Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland. Volker Elis Pilgrim

Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland - Volker Elis Pilgrim


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Historiker Henry A. Turner schreibt über Wagener in seiner Einleitung: »Vom Herbst 1929 bis zum Frühjahr 1933 war Wagener jedoch ein prominenter Nationalsozialist, der während der ersten drei Jahre dieser Periode zur engsten Umgebung Hitlers gehörte. Zunächst Stabschef der SA, war er von Anfang September 1930 bis Ende jenes Jahres ihr de-facto-Chef. Ab Januar 1931 leitete er die Wirtschaftspolitische Abteilung der Reichsleitung der NSDAP, die im Juni 1932 infolge einer Umorganisation zur Hauptabteilung IV (Wirtschaft) wurde, mit Amtssitz im ›Braunen Haus‹, dem Münchener Hauptquartier der Partei. Im September 1932 trat er von diesem Amt zurück und siedelte nach Berlin über, wo er ›im Stabe des Führers zur besonderen Verfügung‹ tätig war. 1933 fungierte er im neuen ›Dritten Reich‹ als Leiter des wirtschaftspolitischen Amtes der NSDAP und von Mitte April bis Anfang Juli als Reichskommissar für die Wirtschaft. Dass Wagener trotz dieser Laufbahn wenig bekannt ist, lässt sich hauptsächlich dadurch erklären, dass er Ende Juni 1933 beim ›Führer‹ Adolf Hitler plötzlich in Ungnade fiel und seiner Staats- und Parteiämter enthoben wurde. Danach war er politisch kaltgestellt und blieb nur noch nomineller SA-Gruppenführer und (bis 1938) Mitglied des völlig entmachteten NS-Reichstags.« (Turner in Wagener, S. 7)

      Was Herausgeber Turner 1978 noch nicht wissen konnte: Otto Wagener hatte nicht erst 1946 während seiner Kriegsgefangenschaft seine Erinnerungen an Hitler niedergelegt. Sie wirken seltsam aktuell, spontan, direkt, nicht wie aus einem Abstand von eineinhalb Jahrzehnten verfasst. Das kam daher, weil Wagener sich nach jedem intimen Gespräch mit Hitler sofort Aufzeichnungen gemacht hat, die er seiner damaligen Sekretärin Christa Schroeder, die von Hitler ab 1933 übernommen wurde, diktiert hatte.

      Wagener vollführte diese Diktate camoufliert, indem er seinen Gesprächspartner verschleierte, sodass seine ehemalige Sekretärin bis zum Erscheinen seines Buches nicht wusste, mit wem Wagener zwischen 1929 und 1932 gesprochen hatte. Seine Diktate in Schroeders Maschine blieben erhalten. Er konnte sie in seine Erinnerungen an Hitler einbauen.

      Christa Schroeder enthüllte 1985, sieben Jahre nach Erscheinen von Wageners Erinnerungen, den Grund für die Aktualität und Authentizität des Erinnerten: »Als Dr. Otto Wagener am 1. Januar 1931 Leiter des Wirtschaftspolitischen Amtes der NSDAP (WPA) wurde, forderte er mich wieder als Sekretärin an. Die Diensträume des WPA mit den verschiedenen Unterabteilungen für Handel, Gewerbe und Landwirtschaft befanden sich in dem zum Braunen Haus umgebauten Barlow-Palais in der Briennerstraße Nr. 54, gegenüber der Nuntiatur.

      Dr. Wagener diktierte mir damals u. a. lange Berichte über stattgehabte Unterredungen, ohne die Namen der Gesprächspartner zu erwähnen. Auch unternahm er des öfteren Reisen, um nach seiner Rückkehr Aktennotizen zu diktieren, die in seinem Schreibtisch verschwanden. Oft ärgerte ich mich über diese, wie mir damals schien, unnötige Schreiberei. Außerdem sah mir dies oft nach einer gewissen Geheimniskrämerei aus. Erst als ich im Jahre 1978 die ›Aufzeichnungen eines Vertrauten, Dr. h. c. Wagener, 1929–1932‹, die von H. A. Turner jr. herausgegeben wurden, sah, durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Der geheimnisvolle Partner Wageners, sowohl auf den Reisen wie bei den Gesprächen, war Adolf Hitler gewesen. Seine anderen Gesprächspartner waren [die Nationalsozialisten] Franz Pfeffer von Salomon und Gregor Strasser.« (Schroeder 85, S. 28 f.)

      Schroeders Zeugnis gibt eine hundertprozentige Gewähr dafür, dass der unwillentliche Selbstverrat Hitlers, er hätte den vaginal-penetrativen Drang nie gehabt, von Wagener nicht erfunden, fantasiert oder halluziniert ist. Gemäß Schroeders Aussage hielt ihr ehemaliger Chef Otto Wagener in regelmäßigen Abständen Sätze und Wendungen Hitlers fest, die er ihr prompt diktierte, nachdem sie gefallen waren.

       Hitler von innen

      20. Zeuge – Hitlers Geistdiener und Chronik-Sekretär Thomas Orr

      »Am Anfang ihrer Lebensgemeinschaft mit Hitler, von der Eingeweihte bezweifeln, dass es auch eine Liebesgemeinschaft war, steht ein Selbstmordversuch, und am Ende der gemeinsame Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei. Der Berghof war für Eva kaum mehr als ein luxuriöses Gefängnis. Eine [Foto]Aufnahme wie die nebenstehende (aus Privatbesitz), die Eva Braun Arm in Arm mit Hitler zeigt, gehört zu den größten Seltenheiten. Solche Fotos erhielten den Stempel: ›Achtung! Veröffentlichung verboten!‹« (Orr, Nr. 40 vom 4. Oktober 1952, S. 5, B. 13, 14)

      Zu den Eingeweihten, von denen Thomas Orr spricht, gehörte auch er selbst – auf eine besondere und Hitler-biografisch bis heute nicht beachtete Weise.

      Dank Hitlers einflussreichstem deutschen Nachkriegs-Biografen Werner Maser kann seit 1971 überhaupt erst gewusst werden, dass Orr »ein akademischer Mitarbeiter des ehemaligen Hauptarchivs der NSDAP« war und er die zweite deutsche Nachkriegs-Hitler-Biografie 1952 »unter dem Pseudonym Thomas Orr« publiziert hat (Maser 01, S. 552, Anm. 12) – fast zeitgleich mit der ersten deutschen, nach 1945 erschienenen von Walter Görlitz und Herbert A. Quint. (Görlitz/Quint) Der Dritte im Bunde war 1952 der Brite Alan Bullock. (Bullock 52)

      Maser behielt seine Information von 1971 bis in die jüngste Ausgabe seiner Hitler-Biografie von 2001 bei. Es gibt demnach keinen Grund, ihr auszuweichen. Doch Maser versteckte sie inmitten seiner tausend Anmerkungen, sodass diese überraschende Nachricht in Anbetracht von Thomas Orr als ehemaligem Hauptarchiv-Mann die Hitler-Forschung nicht erreichte. Denn Maser zitiert Orr nur ein einziges Mal in einer unwichtigen Nebensache und behandelt seinen potenten Hitler-Biografie-Vorläufer als einen marginalen Artikelserie-Schreiber. (Maser 01, S. 80) Diese erniedrigende Sichtweise wird bis heute von der Hitler-Forschung übernommen. Zum Beispiel kommen weder Orr noch Görlitz/Quint in der Hitler-Biografie von Volker Ullrich vor – einer der Gründe, warum es bei Ullrich zu den Verstiegenheiten in Bezug auf Hitlers »normal funktionierende Heterosexualität« kommen konnte. Eine genaue Kenntnis von Orr hätte Ullrich rechtzeitig eines Besseren belehrt.

      Der Quereinsteiger in die Hitler-Biografik, Anton Joachimsthaler, hat sich fast 20 Jahre nach Maser mehrmals auf Nachrichten von Thomas Orr berufen, ihn als Quelle zum ersten Mal ernst genommen und durchlaufend zitiert – 1989 in seiner Korrektur einer Biographie. (Joachimsthaler 89)

      Doch abermals trat die Besonderheit des frühen deutschen Nachkriegs-Hitler-Biografen Thomas Orr noch nicht zu Tage, weil Joachimsthaler seinen Vorläufer, Werner Maser, ständig attakiert. So war er nicht empfänglich für Masers Meriten, die Masers Negativa immer noch die Waage halten. Joachimsthaler bemerkte Masers essentielle Aufdeckung der Herkunft von Thomas Orr als ehemaligem NSDAP-Hauptarchiv-Mann nicht.

      Erst ein weiteres Jahrzehnt später stellte der englische Historiker Ian Kershaw 1998 im ersten Band seiner Hitler-Biografie Thomas Orrs Publikation von 1952/53 so heraus, dass mit einem Mal ihre Sensation erkannt werden konnte. (Kershaw 98, S. 7 / 603, S. 10 / 605)

      Mit Thomas Orr, der seine Hitler-Biografie zurecht Tatsachenbericht untertitelt, beginnt die Dokumentation in der Hitler-Forschung und endet die spekulative Phase, in der sich die frühen Zu-Lebzeit-Hitler-Biografen Rudolf Olden und Konrad Heiden 1935 und 1936/37 noch notgedrungen befinden mussten.

      Thomas Orr war ein »Spezial-Naher« im Umfeld von Hitler. Orr muss in die Reihe der Diener, Adjutanten, Sekretärinnen und engsten Freunde Hitlers gestellt werden. Nach der Lektüre von Orrs in der ehemaligen Münchener Hausfrauen-Illustrierten Revue versteckten Hitler-Biografie wird sogar deutlich: Orr gehört nicht nur in die Reihe neben die Diener etc., sondern muss in mehreren Punkten bei der Wahrheitssuche über die anderen Hitler-Nahen gestellt werden. Orrs Äußerungen beherbergen zu manchen Dingen den gefülltesten Wahrheitsgehalt.

      Freunde und Sekretärinnen waren auch mal äußerlich oder innerlich abwesend, haben bei Zusammentreffen mit Hitler nicht immer auf alles aufgepasst oder etwas nach eigenem Gutdünken verschieft. Und die Rund-um-die-Uhr-Diener können zuweilen gedöst haben, bekamen auch oft nur noch den mechanisch funktionierenden »Körper-Hitler« vorgesetzt.

      Thomas Orr als ehemaliger Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP war beauftragt, Material für eine einstmals zu publizierende Hitler-Biografie zu recherchieren und zu sammeln. Er war inhaltlich positionell ein Wahrheitsdiener.


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