Hitler 1 und Hitler 2. Das sexuelle Niemandsland. Volker Elis Pilgrim
dürfen, wäre eine andere Sache gewesen. Doch zuerst einmal sollte so gründlich und genau wie möglich, das hieß, der Realität Hitlers entsprechend, untersucht und – auf Vollständigkeit bedacht – gesammelt werden.
Somit ist die heute noch im Bundesarchiv Berlin existierende Material-Anhäufung des Hauptarchivs der NSDAP in vielen Details ein Hort der Wahrheit über Hitler. Nur bei den Dingen, mit denen sofort noch im Nazi-Reich an die Öffentlichkeit gegangen wurde, wie bei Hitlers Abstammung und bei Hitlers zweiter Kriegsverwundung, musste vom Prinzip der Wahrheits-Sammlung abgewichen werden (zweites und drittes Buch). Für die Vertuschung der Realitäten um Hitlers zweite Kriegsverwundung hatte das Hauptarchiv selbst so fälschend mitgearbeitet, dass bis heute in der gesamten Hitler-Biografik ohne Ausnahme geglaubt und ausgewalzt wird, Hitler sei durch eine Gelbkreuz-Gasvergiftung im Oktober 1918 an der Westfront Augen-geschädigt worden und/oder hätte angeblich unter zeitweiliger Blindheit gelitten.
Im dritten Buch muss daher militär- und medizinhistorisch rekonstruiert werden, dass Hitler nicht durch Gelbkreuz blind war, sondern durch andere Gasmunitionen Stimmbänder-involviert stumm – und zwar real und nicht eingebildet, damals »hysterisch« genannt oder »Kriegs-neurotisch«.
Diese Forschungen nunmehr gegen das Hauptarchiv der NSDAP als »Lügenhort« waren nötig, um eine Basis zu schaffen, von der aus Hitlers Wesensveränderung durch einen militärärztlichen Missgriff im Reserve-Lazarett zu Pasewalk von der Hitler-Biografik rezipiert werden kann.
Wenn das Hauptarchiv sich jedoch im Stadium der Recherche befand und Publikationen noch nicht in Sicht waren, galt es auch für diese Nazi-Einrichtung, der Wahrheit von Einzelheiten in Hitlers Leben nahe zu kommen, wie schon beim 9. Zeugen zu Hitlers Nicht-Heterosexualität – Hitlers Münchener Freundeskreis von 1913/14 – hervorgehoben wurde.
Dass Thomas Orr sich nach 1945 nicht mehr angehalten fühlte, bei der Publikation seiner Hitler-Biografie propagandistisch zu fälschen, versteht sich von selbst. Er präsentierte Erkenntnisse aus Recherchen und gefundenen Zeugnissen während seiner Arbeit für das ehemalige Hauptarchiv, die er zwar verschweigt, aber er kommentierte die Ergebnisse seiner früheren Tätigkeit keineswegs Hitler-apologetisch, sondern Fakten-adäquat.
Orr hat als historische Quelle daher einen Vorzug, den kein anderer Hitler-Biograf mehr haben konnte. Orr war mal innen. Er ist kein üblicher Hitler-Biograf von außen, der nur noch mit dem vorlieb nehmen muss, was übrig geblieben ist.
Orr befand sich zehn bis zwanzig Jahre vor seiner Publikation von 1952/53 in der günstigen Lage, in die Vollen gegriffen zu haben. Wenn es eine Steigerung von Otto Wageners aus nächster Nähe und Karl Wilhelm Krauses Tag und Nacht geben kann, dann müsste es auf Orr gemünzt heißen: Hitler von innen.
Dass Thomas Orr wirklich ein Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP war, kommt aus der Präsentation seiner Belege heraus, die 1952 nur ein ehemaliger HA-Insider haben konnte. Orr hatte sie während seiner Tätigkeit vorsorglich als Fotografien, Abschriften oder Notizen in seinen Besitz gebracht. Orr war ein Doppelagent in eigener Sache – einerseits tätig für das oberste Nazi-Archiv, andererseits für seine eigene Zukunft nach einem absehbaren Ende des Staatsterrorismus sorgend.
Es handelt sich bei Orrs Raritäten um Zeugnisse oder Berichte von Vorgängen, die heute noch in den Hauptarchiv-Materialien des Bundesarchivs Berlin vorhanden sind. Zum Beispiel erwähnt Orr in Einzelheiten die ungewöhnlich teure Transaktion eines Hitler-Bildes, das das HA zurückkaufen wollte. (Orr, Nr. 46 v. 15. 11. 52, S. 38, BAB, NS 26/19–33, Folio 28, Bl. 3/4) Orr nennt den Namen des Drogisten und Seifenhändlers Schnell, der in Hitlers erster Münchener Wohngegend 1913/14 Schleißheimer Straße sein Geschäft hatte und ebenfalls zu den Hitler-Bilder-Käufern oder -Vermittlern gehörte. Orr hatte für seine Recherchen Schnell kontaktiert. Der Münchener Hitler-Bekannte erscheint tatsächlich in den Korrespondenzen des Hauptarchivs auf der Suche nach originalen Hitler-Bildern. (Orr a. a. O., S. 39, BAB a. a. O., Folio 24, Bl. 7/8)
Solche Konkreta konnte 1952/53 nur ein ehemaliger HA-Insider präsentieren. Denn der Hauptarchiv-Bestand war nach 1945 in Kisten Kriegs-unversehrt geblieben und erst einmal unter die US-Hoheit genommen und im Berlin Document Center archiviert worden, bis die Hoover-Stiftung ihn mikroverfilmt und die Originale in den 1960ern der Bundesrepublik Bonn damals für das Bundesarchiv Koblenz zur Verfügung gestellt hat. (Hoover, AMORO)
Als 1952 noch nicht aufgedeckter Eingeweihter ist Orrs Zeugnis zur Braun-Hitler-Beziehung deshalb so authentisch wie die Taxierung anderer Zeugen: das Verhältnis zwischen Braun und Hitler = platonisch! Orrs Einschätzung »keine Liebesgemeinschaft« heißt mit damaligen Worten: kein sexuelles Verhältnis.
Zur Erforschung Hitlers von innen hatte Orr auch Gespräche mit Hitlers nahesten Außenstehenden geführt, wie er in seiner Untersuchung über Hitlers Münchener Einstiegszeit 1913/14 nachweist.
Auch für sein Diktum »keine Liebesgemeinschaft« muss er sich mit echt Eingeweihten ins Benehmen gesetzt haben. Denn das Verdikt »keine Liebesgemeinschaft« streicht sogar »Liebe« aus – den Oberbegriff für alle Emotionen.
Braun-Hitler = ohne Liebe – so etwas konnten nur die Nahesten der Nahen erfahren haben.
Orrs Zeugnis deckt sich mit den Wahrnehmungen Hoffmanns (1.), Schwarz’ (2.), Schroeders (3.), Döhrings (5.), Junges (11.), Brandts (12.), Blaschkes (13.), Plaim-Mittlstrassers (14.) und Wolfs (16.). Und mit seiner Verschärfung, »der Berghof war für Eva ein luxuriöses Gefängnis« gießt Orr Wasser auf die Mühlen von Heinz Linges Aussage (6.), Eva Braun sei »als Bettgenossin« Hitlers zu einem »entsagungsvollen Leben verurteilt« gewesen. In ein »Gefängnis« kommt auch »frau« meist nach einer Verurteilung und muss dann allem Kommunikativ-Sexuellen entsagen.
Orrs im Eingangszitat erwähntes Braun-Hitler-Foto, das er auf dieselbe Seite neben die Einschätzung der Eingeweihten setzen ließ, das Verhältnis zwischen Braun und Hitler sei nur eine »Lebensgemeinschaft«, aber keine »Liebesgemeinschaft«, dieses Foto stellt das Gleiche dar, das Schroeder, Blaschke, Plaim-Mittlstrasser, Wolf und Misch beobachtet haben: zwischen Hitler und Braun niemals eine Verliebtheits-Anwandlung am Tage oder eine Gemeinsamkeit des Nachts wahrnehmen zu können = Hitler an Braun eigentlich nicht interessiert, das Ganze ein »Scheinverhältnis«.
Hitler steht steif da. Keine Geste der Nähe zu Eva Braun kommt von ihm. Braun presst sich an ihn und lächelt fotogen, Schauspielerinnen-gekonnt. Aber nur ihre linke Hand lugt in Tuchfühlung mit Hitler ins Bild. Seine sieht man nicht, die wahrscheinlich starr runterhängt, an seinem nach unten gestreckten rechten Arm. Hitler hält es nicht einmal für nötig, für den Schnappschuss eine Regung der Nähe zu Eva Braun zu zeigen. (Orr, Nr. 40 [1952], S. 5)
Dass Orrs authentische Informationen im Gestrüpp einer Hausfrauen-Illustrierten versteckt sind, darf die Hitler-Biografik nicht weiterhin davon abhalten, sie zu rezipieren. Kein deutscher Buch-Verleger konnte unmittelbar nach 1945 eine Hitler-Biografie von einem ehemaligen Mitarbeiter des Hauptarchivs der NSDAP veröffentlichen. Die Bundesrepublik Bonn stand 1952 noch unter der Kontrolle der Alliierten. Der Alliierte Kontrollrat fungierte von 1945 bis 1948.
Doch auch ab 1949 war die Kontrolle längst noch nicht aufgehoben worden, sondern an die Alliierte Hohe Kommission der drei Westmächte übergeben worden, die erst mit den Pariser Verträgen von 1955 ihre Funktion einstellte. Auch danach war die BRBonn nicht vollständig souverän. Sie wurde von den Westmächten weiter beobachtet und kontrolliert – die DDR durch den Ostalliierten, die Sowjetunion.
Diese Kontrolle war nicht nur eine politisch-verwaltungstechnische, sondern auch eine ideologische. Wer was in den Gedanken-Umlauf der westdeutschen Nach-Nazi-Gesellschaft bringen durfte, das wurde von außen beobachtet, wenn nicht sogar entschieden. Verleger bekamen erst allmählich die Berechtigung zurück, Bücher publizieren zu können. Thomas Orr musste entweder warten oder sich in den dezentrierenden Bild-Text-Wildwuchs einer Hausfrauen-Illustrierten begeben und sein Manuskript zwischen Werbungen und Klatsch-Informationen und damit Ablenkungen aller Art platzieren – in Vergeltung für die einstmals tödlich irreführende