen schon auf dem Anstand und platzten los, wenn ein Witz losgelassen war. Das klang im Walde besonders fröhlich zum Knirschen der Riemen, zum Schurren der Räder, zum Schnauben der Pferde. Mit diesem Nachmittag konnte man zufrieden sein. Das war ein Urlaubsnachmittag.
Am gleichen Nachmittag, kurz nach vier, traf auf dem Bahnhof von B. eine ungewöhnlich elegante Fremde ein. Für wenige Tage, dem Anschein nach, denn sie hatte nur einen Handkoffer mit, den sie selber tragen konnte, obwohl sie sehr schmal und ziemlich zart war. Man hätte sie für eine Engländerin halten können. Denn sie trug das hellgraue Kostüm, der Kontinentalmode entgegen, fussfrei. Der Hut war, verglichen mit den Hüten ihrer Mitreisenden, ziemlich klein, ein einfacher, hellgrauer Filz, von einer kleinen Feder überbuscht. Die Fremde nahm am Bahnhof die Droschke Nr. 23 und befahl dem Kutscher, eine Rundfahrt zu machen.
Sie fuhren fast genau denselben Weg, den am Tage zuvor Ali Hagendörp gefahren war, also den Schlossweg hinauf bis an die Zugbrücke, auf der man ein Schild lesen konnte, dass hier der Privatbesitz begann, Betreten polizeilich verboten. Die Fremde holte ein Theaterbinokel aus der Handtasche. Sie war anscheinend ein wenig kurzsichtig und brauchte das Perlmutterglas, das an einem Stiel getragen wurde, wie ein Lorgnon. Sie sah den sumpfigen Graben entlang, in dem ein paar Schilfpflanzen wucherten, ein paar Wasserrosen mit riesigen grünen Blättern. Sie bewunderte lange den Torbogen, der den Eingang zum Park bildete.
„Ein schönes Stück, dieser Torbogen“, sagte sie zum Kutscher, „bestes Barock. Aus derselben Zeit wie die Stadtkirche. Ein bisschen üppig alles, aber schön.“
„Och“, sagte Deike, „üppig ist ja nicht so schlimm.“
Das war die Unterhaltung des Kutschers mit der Fremden. Sonst hatte sie nur immer den Weg angegeben. Sie hatte sich an den Hotels vorbeifahren lassen. Aber das Schwarze Lamm, das doch allein in Frage kam, lag ihr zu sehr mitten in der Stadt, das Hotel Deutscher Kaiser zu nahe am Bahnhof. Schliesslich kam sie in der besten Pension von B. unter: Pension Stella matutina, zu deutsch Morgenstern. So hiess die Besitzerin wirklich. Ihr Mann, längst verstorben, ein klassischer Philologe, hatte den Namen für die Villa gewählt. In der Stella matutina nahm die Fremde also Wohnung. Sie nahm das zweitbeste Zimmer mit Blick über die Strasse auf die sanften Hagenberge. Sie ging eine ganze Zeit noch draussen im Garten hin und her und sah in den langsam hereindämmernden Abend, sah, ein Tuch um die Schultern, über den Park weg in die Sonne, die schon hinter den Hagenbergen untergegangen war.
„Schön“, sagte sie lächelnd zu Frau Morgenstern, die mit dem Fremdenbuch erschienen war, um die Anmeldung zu erbitten. Die Fremde nahm ihren Füllfederhalter und schrieb mit einer steilen, grossen Lehrerinnenhandschrift: Helene Garberding, geboren in P. bei Holzminden, Staatsangehörigkeit: Braunschweig. Geburtsjahr: —, Beruf: —, Zweck des Aufenthaltes: Erholung. Derzeitiger Wohnsitz: Braunschweig.
Frau Morgenstern war also nicht viel klüger geworden.
4
Fräulein Garberding blieb an diesem Abend nicht in der Pension. Sie habe nur wenige Tage Zeit, sagte sie, und müsse sie ausnutzen. Frau Morgenstern solle auf keinen Fall mit dem Essen auf sie rechnen. Sie werde irgendwo in der Stadt essen oder gar nicht. Es sei ja nicht so wichtig.
Draussen war es schon dämmerig geworden und ziemlich kühl. Vom Fluss her stieg der Abendnebel auf, dampfte über die Wiesen das Tal entlang. Die Laternen der Uferpromenade verschwammen. Die Lichter des Regattahauses, des Ruderklubs Fortuna 06, leuchteten wie Signale über dem Nebel.
Fräulein Garberding stand eine Weile an der Ecke der Gartenstrasse und des Schlossweges, von wo aus man das Tal übersehen konnte, und sah diesem Schauspiel zu. Ihre rehbraunen Augen, die zuerst noch träumerisch geblickt hatten, bekamen immer mehr einen starren Zug, wie wenn alles Leben herbstlich nach innen sickerte. Es wurde ihr nämlich in diesem Augenblick klar, dass sie ihre Expedition hierher übereilt und ohne eigentliches Ziel angefangen hatte. Was wollte sie, ausser dieser leidigen Angelegenheit, nochmals und nochmals „zu Ende“ bringen? Was wollte sie, ausser den Freund wiedersehen, mit dem sie erst vor drei Tagen noch zusammen gewesen war?
Sie hatte doch vor wenigen Stunden noch allerlei Gründe gehabt, alles liegen zu lassen, die Proben, ja die „Iphigenie“-Aufführung mit dem Gast aus Berlin. Aber wenn sie jetzt jemand gefragt hätte, vielleicht Hans Adalbert von Hagendörp selbst, was sie denn wollte, was denn eigentlich so unaufschiebbar, so dringend war, dass sie ihre Laufbahn gefährdete, sie hätte es nicht sagen können. Die Liebe? Wenn man wirklich liebte, konnte man auch warten. Wenn man aber nicht warten konnte ... liebte man dann noch? Sie riss sich mit einem Ruck von den Nebelbildern der Landschaft los und ging sehr schnell, ihren Wanderstock schwingend, nach Schloss Hagendörp zu. Der Wind stand von Westen her. Man hörte Stimmen vom Schloss, Kinderstimmen. Die Garberding sah zwei Kinderballons mondähnlich über den Wipfeln der Edelkastanien erscheinen. Sie hörte eine Fontäne aufspringen — Pelll ... pelll ... pelll ... und sah die Büsche rosa im Fontänenlicht aufstrahlen. Sie wandte sich nach links und ging eine ganze Strecke an der Schlossmauer entlang. Die Mauer endete in einem Zaun. Der war zehn Minuten lang, fünfzehn Minuten lang, ein Wildzaun aus Latten, die stufenartig übereinander genagelt waren.
Die Garberding ging immer schneller. Aber der Lattenzaun, dieser hochmütige Wildzaun, der den Grundbesitz der Hagendörps abgrenzte, endete nicht. Schliesslich stieg sie auf den Latten wie auf einer Leiter hinüber. Sie kam auf eine riesige Wiese. Der Viertelmond gab genügend Licht, dass sie einen kleinen Pfad erkennen konnte. Sie kam zu einem Pavillon, einem Rundbau, der barock war wie der Torbogen, von der gleichen Üppigkeit der Formen und Ornamente. Sie sah Blumensträusse aus Stein, Putten mit feisten Beinen und dicken Hinterchen, Sterne und Tiere. Es war ein unbewohntes Miniaturschlösschen mit breiten Türen und mit Fenstern, die fast bis zur Erde reichten. Verschlossen natürlich alles und teilweise mit Fensterläden verrammelt, umgeben von einem Altan, von dem aus man die riesige, muldenartig nach allen Seiten aufsteigende Wiese überblicken konnte. Helene Garberding setzte sich auf die Stufen des Mätressenhauses. Sie hatte ein schwaches Gefühl in den Knien. Merkwürdig: von diesem Lustschlösschen hatte Hans Adalbert nie erzählt, von diesem Park nicht, von der rosa Fontäne auch nicht. Überhaupt nicht viel von zu Hause. Sie hatte nur zufällig einmal ein Bild des Schlosses gesehen, eine Postkarte mit dem berühmten Torbogen, eine Fotografie seiner Mutter, der er ähnlich sah und die eine geborene Schwalenbeeck gewesen war, aus der gräflichen Linie, eine winzige, zierliche Viertelfranzösin. Auch ein Bild des Vaters hatte sie gesehen, des alten Oskar Freiherrn von Hagendörp, der ein Meter fünfundneunzig gross gewesen war, hakennasig, mit einem buschigen Schnurrbart, vielen Orden und wenig Humor. Und natürlich ein Bild Julianens, der Schwester, von der er viel erzählte, die verschwiegen sein sollte und kameradschaftlich, derb und sehr gescheit. Weiter wusste sie nichts von ihm. „Ist nicht nötig, Lena“ hatte er gesagt „brauchst nichts von Hagendörp zu wissen. Gehört mir ja doch nichts ausser sechs Jagdgewehren,