Vorbei .... Walther von Hollander
nach Grossmanns Rede schien sich die Versammlung aufzulösen. Erst kamen einige Opponenten, Assessor Pluhm, wie die Garberding erfuhr, und Rittmeister von Schwiering, danach Grossmann mit drei Herren, die eifrig auf ihn einredeten. Zu viel Vorsicht sei nicht am Platze. Man solle mit Berlin telefonieren und möglichst bald zum Abschluss kommen. Grossmann lud die Herren ein, mit in seine Villa zu kommen.
Helene fand diesen Herrn Grossmann merkwürdig. Er war bestimmt rücksichtslos. Aber seine Augen waren liebenswert, ja ein bisschen schwärmerisch. Seine Haltung war freier und selbstverständlicher als die der anderen Männer, die eine Würde zur Schau trugen, die sie gar nicht besassen. Die Herren verliessen übrigens bald das Lokal.
Man hörte gleich darauf eine Trompete schmettern.
Fräulein Garberding zahlte. Sie ging schnell durch das Städtchen, das ganz still geworden war. Ein junger Mann mit steifem Hut und langer Nase liess sie vorübergehen, kehrte kurz um und ging hinter ihr her. Er überholte sie zweimal, um sie immer wieder an einem Schaufenster zu erwarten, einmal an einem Delikatessengeschäft, einmal an einem Handarbeitsladen, der in einem Plakat mahnte, jetzt die Weihnachtsarbeiten für die Lieben sofort anzufangen. Dieses Plakat starrte Helene sehr traurig an. Um Gottes willen, in drei Monaten war Weihnachten schon vorüber, und ein neues Jahr begann. Das gute alte Jahr war dann vorbei, in dem sie mit Ali Hagendörp zusammengekommen war. Wie, wenn ihre Liebe genau so spurlos verschwand, so unwiederbringlich wie dieses Jahr?
Langsam ging sie in ihre Pension zurück.
In der Nacht träumte sie, dass sie eine Marmorgöttin geworden sei. Mit kühler, glatter Haut. Die Hunde verfolgten sie, und sie schrie: „Ali, Ali!“ Aber er hörte sie nicht. Sie wachte auf, lag lange im Dunkeln und grübelte. Wo war Ali? Wie kam sie zu Ali? Was sollte sie ihm sagen, wenn sie zu ihm kam?
Was sollte werden?
5
Die Villa Grossmanns am anderen Ende der Stadt war die grösste und schönste Villa in B. Sie hatte jahrelang leer gestanden, einmal weil niemand fünfzehn Zimmer brauchte, niemand den riesigen Stall hinten im Garten, niemand den grossen, verwilderten Garten, der am Stadtwald lag und mit Buchen und Akazien in ihn einmündete. Dann aber vor allem, weil die Villa ein Unglückshaus war. Sie hatte früher dem Fürsten L. gehört, einem Schwager des alten Barons Hagendörp, der als schwer nervenkranker Mann nach B. zog und immer seltsamer und schrulliger wurde, so dass man es als Glück bezeichnen konnte, dass er heimlich nach Afrika ausrückte und im Burenkriege, als Freiwilliger auf der Seite der Buren kämpfend, fiel. Von seiner Frau, der Fürstin Clementine L., hatte es der Fabrikant Eggeling mit allen Möbeln und vielen Erinnerungsstücken gekauft. Ein Jahr danach brannte das Dachgeschoss aus, wobei die Frau des Fabrikanten in den Flammen umkam. Eggeling starb wenige Monate später an den Folgen des Nervenschocks. Sein Sohn, der Leutnant Eggeling, wurde noch im gleichen Jahre von einem Pferde abgeworfen und so verletzt, dass er jahrelang gelähmt blieb und schliesslich starb. Noch nicht genug: eine Tochter, die das Haus bewohnte, wurde tuberkulös und starb ganz schnell. Die zweite Tochter floh nach Italien. Sie wollte nichts mehr von diesem Haus wissen, nichts von B.
So stand es leer, bis in diesem Frühjahr Herr Grossmann erschien, als ein schwerreicher Mann, der B. zu seinem Sommersitz ernannte und, da er beschlossen hatte, seine Vaterstadt in den Kreis der aufblühenden Städte Deutschlands hineinzuziehen, einen Teil seiner Geschäfte hierher verlegte. Die Villa war die teuerste, die man in B. kaufen konnte, und wäre nicht unten am Böttchermarkt, an der Grenze zum Arbeiterviertel, das Ladengeschäft des verstorbenen Herrn Grossmann gewesen (A. Grossmann Nachf. genannt), so hätte Grossmann sicher in vielen alten Familien von B. Zutritt gehabt. Aber so nahmen die alten Familien keine Notiz von ihm.
In dieser Nacht war bei Grossmann noch lange Licht. Oben im Büro arbeitete der Privatsekretär Dr. Boose mit der Berliner Sekretärin Fräulein Fley. Man hörte ihn, durch das offene Fenster, diktieren. Es war von einer Belebung der Handwerksbetriebe in B. die Rede, von tausend Anschlüssen der Kanalisationsbranche, von einigen Kilometern Röhren. Unten sass der Bürgermeister Koste, ein langnasiger Mann mit Brille und Glatze, ein schüchterner Mensch, der alles, was ihm vorgetragen wurde, zunächst ablehnte. Ferner der Bankdirektor Wiedenbein, ein freundlicher Mann mit Specknacken, Eisenbahndirektor Schwarz, der eine optimistische weiche Bürste auf dem Kopf trug und auch sonst ein humorvoller und aufrechter Mann zu sein glaubte. Es war Rechtsanwalt Klusemann erschienen, einen schwarzen Schnurrbart zu beiden Seiten des Mundes, einen hohen Kragen um den Hals, eine Schmetterlingsschleife davor, ein Junggeselle, wie er im Buche stand, Tennisspieler, Kartenschläger, Vortänzer auf dem Bürgerball, Vorsitzender im Ruderklub Fortuna 06, und natürlich fehlte auch Leutnant a. D. von Wüstefeld nicht, zwei Zentner netto, Besitzer der Kalkwerke zu B., Kassenwart im Gustav-Adolf-Verein, Vorsitzender im Klub der Hagenbergfreunde (der die Wegweiser und Aussichtsbänke in den Hagenbergen zu pflanzen hatte), und nach Grossmann der bedeutendste Steuerzahler.
Diese Herren, die sich untereinander das „engere Komitee“ nannten, sassen in der Diele des Grossmannschen Hauses um den Marmorkamin, in dem ein herbstliches Feuer brannte. Sie sassen weit zurückgelehnt in den riesigen Sesseln, die aus der Einrichtung des Fürsten L. stammten. Sie tranken mit Kennermiene die Grossmannschen Weine und rauchten Henry Clay, die Modezigarre von damals, das Stück zu zwei Mark. Sie sprachen von den Schwierigkeiten, die einerseits der Kreis um Rittmeister von Schwiering machen würde, andererseits die Opposition im Stadtparlament unter dem Lagerverwalter Ohlroch vom Konsumverein. Auch von den Hagendörps war die Rede. Sie hatten zwar, wie Wüstefeld ausführte, keine Finanzkraft mehr, aber bei etwas moderneren Grundsätzen der Bewirtschaftung konnte man aus den Gütern wieder erhebliche Beträge herauswirtschaften.
Vor allem aber hatten sie eine gesellschaftliche Macht. Sie waren — hier brauchte es keiner zu sagen, denn jeder wusste es — durch die Fürstin L. mit dem regierenden Fürsten verschwägert.
Wüstefeld, der dicke Kalkwerksbesitzer, machte den Vorschlag, ob es nicht gut wäre, das Kanalisationsprojekt zunächst zurückzustellen, da noch die meisten Hausbesitzer an den Kosten der Elektrizität zu knabbern hätten. Wenn man lediglich die Elektro-Aktien in die Hotel-A.G. einbrachte ...
Grossmann klingelte seinem Sekretär, Herrn Dr. Boose. Herr Dr. Boose kannte ja die Herren der Hotel-A.G. Hatte der Wüstefeldsche Vorschlag irgendeine Aussicht? Objektiv, bitte! Wie notierte Hotel-A.G.? 137? Und Elektro konnte man zu 96, ja wenn man mit Herrn Wiedenbein gut stand, zu 94 haben. Dr. Boose, dessen Kragen den Klusemannschen noch um einen Zentimeter schlug und der den einzigen Hornkneifer von B. besass, setzte mit einem aufdringlichen Lächeln, das er für humorvoll hielt, die Angelegenheit auseinander. Man konnte natürlich den Herren in Berlin die Elektro-Aktien allein anbieten. Warum aber man in Berlin das Elektrizitätswerk von B. kaufen sollte — und was anderes bedeutete ja die Übernahme der Aktien nicht — das war nur schwer zu verstehen. Für eine richtige Erschliessung der Stadt sei die Holding-Gesellschaft interessiert. Elektrizität, Kanalisation, die Erbauung eines Kurhauses sodann, später die Erschliessung der Heilmoore im Krötengrund ... wenn man eine solche Reihe von Unternehmnungen anzubieten hatte, dann ... ja, dann ... läge die Sache schon etwas anders.
Gut geschossen. Mitten in Wüstefelds Portemonnaie getroffen. Es konnte doch sein, dass die Gesellschaft schliesslich auch das Kalkwerk zu einem guten Preis übernahm. „Gut also“, sagte er und erhob sich. „Man wird die Sache vorwärtstreiben. Man kann durch Fortschritt nur gewinnen, nicht wahr?“
„Wir werden die Sache überschlafen“, unterbrach Grossmann. „Wir werden uns vor Experimenten und Spekulationen hüten. Wenn ich an B. denke, so tue ich es nicht aus Geldgründen, sondern aus Anhänglichkeit an meine Vaterstadt. Geld verdienen kann ich auch anderswo.“
Niemand antwortete, denn niemand glaubte ihm. Aber seine Worte hatten Eindruck gemacht. Man kam an diesem Abend nicht mehr weiter. Man trank noch schnell im Stehen einen Whisky Soda. Man kam wieder auf kleine Stadtgeschichten. Die Hagendörps hatten sich geweigert, die Strassenbauanteile für die Chaussee zu zahlen. Die fürstliche Hofkammer drohte mit einem Prozess. Die Fürstin L., die Tante des jetzigen Majoratsherrn, wurde erwartet, um die Sache ins reine zu bringen. Zum Schluss tischte Klusemann noch ein Gerücht aus Braunschweig auf. Er hatte dort ja oft zu tun, und man hatte ihm erzählt, dass Hans Adalbert eine Liaison