Wandern ist doof. Blanca Imboden
Frankfurt, und die Musiker waren bei uns einquartiert.
»Ab Mitternacht war ich immer wieder oben am Vermitteln und Beruhigen«, berichtet der Nachtportier weiter, »aber die Musiker waren teilweise gar nicht mehr ansprechbar. Jetzt wollten die Gäste zum Frühstücken gehen, und da liegt doch tatsächlich eine halb nackte Frau im Gang. Sie erschraken furchtbar, weil sie glaubten, die Frau sei tot. Aber dann fing sie an zu schnarchen. Das gab den Gästen den Rest. Sie wollen nun nicht mehr länger in einer Absteige wohnen.«
Der Nachtportier überlässt mir erleichtert das Schlachtfeld und zieht sich zurück.
Schwierige Situation. Diese Geschäftsleute kommen immer wieder, sind also wichtige Gäste. Die Rockmusiker sind Promis. Sie steigen hier zwar nur einmal im Jahr ab, bringen dafür unser Haus in die Presse und ziehen damit andere Promis an. Man muss abwägen. Jeder Gast ist ein König, aber er sollte sich auch ein wenig so benehmen, sage ich jeweils.
Ich kann die Geschäftsleute schließlich beruhigen. Aber nur, weil ich meine Kompetenzen überschreite und ihnen verspreche, diese Übernachtung nicht zu berechnen, und weil ich ihnen schwöre, dass sie nächste Nacht in Ruhe schlafen können. Letzteres kann ich leicht schwören, denn die Musiker reisen am Nachmittag ab. Ich bezaubere die Unzufriedenen mit meinem zauberhaftesten Lächeln und versprühe Charme ohne Ende. Fast bekomme ich einen Krampf in den Mundwinkeln. Dann begleite ich sie höchstpersönlich an ihren Frühstückstisch und weise das Personal an, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Gleichzeitig bete ich darum, dass die Musiker weiterschlafen, bis die Geschäftsleute aus dem Haus sind.
Auch danach gibt es für mich noch keine Verschnaufpause, weil die Beinah-Leiche inzwischen auf meinem Bürostuhl weiterschläft. Das geht gar nicht. In der Wäschekammer finde ich ein paar liegen gebliebene Klamotten, die wir für Notfälle aufbewahren. Ich wecke die Dame unsanft. Ihr Make-up ist verschmiert. Sie trägt nur High Heels, Slip und BH, hält aber eine Handtasche umklammert. Sie riecht nach billigem Parfüm, Rauch und Alkohol. Eine Prostituierte, die nicht so wollte wie die Musiker? Oder ein Groupie, das man nach Gebrauch einfach vor die Zimmertür geworfen hat? Ich habe keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Mein Job besteht schließlich nicht nur aus Chaosbewältigung. Aber ich bin kein Unmensch und stelle der Dame eine Tasse Kaffee hin. Ich gebe ihr den alten Jogginganzug aus der Wäschekammer und erkläre ihr, dass in zehn Minuten ein Taxi auf sie warte. Die Frau schaut mich mit großen Augen an. Ich wiederhole meine Worte noch auf Englisch und Französisch. Die Frau nickt und zieht hastig den Jogginganzug über. Dann sagt sie kurz »Grazie«, nimmt einen großen Schluck Kaffee und verschwindet.
Puh. Das wäre geschafft.
Dieses Intermezzo hat mich eine Stunde gekostet. Jetzt wartet jede Menge Routinearbeit auf mich. Erst am Nachmittag finde ich Zeit, im Dienstplan nachzuschauen, ob meine Ferien überhaupt möglich wären. Alles im grünen Bereich. Das Hotel wird auch ohne mich nicht vor die Hunde gehen. Mein Chef verreist erst im Herbst.
Nachdem Frank mich verlassen hatte, habe ich es mit dem Arbeiten etwas übertrieben. Ich habe mich richtig in meinen Job hineingestürzt. Überstunden kamen wie gerufen. Ich sprang da und dort ein, habe notfalls sogar serviert oder ein Zimmer geputzt. Das ist meinem Chef natürlich nicht verborgen geblieben, und er hat gleich angefangen, einige seiner Arbeiten auf mich zu übertragen. Er betrachte mich als seine rechte Hand, betonte er immer wieder. Irgendwann legte sich seine eigene rechte Hand wie zufällig auf meinen Hintern. Das brachte mich arg in Bedrängnis. Einen Chef in die Schranken zu weisen, ist nicht so einfach. Ich versuchte es diplomatisch, was aber nichts nützte, denn er fing auch noch mit seiner linken Hand an, mich zu begrapschen. Nur so flüchtig, im Vorbeigehen, wahrscheinlich, um auszutesten, wie weit er dann beim nächsten Mal gehen könnte. Nach einigen solchen Episoden beschloss ich, ein eindeutiges Zeichen zu setzen. Als er mich wieder einmal betatschte, hatte ich gerade eine volle Kaffeetasse in der Hand, drehte mich schwungvoll um und goss ihm die heiße Brühe über seinen kostbaren Anzug.
»Ach, das tut mir leid!« Ich gab mich sehr erschrocken. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Neumann. Ich glaubte wirklich, jemand wolle mich begrapschen. Oh, wie ist mir das peinlich. Sie würden so was ja nie tun. Ich müsste ja sonst auch sofort kündigen, und das wollen wir beide doch nicht.«
Ich habe nervös-hysterisch drauflosgequasselt, und er hat gekocht vor Wut und versucht, mit ein paar Papiertüchern seinen Anzug zu retten. Aber er hat meine Botschaft verstanden und lässt mich seither nicht nur in Ruhe, nein, er behandelt mich auch ausgesprochen respektvoll.
Chef, 7 Buchstaben: MEISTER
Nachdem ich diesen chaotischen Tag bis zum Nachmittag problemlos überstanden habe, höre ich plötzlich die Stimme meines Chefs: »Frau Oswald, in mein Büro!«
Ich hatte vor lauter Stress gar nicht gehört, wann er gekommen war. Oha. Jetzt will er wissen, warum ich Logiernächte verschenke, denke ich und bereite mich innerlich auf einen verbalen Schlagabtausch vor. »Bitte erklären Sie mir, was da heute vorgefallen ist«, befiehlt er und lässt mich vor seinem Schreibtisch stehen, als wäre ich ein Schulmädchen im Rektorat. Dafür, dass seine linke Hand vor kurzer Zeit noch genauso frech war wie seine rechte, führt er sich ganz schön autoritär auf. Ich entscheide mich dafür, selbstbewusst aufzutreten, und bitte zunächst darum, Platz nehmen zu dürfen. In wenigen Worten schildere ich die Situation von heute Morgen und erkläre die Gründe für meine Entscheidungen. Ich versuche, ganz ruhig zu bleiben, und schaue ihm dabei direkt in die Augen, was ihn immer nervös macht, wie ich herausgefunden habe.
»Sie haben die Lage genau richtig gemeistert. Das fällt mir bei Ihnen immer wieder auf: In Krisensituationen reagieren Sie kompetent und souverän. Danke schön!« Neumann lächelt mich freundlich an. Er reicht mir die Hand und schüttelt sie heftig.
»Oh, Sie können sich gern revanchieren«, antworte ich und nutze meine Chance. »Ich möchte Ende Juli, Anfang August Urlaub in der Schweiz machen. Sie müssten das noch absegnen, aber von den Arbeitsplänen her sieht es sehr gut aus.«
»Wenn das so ist, dann gehen Sie ruhig. Die Schweiz. Aha. Ein teures Pflaster. Ich werde Ihnen eine Prämie von 150 Euro mit auf den Weg geben. Und nach dem Urlaub werden wir gemeinsam Ihre Position in unserem Hause neu bewerten und überdenken. Sie haben mich in letzter Zeit des Öfteren sehr positiv überrascht, und inzwischen fange ich an, mich auf Sie zu verlassen. Das erleichtert meine Arbeit enorm.«
Mir bleibt glatt die Spucke weg. Ich bin selten sprachlos, aber jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Er will doch nicht irgendwas von mir und versucht bloß, sich einzuschleimen? Die Prämie nehme ich gerne, aber ich werde auf der Hut sein.
Somit ist es wohl beschlossene Sache: Ich fliege in die Schweiz. Als ich Neumanns Büro verlasse, ziehen sich meine Mundwinkel automatisch nach oben, aber ich bin nicht sicher, ob das Vorfreude ist oder ob ich mich selber auslache.
»Und, hat es sich gelohnt, sich begrapschen zu lassen?«, fragt Ute mich kurz vor Dienstschluss. Meine Kollegin hat mein Lächeln beim Verlassen des Chefbüros bemerkt und wohl nach Belieben gedeutet. Ute hat einen Knall. Sie möchte Karriere machen um jeden Preis, kommt aber nicht vom Fleck mit ihren Bemühungen. Die Verbissenheit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie würde sich notfalls auch hochschlafen, aber keiner hat an ihr Interesse. Daher spuckt sie immer mal wieder Gift und Galle. Zwischendurch arbeiten wir meist recht gut zusammen. Was soll ich ihr also antworten? »Ute, du liegst mal wieder völlig falsch. Ich habe eine Reise gewonnen!«
»Oh«, meint sie und zieht die zu einem hauchdünnen Strich gezupften Augenbrauen hoch. Mehr fällt ihr dazu nicht ein. Mitfreuen ist nicht so ihr Ding.
»In die Schweiz«, füge ich noch hinzu. Dann lasse ich sie einfach stehen und gehe ins Büro, wo ich noch schnell ein paar Gästeanfragen beantworte. Ein Mann möchte mit Schäferhund anreisen. Gut, das wäre an sich kein Problem. Aber er schreibt, dass er den ganzen Tag geschäftliche Termine habe und sich nicht um das Tier kümmern könne. Nein, da hört der Spaß auf! Gut, dass Neumann das auch so sieht. Dann will ein Verlag aus Berlin Zimmer für die Buchmesse reservieren, die im Oktober stattfindet. Gerade noch rechtzeitig. Während der Messe ist Frankfurt immer im Ausnahmezustand und die Hotelpreise genauso.