Es wird wieder Tag. Minka Pradelski

Es wird wieder Tag - Minka Pradelski


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flossen mir dreisprachig über die Lippen, bis ich ihre Sprachen beherrschte; Polnisch, Deutsch und Jiddisch.

      Knapp ein Jahr nach meinem glanzvollen Eintritt in die Welt entdeckte ich ein neuartiges Vergnügen: die Lektüre der Eltern. Sobald sie eine Zeitung, einen Brief oder einen beschriebenen Fetzen Papier zur Hand hatten, brüllte ich wie am Spieß, bis sie mich auf den Arm nahmen. Nur in Sichtweite des Papiers verschonte ich sie mit meinem Geschrei. Unauffällig übte ich. Ich studierte verwundert die engen, bis an den Rand beschriebenen Briefe, stutzte über die Kürze der einreihig bedruckten graugrünen Telegramme, die vom Postboten persönlich in die Wohnung gebracht wurden. Besonders das Wort Stop hatte es mir angetan. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag »ANKOMME STOP ABFAHRE STOP« gerufen. Die Versuchung war groß, aber ich hielt meinen kleinen Mund. Mein Lieblingsspielzeug war ab jetzt beschriebenes Papier. Ich raschelte, wedelte, fächerte mir Luft zu, aber in unbewachten Momenten ahmte ich mit den winzigen Fingern kunstgerecht die geschriebene Schrift nach.

      Dank Helgas Uhr waren mir Zahlen längst geläufig, Addieren und Subtrahieren flogen mir nur so zu. Aufmerksam verfolgte ich die Geschäfte des Vaters, seine auf einem Fetzen Papier geschriebene Kalkulation. Eifrig suchte ich nach Rechenfehlern, entdeckte ich einen, so würde mein Händchen so lange auf den Tisch patschen, bis er unwillkürlich die Rechnung an sich reißen, den verhängnisvollen Fehler entdecken und ihn verbessern würde. Nur erwischte ich Vater nie. Er verfügte offenbar über exzellente Rechenkenntnisse. Aber ich blieb wachsam. Vier Augen sehen mehr. Ganz besonders meine.

      Ich erwies mich als ein nützliches Mitglied der Familie. Für andere dagegen war ich unerzogen, hässlich und böse. Während eines Kindergeburtstags verpassten sie mir sogar einen üblen Spitznamen: Krabeiski.

      Ich saß blöd herum am hübsch gedeckten Geburtstagstisch, ein albernes Hütchen schräg auf dem Kopf. Ich sah mich gründlich um, konnte zu meinem Ärger noch nicht einmal Ehemalige aus meiner alten Säuglingsstation entdecken. Was sollte ich hier? Die kleinen Geburtstagsgäste waren mir, dem Senior-Kleinkind, viel zu jung. Aus lauter Langeweile kürte ich das hässliche, zweizahnige Mädchen mit Riesenschleife im spärlichen Haar neben mir zu meinem Versuchskaninchen. Ich kitzelte ihren Arm, kratzte sie urplötzlich, schnappte mir ihr Händchen, biss kräftig hinein, versetzte ihr einen mittelschweren Fußtritt unter dem Tisch. Dass sie meine Experimente so gering schätzte und kreischend nach ihrer Mutter rief, enttäuschte mich zutiefst. So eine Spielverderberin! Blitzschnell huschte ich unter den Tisch, zog den Kleinen auf den Knien umherkriechend die Schühchen aus. Geübt zählte ich ihre Zehen, gebe zu, konnte nicht widerstehen, kratzte und biss ein klein wenig an ihnen. Alle Mann vollständig durchgezählt, fünf Kinder, fünfzig Zehen, kommandierte ich flüsternd und tauchte flott wie ein U-Boot-Kapitän wieder an meinem Platz auf, ohne die Tischdecke zu verziehen. Kinder und Eltern schrien wild durcheinander. Zu meinem Entsetzen hörte ich eine Mutter rufen, so einen kratzenden, beißenden, kickenden Bengel dulde sie beim Kindergeburtstag nicht! Sie zurrte meine Taten in einem unflätigen Namen zusammen und schimpfte mich Krabeiski!

      »Krabeiski, Krabeiski!«, schallte es aus allen Ecken.

      Sogar die Kleinsten schrien mit. Ich hielt mir die Ohren zu und rannte blitzschnell zur Türe. Keine zehn Pferde, und wären es die schönsten Rennpferde aus dem teuersten Stall, brächten mich nochmals zu so einer geistlosen Veranstaltung. Ich wartete auf meine Eltern. Zum ersten Mal vermisste ich sie.

      Zum großen Kummer meiner Mutter wurde ich danach zu keinem Kindergeburtstag mehr eingeladen. Ich konzentrierte mich auf unsere Wohnung, nahm alle verrückbaren Gegenstände auseinander, zwickte Nägel aus der Wand, schraubte wackelige Tischbeine ab, baute um, reparierte. Über Nacht waren stumpfe Messer frisch geschliffen, die Küchenschublade klemmte nicht mehr, der lose Griff an der Türe war festgeschraubt. Wären mir ein paar stocklangweilige Erfinder nicht zuvorgekommen, hätte ich zweifelsohne die Elektrizität, das Fahrrad und das Mikroskop erfunden. Meine Entwicklung wäre kometenhaft in Helgas göttliche Richtung verlaufen, hätte sie nicht ein jähes, abruptes Ende gefunden.

      Das geschah an einem sonnigen Nachmittag, als Mutter Liliput im Park begegnete.

      Es war ein Sonntag. Glockengeläut dröhnte blechern in meinem Köpfchen. Mutter war eine Frischluftfanatikerin. Täglich zwang sie mir die lästige Ausfahrt auf. Stundenlang blieben die Fenster unserer Wohnung geöffnet. An manchen Tagen hatte Mutter den Gestank »von dort«, wie sie es nannte, im Kopf. Sie beugte sich halb über dem Fensterrahmen, hängte ihren Kopf zum Fenster hinaus, um frische Luft einzuatmen.

      Still schob sie den Kinderwagen vor sich her, ein eleganter weißer Korbwagen, aus Weide geflochten, wie ich sie einmal stolz sagen hörte. Das machte ihn keinen Deut besser. Allein schon der Name des unbequemen, nachlässig konstruierten Gestells war mir zuwider. So saß ich im Sporteinsatz besagten Kinderwagens, eine widerliche, dummdreiste Lüge, da er jegliche Sportübung unterband! Noch dazu eingeschnürt in einen festen braunen Lederriemen, dem Oberteil einer burschenhaften Lederhose ähnelnd. Gefesselt wie ein wildes Tier, wurde ich im Gefährt für meinesgleichen durch die Ansammlung von Grün, die sie Park nannten, geschoben. Wozu reden, dachte Mutter, wenn ihr Sohn ohnehin schwieg. Aber auch ein schweigendes Kind hat Gefühle, vor allem, wenn es nicht ausgefahren werden will.

      An jenem Sonntag waren wir nachmittags im Park. Mutter, wie üblich in einem leichten hübschen Sommerkleid, Schuhe mit klackernden Absätzen an den Füßen, die Haare seitlich mit Kämmchen aufgetürmt. Vor meinen Augen immerzu das gleiche Bild, nie ein Baum, der mit der Krone auf der Erde steht, Menschen auf drei Beinen oder ein lichterloh brennendes Haus, damit ich endlich was Ordentliches zum Gucken hätte. Wie eingegipst saß ich schwitzend im Sportwagen, fügte mich verbissen in mein Kinderschicksal. Was blieb mir auch anderes übrig. Zum Zeitvertreib fütterte ich meinen klugen Kopf mit Zahlen, multiplizierte, subtrahierte die winzigen Knöpfe an meiner Ausfahrgarnitur.

      Ein Ruck, Mutter blieb urplötzlich stehen. Das Gesicht weiß wie ein Gespenst. Ihr Atem ging stoßweise. Mutter kehrte um, lief zu meinem Unmut den gleichen langweiligen Weg, den wir schon gegangen waren, wieder zurück, verlangsamte ihren Schritt, musterte mit zusammengekniffenen Augen eine kleine schwarzhaarige Frau, die Arm in Arm mit einem riesigen, kräftigen Kerl daherspazierte. In einem ungewohnt scharfen Ton herrschte sie mich an: »Schau nicht hin! Da ist sie, die Teufelin!«

      Ich hörte nicht auf Mutters Worte. Ich war entzückt. Endlich eine willkommene Abwechslung. Eine schwarze Frau mit zwei Hörnern und einem Schwanz! Aber außer dem riesigen Bauch gab es an der Schwarzhaarigen nichts Besonderes, geschweige denn Höllisches zu entdecken. Klein war sie, viel kleiner als meine Mutter. Die kleine Frau lächelte mich sogar an. Mutter zuckte zusammen, raste mit mir davon, murmelte verworrenes Zeug. Am liebsten hätte ich sie in den Sportwagen gepackt und nach Hause geschoben, so verwirrt war sie. Sie stolperte über ihre eigenen Füße, fing sich wieder, rannte so schnell, dass ich herauszufallen drohte. Und Mutter hätte den Verlust ihres Sohnes womöglich erst vor unserer Haustür bemerkt.

      Zu Hause angekommen, klingelte sie Sturm. Sie war zu entkräftet, um aufzusperren. Vater rannte die Treppen herunter, nahm mich auf den Arm, stützte Mutter zwei Stockwerke hinauf in unsere Wohnung. Er bettete sie auf das Sofa, ein kalter Waschlappen kühlte ihre erhitzte Stirn. Mich setzte er auf eine warme Decke, wie man ein Paket abstellt. Mucksmäuschenstill war ich, spielte mit den Knöpfchen meiner Ausgehgarnitur, aber ich horchte mit wachen Sinnen.

      »Die Stiefel, die Stiefel«, keuchte Mutter.

      Vater zog ihr die Schuhe aus, massierte ihre Füße. Sie stieß ihn fort.

      »Ich habe sie an ihren Stiefeln erkannt!«, flüsterte sie.

      »Wen?«, fragte Vater irritiert.

      »Liliput«, hauchte sie.

      Liliput? Ein putziger Name. Aber warum sah Mutter so erbärmlich aus? Sie krümmte sich, stöhnte, übergab sich. Erbrochenes, Galle, Spucke schwappten aus ihrem Mund, schwammen wie ein kleiner See auf dem Boden. Pfui, wie das stank, dagegen duftet unsere pastellfarbene Kotze lieblich wie ein Blumenbeet. Vater wischte die wabbelige Lache schusselig auf, am liebsten wäre ich aufgesprungen und ihm zur Hand gegangen.

      »Bist du dir sicher?«, fragte er dumpf und richtete sich auf.

      »Ich


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