Wandern ist doof. Blanca Imboden
hilft sie mir wirklich.
»Ich habe das alles letzten Sommer gekauft«, erklärt sie mir. »Ich interessierte mich für einen Mann, der eine Seniorenwandergruppe leitete. Aber ich war viel zu unsportlich. Und der Mann erwies sich meiner schweißtreibenden Bemühungen gar nicht würdig.«
Auch eine Thermosflasche findet sie. Wanderschuhe müsse ich mir allerdings selber kaufen.
»Bitte keine billigen«, redet sie mir ins Gewissen.
Wir sitzen noch eine Weile zusammen, und es ist wie immer: Thea wirkt auf mich wie ein Jungbrunnen. Die alte Dame hat so viel Energie und eine extrem positive Einstellung zum Leben. Davon springt immer auch ein wenig auf mich über, wenn ich bei ihr bin. Einmal mehr nehme ich mir vor, mich viel häufiger mit ihr zu treffen. Sie ist ein großer Pluspunkt in meinem Leben. Zum Glück wohnt sie in Bad Nauheim, mit dem Zug nur eine halbe Stunde von Frankfurt entfernt.
Die Tage bis zum Ferienbeginn rasen nur so dahin. Als hätte jemand mein Leben irrtümlich auf Schnelldurchlauf geschaltet. Ich brauche viel mehr Energie, als ich gedacht hätte, um mich in meinen neuen Job einzuarbeiten. Da mein Chef mich gleich nach meiner Beförderung alleine lässt, stehe ich etwas zu schnell an vorderster Front. Aber wir halten per E-Mail Kontakt, und er beantwortet meine Fragen prompt und geduldig. Ein Lob auf die Smartphones! Was mich vor allem anstrengt, sind kleine, zwischenmenschliche Grabenkämpfe. Wenn ich in den Personalraum komme, bricht noch immer das Gespräch ab. Meine Kollegen wissen nicht so recht, wie sie mit mir umgehen sollen, und beobachten, wie ich mich in meiner neuen Position verhalte. Das verstehe ich. Ich habe selber schon viele Kollegen erlebt, die nach einem Aufstieg die Bodenhaftung verloren und sich sehr nachteilig veränderten. Ich versuche also, doppelt freundlich zu sein, locker zu bleiben und eine Chefin zu sein, wie ich sie auch gerne hätte.
Am schlimmsten ist es, wie erwartet, mit Ute. Sie verkraftet es gar nicht, dass ich nun in der Hackordnung über ihr stehe. Nachdem sie tagelang alle meine Bemühungen um ein gutes Arbeitsklima torpediert, um dann festzustellen, dass sie es trotzdem nicht schafft, alle gegen mich aufzubringen, lässt sie sich krankschreiben. Jetzt fehlt mir jemand an der Rezeption. Super! Also springe ich ein und arbeite manchmal bis zur Erschöpfung. Aber der Laden läuft, es passieren keine Katastrophen, die Gäste sind zufrieden. Abends falle ich todmüde ins Bett und denke nicht mehr groß an meine bevorstehenden Ferien.
Ich habe mir großartige Wanderschuhe gekauft. Andrea hat mich ins Sportgeschäft begleitet. Allerdings hat sie so heftig mit dem Verkäufer geflirtet, dass ich mich immer wieder neu bemerkbar machen musste.
Am Ende bin ich mit weichen, guten und teuren Schuhen aus dem Laden gegangen. Für diesen Preis werden sie mich sicher auf jeden Berg tragen. Die Schuhe sind beinahe schön. Um möglichst lange mit Andrea reden zu können, hat der Verkäufer sie so lange imprägniert, dass ich damit nun durchs Wasser gehen könnte. Da ich keine Zeit habe, die Schuhe richtig einzulaufen, was mir sehr ans Herz gelegt wurde, trage ich sie zu Hause. Einmal bin ich damit sogar eingeschlafen. Aber das gilt wohl kaum als einlaufen.
Ich freue mich riesig, als mein Chef nach zwei Wochen wiederkommt und ich die Last der Verantwortung wieder teilen kann. Er lädt mich zum Essen ein, und wir besprechen die Lage. Ich glaube, mir gefällt mein neuer Job, und mit Neumann komme ich jetzt sehr gut klar. Er ist zufrieden mit mir.
»Ich wusste, dass Sie die Richtige sind. Es gibt nicht mehr viele Menschen, die sich noch wirklich für einen Betrieb und ein Team einsetzen«, meint er.
Schon zwei Tage vor meinen Ferien gibt er mir frei. Er vergisst auch nicht, mir den versprochenen Ferienbonus bar in die Hand zu drücken.
»Bereiten Sie sich in Ruhe auf Ihre Reise vor, und kommen Sie erholt wieder. Ich danke Ihnen für alles.«
Mit Ute werde er noch persönlich reden. Es sei bekannt, dass bei einem Wechsel in der Führung manchmal im Personal Veränderungen vorgenommen werden müssten.
»Man hat mir schon erzählt, dass es nicht gut gelaufen ist mit ihr und dass sie nicht wirklich krank ist«, lässt er mich wissen.
Der Mann hat gute Quellen. Das werde ich mir merken. Vielleicht hat er mein Büro verwanzt?
Vorerst ist mir das egal. Ich bin geistig schon nicht mehr da.
Frei!
Ferien!
Ein herrliches Gefühl!
Ich verlasse das Hotel mit einem breiten Grinsen. Jetzt würde ich gern bei meinem Lieblingsimbiss an der Ecke vorbeigehen und meinen Urlaubsbeginn mit einer Currywurst und einer Cola feiern. Aber nichts da! Schon seit Tagen lebe ich gesund und ernähre mich nach Vorschrift.
Das sommerliche Wetter macht es mir leicht, mich mit Früchten und Salat, Pellkartoffeln und Hüttenkäse zufriedenzugeben. Dazu trinke ich viel Wasser.
Auch beim Packen halte ich mich genau an die Anweisungen des Veranstalters. Nur ein paar winzige Snacks verstecke ich noch zwischen den Wanderkleidern.
Zur Sicherheit.
Für den Notfall.
Man weiß ja nie.
Außerdem nehme ich Rätselhefte mit. Ist ja wohl klar.
Andrea kommt am Abend vor meiner Abreise vorbei, um mit mir einen Kräutertee zu trinken. Sie ist noch immer sehr ruhig und nachdenklich.
Erst jetzt kann sie von der Nacht erzählen, die sie so verändert hat: »Der Typ wollte mich vergewaltigen. Zuerst war er richtig nett und charmant. Also nahm ich ihn mit nach Hause. Ich wollte ja eh mit ihm ins Bett. Warum auch nicht? Aber dann ging er kurz ins Badezimmer und kam völlig verändert wieder raus. Plötzlich wurde er aggressiv und gewalttätig. Ich glaube, der Typ hatte sich irgendwelche Drogen eingeworfen. Es war furchtbar, und ich hatte riesige Angst, die Nacht nicht heil zu überstehen. Zum Glück verspürte ich plötzlich enorm viel Kraft, und ich habe mich gewehrt wie eine Raubkatze.«
»Und dann?«, frage ich entsetzt dazwischen. Andrea zuckt mit den Schultern.
»Irgendwann hat er von mir abgelassen und ist gegangen. Nie zuvor hatte ich in einer solchen Situation Gewalt erlebt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie einen das erschüttert.«
An diesem Abend sei ihr bewusst geworden, wie viel Glück mit ihrem lockeren Lebenswandel sie bisher gehabt habe, erklärt mir Andrea dann und fügt mit ernstem Blick an: »Am liebsten käme ich mit dir mit.«
Das gibt mir wirklich zu denken.
Andrea in einem Kuhdorf?
Freiwillig?
In Stöckelschuhen durch den Kuhfladen?
Ich schaue sie prüfend an und mache mir Sorgen. Aber sie lächelt schon wieder. Ich werde mich mehr um sie kümmern, wenn ich wieder zurück bin, nehme ich mir vor.
Wir umarmen uns lange.
»Ich wünsche dir eine gute Zeit. Du musst mir jeden Tag schreiben! Versprochen?«
»Klar!«
Das verspreche ich ihr gerne. Ich werde froh sein, auf dieser Reise in Kontakt mit der Außenwelt zu bleiben.
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