Vorbei .... Walther von Hollander

Vorbei ... - Walther von Hollander


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Stadt in Staunen setze.

      Damit war der Gesprächsstoff erschöpft. Die Herren gingen, man hörte noch lange den Bass Klusemanns und die Kastratenstimme Wüstefelds ...

      Der Bürgermeister sprach auf Schwarz und Wiedenbein ein. Sie sollten mal ihre Meinung sagen, ob dieser Grossmann ein Schurke sei oder nicht. Er, Koste, habe den alten Klempner Grossmann nicht gekannt. Mochte ja eine ganz ehrenhafte Familie sein. Warum aber, wenn Grossmann einfach Geld anlegen wollte, kam er hierher, und wenn er hierher kam, warum gab er sein Geld nicht einfach zu Herrn Wiedenbein in die Bank, der es pflichtgemäss und zu soliden Sicherheiten weitergegeben hätte? Wenn er aber mit Kanalisationen Geld verdienen wollte, warum liess er nicht die Stadt aus dem Spiel, warum berannte er den Magistrat, der ja auch bisher seine Pflicht getan hatte, mit immer neuen Projekten zum Wohle der Bürger? ...

      In Grossmanns Hause aber hatte Doktor Boose eine ernste Unterredung mit Grossmann. Das Telefon würde gleich läuten. Die Herren von der Hotel-A. G. wussten keinen Rat. Die Banken hatten die Rückzahlung der kurzfristigen Kredite, die bisher immer schweigend verlängert wurden, verlangt. Man musste irgendwoher schnell etwa eine Million bekommen. Die Lage war also ziemlich schwierig, aber Herr Grossmann würde sie schon meistern. Damit verabschiedete sich der Sekretär. Grossmann musste sich klar werden. Und da er niemanden hatte, dem er vertrauen konnte, so musste er mit sich selbst sprechen. Er sprach ernst und sachlich auf sich ein. Er nannte sich dabei beim Vornamen. Ferdi, sagte er, oder Ferdinand. Seine Mutter hatte ihn Ferdi genannt und seine Frau, die längst verstorben war. „Ferdi“, sagte also Grossmann und begann sich auszuziehen. „Du musst ein bisschen aufpassen. Es ist bisher alles ganz richtig gewesen. Wenn ich in Berlin geblieben wäre, wäre ich verloren. Müsste ja und amen zu der Halsabschneiderei der Finanziers sagen, aber hier habe ich Möglichkeiten. Trotzdem darf ich nicht stur sein. Immer nur auf das eine starren.“

      Er blieb am Fenster stehen. Der Viertelmond war über den Hagenbergen erschienen. Im nahen Stadtwald begannen die Käuzchen zu rumoren. Das Laub raschelte im Wind. Und da ... wirklich, er hörte jetzt von fern die Hirsche schreien. Er erinnerte sich, wie er als Knabe mit anderen Jungens der Bürgerschule unten an der Villa des Fürsten L. vorbeigekommen war auf dem Wege zum Hirscheschreien und wie er den Fürsten L., den er immer so beneidete, in seinem Garten herumrennen sah wie in einem Gefängnis. Auf und ab oder um den Rasenplatz herum, ein Gewehr auf dem Rücken. Warum rannte er mit seinem Gewehr im Garten herum? Jetzt wusste es Grossmann: der Fürst war verrückt gewesen, und wenn er in die Luft schoss, so glaubte er auf seine Gegner zu schiessen, und als er in den Burenkrieg zog, so war das, weil die Hagendörps eine englische Urgrossmutter hatten und seine Frau, die ihn gefangen hielt, eine Hagendörp war und er deshalb die Engländer hasste. Nein, er war wohl nicht zu beneiden gewesen, der alte Fürst L. Aber der kleine Schulknabe Grossmann hatte damals gedacht, wenn man Geld hat, eine Villa, wenn man ein Fürst ist, dann ist alles gut, und die Welt ist weit und schön. Und jetzt begann er zu ahnen, dass die Welt nach oben zu in bestimmter Weise immer enger wird. Je mehr man erreicht, um so mehr gibt man von sich her, um so mehr muss erreicht werden. Zum erstenmal verstand er das. Zum erstenmal in seinem Leben hatte er einen kleinen Zweifel, ob es sich denn wirklich lohnt, all die die Anstrengungen zu machen, um nach oben zu kommen.

      Gut, dass in diesem Augenblick das Telefon ging. Dass der Berliner Direktor am Apparat war. Dass es ganz klar wurde, man musste um das Erreichte kämpfen oder ganz von vorn anfangen. Los also.

      Er sprach schnell, sachlich, hell. Was er sagte, war richtig und geschickt. Er beruhigte nicht nur den Partner in Berlin, er beruhigte sich selbst.

      Und wer wollte ihn kaputt machen, wenn er sich selbst immer Kraft zu geben verstand? Nicht wahr, Ferdi?

      6

      Niemand hatte damit gerechnet, dass es regnen würde. Aber es regnete. Zuerst noch sanft und tropfenweise. Dann mit dem Aufkommen eines Südwestwindes ziemlich scharf, landregenmässig. Es blieb dabei merkwürdigerweise warm. Aber was nützte das?

      Was nützte das dem Fräulein Garberding, die seit sieben Uhr wach lag und dem Plätschern der Traufe zuhörte, dem Stuckern der Teppichkehrmaschine, die Frau Morgenstern persönlich durch das Esszimmer und den Flur hin und her fuhr.

      Da hatte sie es also! Die lustige Kollegin Techemeier, die einzige, die von ihrer Geschichte mit Hagendörp wusste, hatte es ihr gesagt: „Du wirst hinfahren und in einer hässlichen Pension sitzen, und es wird regnen, und du wirst deinen Hagendörp nicht zu sehen bekommen. Denn er sitzt in seinem Schloss verschanzt. Was glaubst du wohl? Glaubst du, wir würden viere lang abgeholt werden und gebeten, dort zu bleiben? Das kommt wohl vor, aber uns Soubretten passiert es nicht. Dir passiert es vielleicht. Du bist schliesslich Tragödin. Das ist viel feiner.“

      Das hatte sie im ersten Augenblick getröstet. Aber nun wusste sie, dass es Unsinn war. Gerade Soubretten und Tänzerinnen wurden geheiratet und Tragödinnen nicht. Wie hatte Ali noch bei der letzten Unterredung gesagt: „Mach nicht solches Niobegesicht, Lena. Keine Medea-Augen, bitte, nein, auch keine flehenden Iphigenienarme. Komm. Ich mag das nicht.“

      Helene Garberding stand noch lange am Fenster, starrte in den Regen hinaus, starrte über die Gärten hin bis zu den hellgelben Edelkastanien, die unter dem grauen Himmel aussahen wie stehengebliebener Sonnenschein. Was sollte sie tun? Einen Brief schreiben? Ja, sie würde einen Brief schreiben und ihn hinüberschicken! Natürlich, das musste sie tun. Das war doch ganz einfach. Oder? Ja zum Donnerwetter, wenn sie nicht einmal das wollte, was wollte sie dann eigentlich? Wenn sie die hundert Kilometer zwischen Braunschweig und B. überwunden hatte, würde sie die fünfhundert Meter auch noch überwinden. Oder waren es mehr als fünfhundert Meter? Ja, viel mehr! Es war da jenes Missverständnis zwischen ihnen, das hundertmal besprochene und weggeräumte, das immer wieder erschien wie Schimmel auf Fruchtsaft.

      Drüben, fünfhundert Meter entfernt, standen Clemens von Hagendörp und Hans Adalbert am Fenster von Alis Zimmer. Sie waren beide sehr ärgerlich über den Regen, denn sie hatten eigentlich einen Geländeritt in die Hagenberge geplant. Nun schossen sie Edelkastanien vom Baum. Gar nicht einfach mit einer Luftpistole, freihändig natürlich und ohne langes Zielen. Ziel von unten angehen. Peng. Sie hatten bis jetzt mit zwanzig Schüssen sechzehn Kastanien heruntergeholt. Von den Fehlschüssen hatte Clemens drei geliefert und war nach jedem Fehler rot geworden. Jetzt hatte er gerade die einundzwanzigste geholt, und nun kam der Onkel dran.

      „Wir haben gestern abend im Park eine junge Dame getroffen“, sagte Clemens und starrte scheinbar gebannt in die Edelkastanie hinein. „Peng“, antworte Ali, „leider nur den Stengel abgeschossen. Aber unten ist sie. Was sagtest du? Eine Dame? Jung und knusprig? Wie, du verstehst das noch nicht? Kommt auch noch, Clemente. Wie alt bist du? Zwölf! Da hat es noch ein bisschen Zeit. Erst schiessen, dann reiten, dann heiraten ... das ist der Weg des Menschen.“

      „Ich will ja gar nicht heiraten“, sagte Clemens und lud die Pistole neu, „ich finde das gar nicht so schön. Oder findest du? Sag mal ehrlich?“

      „Ich habe es noch nicht ausprobiert“, sagte Hans Adalbert, „aber ich denke es mir auch nur mittelschön und ...“

      „Peng“, unterbrach Clemens, „zum viertenmal vorbeigeschossen. Übrigens, die junge Dame gestern war sehr hübsch! Woher ich das weiss? Papa sagte es. ‚Apart‘, sagte er. ‚Augen wie Sahneschokolade‘, sagte er. Sie ist übrigens bestimmt nicht von hier. Klar. Die Hiesigen kennen ja Laura. ‚Die Wölfin‘, sagen sie und gehen nicht in den Park.“

      „Also nun lassen wir die Dame im Park stehen“, schloss Hans Adalbert, „und gehen frühstücken.“

      Clemens säuberte die Pistole, Hans Adalbert band mit vielem Seufzen über die „albernen Angewohnheiten der Zivilisten“ seine Krawatte. Dann gingen sie Arm in Arm die Treppe hinunter. Unten in der Halle, unter der Sodomitischen Flucht, hielt der Onkel den Neffen am Arm fest. „Sag mal“, probierte er vorsichtig, „diese Dame ging also einfach spazieren? Ist doch komisch. Was war denn das für eine Dame?“

      „Sie hatte eine ganz moderne halblange Jacke an“, sagte Clemens. „Mama wollte neulich so eine halblange Jacke haben. Aber Papa meinte, das tragen nur die kleinen Bürgerfrauen. Ich fand die halblange Jacke ganz schön.“


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