Es wird wieder Tag. Minka Pradelski

Es wird wieder Tag - Minka Pradelski


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      »Ich bin die Tochter eines Schusters«, erboste sich Mutter, »mit Stiefeln und Schuhen kenne ich mich aus! Ich habe sie im Park gesehen, ihre Stiefel sind mir sofort aufgefallen.«

      »Hast du ihr Gesicht gesehen?«

      »Ja! Sie hat ihre Haare zur Tarnung schwarz gefärbt, will wie eine von uns aussehen, aber ich hätte ihre Visage unter Tausenden erkannt, selbst wenn sie kahlköpfig gewesen wäre. Wäre ich bloß nicht umgekehrt«, sagte sie keuchend, »sie hat unser Kind mit ihren mörderischen Augen angesehen. Ihr Blick ist wie ein böser Fluch!«

      Mutter schüttelte sich. Sie weinte.

      »Klara, sie kann uns nichts mehr tun. Sie kommandiert kein Lager mehr.«

      »Dem Kind wird etwas geschehen«, flüsterte Mutter angsterfüllt. »Ich fühle es. Ich lasse ihn nicht mehr aus den Augen.«

      Nicht nötig. Ich passe gut auf mich auf. Mich hätten sie nicht abgeholt; ich hätte siedendes Öl vom Fenster auf sie hinuntergeschüttet wie einst die Ritter zur Verteidigung ihrer Burg.

      Zitternd saß Mutter da, stoßweise kamen Worte aus ihrem Mund: »Sie … lief mit einem Mann im Park herum! … schwanger!« Mutter schrie auf.

      »Nimm dich vor dem Kleinen zusammen, auch wenn er nichts versteht!«, sagte Vater scharf.

      Und ob ich sie verstand, nur zu gut. Meine kleinen Ohren waren ganz rot vom angestrengten Zuhören, noch nicht einmal der Schall einer Knallerbse hätte mich abgelenkt.

      Mutter legte sich hin, stand wieder auf, wusste nicht, wohin, lief vor Erregung im Zimmer herum.

      »Sie wohnt vielleicht ein paar Häuser weiter!«, ängstigte sie sich. Sie rannte in den Flur, und ich hörte, wie sie die Wohnungstür von innen abschloss. Schwer atmend legte sie sich wieder auf das Sofa.

      »Ich organisiere ein paar Jungens, wir lauern ihr auf und schlagen sie tot!«, zischte Vater.

      Mutters unsicherer Blick streifte mich kurz, nicht länger als der Flügelschlag eines Vogels.

      »Was wird er von uns denken, wenn er groß ist?«, fragte sie schwankend.

      »Was kümmerst du dich um ihn? Er ist viel zu klein, er kriegt nichts davon mit.«

      »Und wenn er es später erfährt? Wird er später auf seine Eltern stolz sein oder uns verachten?«

      Mutter sprach von dem älteren Jungen, der ich werden würde, für den ich mich aber schon hielt. Beide Eltern schwiegen, ich gebe zu, auch ich, das schlaue Kerlchen, war verwirrt. Nachdenklich spielte ich mit meinen Händchen.

      »Nein«, sagte Mutter schneidend, »du wirst dich nicht an Liliput vergreifen und zum Mörder eines ungeborenen Kindes werden. Du nicht!«

      »Wer sonst?«

      »Begreifst du denn nicht? Auch wenn Liliputs Brut von einem SS-Mörder gezeugt wurde, das Balg wird nicht durch dich zu Tode kommen!«

      »Was willst du?«

      Mutter antwortete nicht. Ihre Wangen blähten sich auf, verfärbten sich dunkelrot. Ich fürchtete schon, sie würden aufplatzen wie reife Kirschen.

      »Sie frei herumlaufen lassen? Nach allem, was sie uns angetan haben?«

      Mutter schüttelte heftig den Kopf.

      »Dich einsperren, aus Angst, ihr zu begegnen?«

      Mutter schrie erneut auf.

      »Was denn?«, schäumte Vater.

      »Diese Mörderin darf nicht herumlaufen wie eine harmlose Schwangere!«, kreischte sie.

      Noch nie waren die Stimmen der Eltern so laut. Mich hatten sie vergessen.

      Fünf Abende später, ein Klingeln an der Tür, Besuch kündigte sich an. Beim dritten Mal summte die Türglocke schon altersschwach.

      »Sie sind da!«, rief Vater in die Küche.

      Aufgeregte Stimmen im Flur, beißender Zigarettenqualm, keiner achtete auf mein Hüsteln hinter der angelehnten Türe des Kinderzimmers. Ich dulde keine Stimmen im Flur, die ich nicht zuordnen kann. Vor allem wollte ich in das Wohnzimmer. Ich überlegte, wie ich mich entsetzlich brüllend am besten in Szene setzen könnte. Zugegeben, die Waffe Geschrei wurde mir allmählich lästig, am liebsten wäre ich auf zwei Beinen ins Wohnzimmer spaziert, hätte mich zu den Gästen auf das Sofa gesetzt. Schließlich ging es um meine Mutter, da hatte ich ein Wörtchen mitzureden.

      Feine Absätze trippelten in Richtung Küche, Schnittchen wurden angerichtet, der Teekessel brodelte. Die Kinderzimmertür wurde weit aufgerissen, eine süßliche Duftwolke sauste herein, Tante Martha, Mutters Lagerschwester, trat ein. Sie roch angenehm nach einem Gemisch aus französischem Parfüm und amerikanischem Waschpulver, beides, schätzte ich, gegen grüne Dollars bei den Amerikanern eingetauscht. Martha hob mich liebevoll aus der Wiege, trug mich ins Wohnzimmer, tauchte ihren Zeigefinger blitzschnell in das bereitstehende Glas dampfenden Tees, anschließend in die Zuckerdose und ließ mich die klebrige Süße des Zuckers abschlecken. Ein königlicher Genuss. Aber so leicht kriegt sie mich nicht herum. Sie will, dass ich mich still in ihre Arme schmiege, damit sie mich einige verstohlene Minuten lang für ihren verstorbenen Sohn halten kann. Er hieß Bärel wie ich. Ein Namensvetter. Die Gäste verstummten, sie starrten uns an. Den süßen Finger wie ein Köder im Mund, lag ich zappelnd wie ein gefangener Fisch in ihren Armen. Ermattet blickte ich zu Mutter. Sie saß ruhig da, nur die Hände, wie im Krampf erstarrt, sahen aus wie zwei Tatzen. Ich muss ein Auge auf Mutter haben, sonst wird sie sich noch in ein Tier verwandeln.

      Behutsam, als wäre Tante Martha eine Mondsüchtige, löste ihr Mann mich aus ihren Armen, legte mich in die Wiege, die Vater vorsorglich hereingeschoben hatte. Martha kam zu sich, wischte die Tränen ab, deckte mich zu, setzte sich zu Mutter auf ein Eckchen Stuhl, als stünde ihr nicht mehr zu. Zum Glück waren Mutters Hände wieder schmal und beweglich, sie legte sanft einen Arm um Martha, teilte den Stuhl mit ihr. Die Gäste redeten wild aufeinander ein, und ich war mitten unter ihnen. Immer lauter wurde es, so dass ich trotz höchster Aufmerksamkeit kaum eine Silbe verstand. Sie ließen sich gegenseitig nicht zu Wort kommen, gestikulierten, schrien, bis ein Teeglas klirrend zerbrach. Stille. Marthas Mann Adam, die riesige Nase wie ein Schmetterling in seinem Gesicht, griff nach dem unversehrten Henkel und bedrohte Vater mit dem zerborstenen Glas.

      »Als sie uns in die Gruben trieben, hätten wir, anstatt mit der Hand unser Geschlecht zu bedecken, mit der geballten Faust in den Tod gehen sollen! Jetzt Rache zu nehmen ist billig!«

      Vater schlug ihm das Glas aus der Hand.

      »Du Feigling«, stieß Vater hervor, »musst ja nicht mitmachen!«

      »Martha, wir gehen«, rief Adam. Er stand auf. Seine breitflügelige Nase bebte vor Ärger. Ob der Falter gleich davonfliegen würde?

      »Wer mit meinem Ambulanzwagen abgesetzt werden will«, rief Adam laut, »kommt mit. Ich warte keine Minute.«

      »Adam, bleib«, sagte Siggi beschwichtigend. »Wir müssen beraten, was wir mit ihr tun.«

      Er drückte ihn gewaltsam in den Stuhl.

      Siggi war gut zwei Erwachsenenköpfe kleiner als Adam, ich bewunderte seine kolossal muskulösen Arme.

      Mutter zitterte, als friere sie. Tante Martha saß wie ein Häufchen Elend neben ihr. Beide sahen wie zwei abgeknickte, abgeblasene Pusteblumen aus. Jagte die Teufelin ihnen so eine Furcht ein?

      »Solange wir auf dieser blutbesudelten Erde leben, werden wir ihnen begegnen«, sagte Vater mit zusammengekniffenen Lippen.

      »Wir wollen weg von hier. Heimwärts, nach Hause, nach Palästina!«, sagte Sali, so blass, als hätte er sein Gesicht mit Kreide bemalt.

      »Und wir nur nach Amerika, in das reichste und mächtigste Land der Erde«, sagte Adam. »Dort sind wir vor dem nächsten Krieg sicher. Ich verdiene Geld, chauffiere die Amerikaner, und Martha singt.«

      »Die Amerikaner können


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