Vorbei .... Walther von Hollander

Vorbei ... - Walther von Hollander


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Post?“ fragte Hans Adalbert. „Doch!“ Juliane hob einen Brief hoch. „Von den Töches.“ „Sicher eine Einladung. Stimmt’s?“ Ja, es stimmte. Eine Einladung für den Abend. Na, passte ja ganz gut. Beim Regen konnte man doch nichts Vernünftiges unternehmen.

      „Sonst keine Post?“ fragte Ali noch einmal und schlug ärgerlich einem Ei die Kappe ab.

      „Wir essen nur selten Briefe zum Frühstück“, sagte Juliane, „die Dame wird wohl selbst kommen.“ Dann vertiefte sie sich wieder in die Zeitung, nahm auch noch den Anzeiger von B. vor und studiete ihn genau.

      Clemens hatte schnell fertiggefrühstückt und ging hinaus.

      „Es könnte sein, Juli“, flüsterte Hans Adalbert, „es könnte sein, dass sie schon da ist.“

      „Oskar erzählte mir von einer Parkdame“, antwortete Juliane. „War sehr angetan von ihr. Ich dachte mir gleich so etwas. Was machst du nun?“

      „Ich kann sie nicht ausklingeln lassen“, sagte Hans Adalbert böse. „Also kann ich gar nichts tun.“

      Juliane legte endlich die Zeitung weg. „Ich finde“, fing sie in ihrer vorsichtigen Art an, „dass die Hagendörps reichlich passiv geworden sind. Oskar ist schon seit ein paar Jahren zu vornehm, um irgend etwas anzupacken. So sitzen wir, und wenn der Inspektor gut ist und die Ernte gut ist, dann geht es auch uns ganz gut. Wenn aber Inspektor und Ernte schlecht sind, dann geht es auch uns schlecht. Das kann man nicht ändern, sagt Oskar, und nun kommst du auch, mein Sohn, und lässt die Dinge an dich herankommen, oder besser: du lässt sie in einiger Entfernung vor dir stehen und denkst, es wird schon nicht ganz herankommen. Da ist doch noch ein alter Wassergraben um das Schloss, eine Zugbrücke, schade eigentlich, nicht wahr, dass man sie nicht hochziehen kann.“

      „Ich habe nichts für Zugbrücken übrig“, fiel Hans Adalbert ein. Aber Juliane fuhr unbeirrt fort: „Schön, dann hast du nichts für Zugbrücken übrig. Aber für: ‚Betreten verboten! Die Ortspolizeibehörde‘. Ihr wisst genau, dass die Menschen hochachtungsvoll vor eurem Schild stehenbleiben. Ist auch der Torbogen da. Unser gewaltiges Bauwerk. Für Touristen drei Sterne. Aber die meisten Touristen begnügen sich mit der Vorderseite der schönen Dame und lassen die Hinterseite dem Vergnügen der Schlossbewohner. Also, man kann immer noch nicht sehr gut an uns heran.“

      „Ich weiss nicht“, versuchte Hans Adalbert, „was diese Ansprache eigentlich soll.“

      Juliane war aufgestanden. Sie ging, wie immer die Hände in den Taschen, langsam hin und her. Sie sagte: „Das gehört auch zu euch, dies ‚Ich verstehe nicht ganz‘. Und die Hoffnung, der andere wird zu schüchtern sein, um deutlich zu werden. Ich bin aber nicht so schüchtern, Ali. Ich sage, was ich meine. Und ich meine, du solltest tapfer und klar und anständig sein.“

      „Du findest also, dass ich feige bin?“ fragte Hans Adalbert ziemlich böse.

      Juliane lächelte: „So leicht mache ich es dir nicht, Kleiner. Wenn ich jetzt sage: ja, du bist feige, dann brauchst du nicht mehr zuzuhören. Dann schreist du: ‚Was? Ich, ein Hagendörp, einer der besten Reiter der Armee, ein Kunstschütze, ein tollkühner Bergsteiger, ich soll feige sein?‘ Darum erkläre ich dir: Du bist natürlich nicht feige, du wirst jede Attacke gegen jedes Maschinengewehr reiten. Auch wenn du weisst, dass du bestimmt draufgehst. Aber hier, Kleiner, hier.“

      Sie hatte die Hand auf ihr Herz gelegt. Sie kam auf ihn zu. „Hier“, wiederholte sie, „hier bist nicht nur du feige. Hier sind wir alle feige. Oskar natürlich und Anna, seine Gattin, und vielleicht sogar Tante Clementine. Und vor allem ich.“

      „Also schön, ich bin feige“, antwortete Hans Adalbert leise, „ich gebe es zu. Wenn ich über einen Graben rüber soll und weiss nicht, wie breit er ist, dann kriege ich Herzklopfen ...“ Er machte eine Pause. Denn Kuntze, der Diener, kam abräumen. Sie gingen in die Halle hinaus und wanderten dort unter der Sodomitischen Flucht auf und ab, vorbei am Porträt des alten Oskar von Hagendörp und am Bilde seiner Frau, der geborenen Schwalenbeeck, und am Bilde des Freiherrn Herbert von Hagendörp, des einzigen, der nie eine Uniform getragen hatte, sondern ein Philosoph gewesen war, wie man in der Familie sagte, in Wirklichkeit ein wissenschaftlicher Landwirt, ein Anhänger von Albrecht von Thaer. Sie wanderten Arm in Arm und sprachen leise weiter, weil an jeder Tür, weil oben im Gang einer stehen konnte und zuhören oder vielleicht hinter den Säulen, hinter denen sie als Kinder oft Versteck gespielt hatten. Sie erinnerten sich genau, wie oft sie den Gesprächen der Grossen zugehört hatten, wenn sie unverständliche, gefährliche und seltsame Dinge untereinander beredeten, und sie hatten geschworen, dass sie später mit ihren Geheimnissen und ihren Schwierigkeiten vorsichtiger umgehen würden. Hans Adalbert also flüsterte:

      „Natürlich, wenn sie hier ist, kann ich sie finden. Sie kann ja nur im Schwarzen Lamm oder im Waldfrieden oder gleich hier bei der alten Morgenstern wohnen. Ich kann sie also finden, falls sie da ist. Aber damit ist es ja nicht getan. Es ist da etwas anderes ... Meinst du nicht, wenn es erst einen Knacks gegeben hat, dass man es dann besser ganz wegschmeisst?“

      „Hm“, sagte Juliane, „vielleicht.“

      „Ich habe natürlich an Mutter gedacht“, fuhr Hans Adalbert fort, „weisst du noch, die wunderbare Sevresschüssel mit der Hirtin? Man konnte den Sprung kaum sehen, so hauchdünn war er. Aber sie schmiss das Ding doch weg.“

      „Verstehe“, nickte Juliane, „du willst also wissen, ob man so eine Sevresschüssel wegschmeissen muss oder soll. Weisst du, Mutter war sehr vorschnell. Sie hat nur niemals zugegeben, wenn sie was gereut hat. Aber ich glaube, sie hätte ganz gern manchmal wieder was Weggeschmissenes zurückgeholt. Wenn es beim ersten Knacks immer zu Ende wäre, dann könnte wahrscheinlich kein Paar auf dieser Erde zusammenbleiben.“ Hans Adalbert lächelte ein wenig hochmütig oder nachsichtig. Juliane hatte ja sicher recht. Aber bei ihm war die Sache doch ein bisschen anders.

      Er versuchte der Schwester klarzumachen, dass er eine noch nie dagewesene Art von Liebe empfunden hatte. Dass er bis vor kurzem bereit gewesen war, alles dafür herzugeben, was er hatte. Beruf also, Ruf und Familie. Wenn man aber so stand, dann durfte es doch keine Missverständnisse und Reibereien geben wie zwischen anderen Menschen. Und wenn es doch Missverständnisse gab, dann sollte man eben ein Ende machen. Und noch eines sollte Juliane wissen, etwas ganz und gar Verrücktes: als er annahm, dass jene Frau nicht nach B. kommen würde, da glaubte er, dass er unmöglich noch vierzehn Tage ohne sie würde weiterleben können. Er glaubte, dass er überhaupt niemals würde leben können, wenn er nicht mit ihr zusammen war. Aber nun, da er ahnte, dass sie da war, nun fing er an zu verstehen, dass er nicht würde weiterleben können, wenn er mit ihr zusammenblieb. Bitte, war das nicht ganz und gar irrsinnig? Hatte Juliane jemals so etwas Blödes, Verrücktes, Unsinniges, Albernes gehört?

      Juliane war einigermassen erschrocken. Sie wusste auch wirklich wenig zu raten. Sie wusste nur, dass es viel ernster war, als sie gedacht hatte. Aber im Augenblick konnte sie nichts weiter sagen als: „Na, so blöd und verrückt ist das gar nicht, mein Junge. Das ist nur so irrsinnig ... wie eben jede Sache, die mit der Liebe zusammenhängt. Kein Mensch wird damit fertig, und doch lässt keiner die Finger davon. Was soll dabei herauskommen?“

      Hans Adalbert war recht enttäuscht. Wenn sogar Juliane nichts Besseres wusste, dann konnte ihm wirklich niemand einen Rat geben.

      Der Regen hatte nachgelassen. Hans Adalbert beschloss, seine Meldung beim Bataillonskommandeur zu machen. Er zog sich die Uniform an und fuhr in die Stadt. Er hatte den halboffenen Landauer genommen, sass also beinahe versteckt hinter den Wagenscheiben. Aber die Einwohner von B. hatten Augen, die durch solche halben Wände drangen, besonders an Regentagen, an denen wenig Menschen auf den Strassen waren. So wurde Hans Adalberts Fahrt zum Garnisonskommandanten von tausend Augen beobachtet, und unter diesen tausend Augen waren auch die Augen von Frau Morgenstern (Stella matutina). Sie erzählte die wichtige Tatsache ihrer Pensionärin, Fräulein Garberding, und auf diese Weise geschah es, dass auf der Rückfahrt Helene Garberding am Fenster stand, den Wagen den Schlossweg heraufkommen sah, sich weit aus dem Fenster bog und winkte. Frau Morgenstern fand dieses Benehmen recht merkwürdig. Winken durften junge Damen doch nur dem regierenden Fürsten und nicht einem


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