Wandern ist doof. Blanca Imboden

Wandern ist doof - Blanca Imboden


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für innere Werte? Und wieso konnte dieser Gewohnheitsmensch plötzlich über sich selbst hinauswachsen und das Abenteuer im Ausland suchen? Die beiden arbeiten jetzt in Afrika in einem Missionsprojekt. Unvorstellbar! Mein Weltbild geriet gehörig ins Wanken. Hatte ich ihn derart verkannt? Eine Zeit lang war ich erschüttert und verzweifelt. Mein Selbstvertrauen war fast zerstört.

      Warum hatte ich nichts gemerkt?

      Gar nichts!

      Normalerweise sind es die Männer, die sagen, es sei doch alles perfekt gewesen, an dem Tag, an dem sie von ihrer Frau verlassen werden. Weil sie einfach nichts merken, wenn sie nichts merken wollen.

      Aber ich? Bin ich so unsensibel?

      Frank mit seinem Ordnungsfimmel konnte ich mir gar nicht in Afrika vorstellen. Er wollte sogar seine Taschentücher gebügelt haben und tat dies notfalls selber, so wichtig war ihm das. Die Bücher und CDs standen nach dem Alphabet sortiert im Schrank. Seine T-Shirts ordnete er nach Farben, und jede Socke hatte ihren speziellen Platz in der Kommode. Und jetzt lebt Frank irgendwo im Busch? Früher trank er immer die gleiche Sorte Bier, und nur diese eine war die richtige. Bei den meisten Lebensmitteln war er so. Er wusste haargenau, was ihm schmeckte, und alles andere kam nicht auf den Speiseplan. Bloß keine Experimente. Jetzt hockt Frank in Afrika, und es macht ihm offenbar nichts aus, dass alles anders ist und er auch mal in eine grillierte Heuschrecke beißen muss? Weil die dicke Dorothee ihn begleitet? Dabei sind wir im Urlaub immer an die Adria gefahren, weil jedes exotische Land ihm suspekt war.

      Wo war bloß meine Menschenkenntnis geblieben? Ach, ich könnte immer noch aus der Haut fahren, je mehr ich darüber nachdenke. Aber Grübeln hilft nichts.

      Vielleicht sollte ich wirklich auf diese Reise gehen. Schon, um mir zu beweisen, dass ich unternehmungslustig, offen und risikobereit bin und dass auch ich Mut zum Abenteuer habe. Nicht dass am Ende jemand vermuten könnte, ich sei in unserer Beziehung die Festgefahrene gewesen.

      Vielleicht würde es mir gerade jetzt guttun, etwas völlig anderes zu machen, auszubrechen und neue Leute zu treffen, die ganz andere Interessen und Lebenswege haben.

      Eventuell. Allenfalls.

      vielleicht, 15 Buchstaben: MOEGLICHERWEISE

      Das Hotel sieht im Prospekt wirklich sehr gut aus. Und alles rundherum ist so grün. Ich könnte herrlich durchatmen. Entspannt träume ich vor mich hin. Frankfurt ist ein Moloch, der einen manchmal fast verschlingt. Eine Dreckschleuder, eine Ansammlung merkwürdiger Gestalten, ein Verkehrschaos rund um die Uhr.

      Aber Wandern ist doof.

      Männer sind meist sowieso doof – früher oder später.

      Fasten ist total doof.

      Trotzdem ziehe ich gerade ernsthaft in Erwägung, diese Reise anzutreten. Wem will ich damit etwas beweisen? Mir selber? Das wäre ja noch okay.

      Eigentlich will ich mich einfach über meinen ersten Gewinn freuen. Ich löse noch nicht so lange Kreuzworträtsel. Schon nehme ich wieder mein angefangenes Rätsel in die Hand. Eine Figur aus Schillers »Wilhelm Tell« wird gesucht. Solche Fragen werde ich nach meinem Aufenthalt in der Schweiz natürlich locker beantworten können.

      Kreuzworträtsel sind auch doof.

      Ich weiß das.

      Sie sind eine Beschäftigung für alte Leute, deren Tag viel mehr Stunden als Inhalte hat. Mein Vater hat noch Kreuzworträtsel gelöst, da konnte er sie kaum mehr sehen.

      »Dafür gibt es schließlich Lupen«, meinte er nur, wenn ich ihn deswegen neckte, und spitzte seine Bleistifte, bis am Ende nur kleine Stummel übrig blieben.

      Papa hat noch Buchstaben in die Felder gemalt, als er den Stift nicht mehr ruhig halten und oft selber kaum mehr lesen konnte, was er zuvor geschrieben hatte.

      »Kreuzworträtseln bildet«, erklärte er mir immer wieder gebetsmühlenartig, als hoffte er, ich könnte dies irgendwann auch begreifen und vielleicht etwas für meine Bildung tun. Dabei lernt man durch Kreuzworträtsel in erster Linie unnötiges Zeug, das einem im Leben rein gar nichts nützt. Wissensmüll.

      Ein Beispiel gefällig?

      isländischer Berg, 11 Buchstaben: BARDARBUNGA

      Bardarbunga!

      Ein wirklich ganz und gar besonderes Wort. Ich war stolz, als ich es mir merken und es sogar mühelos aussprechen konnte. Bardarbunga!

      Klang das nicht wie eine Zauberformel?

      Schön, zu wissen, dass es auf Island einen Berg mit so einem geheimnisvollen Namen gibt.

      Aber wie weiter?

      Wann würde ich mit diesem Sonderwissen in einer Unterhaltung punkten können?

      Um es kurz zu machen: Es bot sich mir nie eine Gelegenheit, mit Bardarbunga ein bisschen anzugeben. Außerdem wäre da immer die Gefahr, dass es jemand genauer wissen will und weiterführende Fragen stellt. Da wäre ich aufgeschmissen, denn das genau ist es, was uns Ratefüchsen fehlt: das Wissen hinter der Worthülse im quadratischen Feld.

      Und trotzdem: Ich löse Kreuzworträtsel.

      Insgeheim.

      Leidenschaftlich.

      Ich erzähle das nicht herum, denn es ist nichts, worauf ich stolz bin. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Gendefekt, wie mein wildes rotes Haar. Irgendetwas Vererbtes, dem man einfach nicht entrinnen kann. Mein Vater starb vor einem Jahr, und erst vor ein paar Monaten war ich in der Lage, die Kisten mit seinen Habseligkeiten auszupacken, die mir das Seniorenheim übergeben hatte: Kreuzworträtselhefte, Nachschlagewerke, Bleistifte und Radiergummis. Tja. Andere erben eine blaue Mauritius oder kostbare Klunker, finden vielleicht sogar einen Goldbarren unter der Matratze. Aber man kann sich sein Erbe nun mal nicht aussuchen. Ich fing mit ein paar alten Kreuzworträtselheftchen und Lexika an, und inzwischen bin ich angefressen.

      Am nächsten Morgen schlüpfe ich wieder in meine Dienstuniform, ein dunkelblaues Kostüm. Meine wilden roten Haare versuche ich zu bändigen, indem ich sie ausgiebig bürste und dann mit ein paar Haarspangen aus dem Gesicht verbanne. Naturwellen können ein Segen sein, für mich sind sie eine Plage. Meine Frisur ist unberechenbar. Mein Ex würde sagen, meine Haare seien der Spiegel meiner Seele.

      Na ja.

      Das vorgeschriebene dezente Make-up aufgelegt, in die gewünschten blauen Schuhe geschlüpft, fertig. Mein Arbeitsplatz, das Hotel Haller, ist nur ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt. Ich mag meinen Job. An der Hotelrezeption bin ich an der Schnittstelle zwischen Gast und Hotel und Anlaufstelle für alle möglichen Probleme. Egal, ob ein Kleiderbügel fehlt oder einer wissen will, wo das nächste Bordell ist. Alle kommen zu mir. Von der Opernkarte bis zum Arzttermin organisiere ich fast alles. Nach ein paar Jahren in diesem Job habe ich das Gefühl, mir sei nun nichts Menschliches mehr fremd. Und doch werde ich immer wieder neu überrascht, schockiert, zum Staunen gebracht. Das ist gleichzeitig der Vorteil und der Nachteil meines Jobs. Ein abwechslungsreicher Arbeitsplatz ist meist auch stressig. Aber ich ertrage lieber den täglichen Hotelwahnsinn, als in einem Büro zu sitzen, wo Tag für Tag das Gleiche geschieht.

      Ich betrete das Haus, und sofort fällt mir die Menschentraube vor der Rezeption auf. Der Nachtportier, ein mit allen Wassern gewaschener Routinier, schaut mir hilfesuchend entgegen. Die Gäste drehen sich um, und bevor ich die Sicherheitsnadel an meinem Namensschild geschlossen habe, fangen sie schon an, auf mich einzureden.

      »So geht das nun wirklich nicht.«

      »Das ist doch ein Viersternehotel!«

      »Ich will mein Geld zurück und sofort abreisen.«

      Der Nachtportier zieht mich beiseite und stöhnt: »Die Leute möchten abreisen, und ich kann ihren Ärger verstehen. Die Rockmusiker waren vergangene Nacht wirklich extrem laut.«

      Mit einem gebügelten Stofftaschentuch wischt


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