Es wird wieder Tag. Minka Pradelski
und Heute, wollte sie spielerisch durcheinanderwirbeln, Helga bestand auf der bewährten Ordnung.
Abends las sie mir als Gutenachtgeschichte eine Fortsetzung aus ihrem farbig titulierten Arztroman vor. Die Abenteuer der bildhübschen Krankenschwester und des Arztes, die über kurz oder lang ein Paar wurden, langweilten mich. Auf meinen berechtigten Einwand, ob es denn keine hässlichen Krankenschwestern gäbe, schimpfte Helga zum ersten Mal mit mir: »Das kannst du nicht verstehen, du bist zu jung für die Liebe«, sagte sie aufgebracht. Liebe. Die Liebe, was das sei? Bevor Helga antworten konnte, bewegte sich der Türgriff. Mit einem Satz war ich in der Wiege. Die Alte stand ohne vorherige Einladung in unserem Zimmer. Argwöhnisch schnüffelte sie herum, fand nichts Verdächtiges, ging wieder.
Ich langweilte mich. Ich nörgelte herum, weinte grundlos, schmiss das Kissen aus der Wiege, hängte mich wie ein Äffchen an den Wolkenhimmel, bis er zerriss. Helga rutschte die Hand aus. Ich beruhigte mich sofort. Übernächtigt blickte sie mich am nächsten Morgen an, dunkle Augenringe hatten sich in ihr blasses Gesicht eingegraben, beschämt gestand sie ein, sie könne mir nichts mehr beibringen. Sie werde ihre vakante Stelle in der Säuglingsstation wieder einnehmen. Sie kündigte, ließ mich im Stich. Jede große Liebe endet tragisch. Für sie war es schwerer als für mich. Beim tränenreichen Abschied flüsterte sie mir ins Ohr, sie werde ihr Bärchen niemals vergessen. Eines, sagte sie, wisse sie genau, ihr kluges Bärchen sei einer, der die Welt verbessert, eben ein junger Gott, rief sie aus und rannte, erschrocken über die eigenen Worte, für immer zur Tür hinaus. Nachdenklich blieb ich in meiner Wiege zurück. Ich, Helgas junger Gott, wurde geboren, um die Welt zu verbessern? Erst will ich die Welt kennenlernen, sagte ich mir, bevor ich ein einziges meiner entzückenden Fingerlein krümme.
Mein Verschleiß an Kinderschwestern war alles andere als göttlich, er war enorm. Nach einer guten Woche vergraulte ich sie alle, scheuchte sie im hohen Bogen zur Türe hinaus. Ich war unausstehlich. Nur zwei Bauernmädchen hielten es länger als drei Wochen bei mir aus. Sie waren wortkarg und an harte Arbeit gewöhnt. Den ersten Tag ließ ich sie im Glauben, ich wäre ein friedlicher, gut entwickelter Säugling. In der zweiten Nacht schwang ich mich zum Gott des Kinderzimmers auf, hüpfte auf ihr Bett, meißelte Worte aus ihnen heraus. Die Mädchen glaubten, ein widerwärtiges Gespenst habe sie die Nacht über geplagt, während ich, der Täter, friedlich in meiner Wiege lag und genüsslich meine Ausbeute zählte. Dank der gründlichen Nachtarbeit beherrschte ich zwei neue Dialekte aus dem Effeff, Oberhessisch und Sächsisch. Ich kannte mich beim Heueinbringen aus, wusste über Mistgabel, Hagelschlag, Kuckuckskind, Notgroschen, Trümmerfrauen und Onkelehe Bescheid. Mich dürstete nach mehr. Nur Helga hatte verstanden, ihren unersättlichen Säugling zu bändigen. Zu ihren Nachfolgerinnen war ich hässlich und böse. Die letzte flüchtete unter Tränen, ohne Entlohnung, mitten in der Nacht aus unserer Wohnung. Der lästige Alte, der mich gegen meinen gebrüllten Willen zu seinem Vergnügen aus der Wiege hob, sprach zum ersten Mal ein Machtwort.
»Nur über meine Leiche«, schrie er, »kommt eine neue Kinderschwester ins Haus.«
Ganz imponierend sein Geschrei, die Lautstärke zumindest gefiel mir. Vielleicht war das Urgestein gar nicht so übel. Sein altes Gesicht, seine ellenlangen Beine waren mir längst vertraut. Und an den widerlichen amerikanischen Tabak hatte ich mich inzwischen gewöhnt.
Meine erste gute Tat war ein wahrhaft schöpferischer Akt. Helga wäre stolz auf mich gewesen. Dank des mir innewohnenden göttlichen Funkens verhinderte ich beherzt ein Blutbad im Kinderzimmer. Zwei Uralte standen kurz vor einem Kindesmord. Wie sonst mit einem monströsen Ungeheuer von Säugling umgehen? Wir hatten keine Kinderschwester mehr als Sicherheitspuffer zwischen uns. Wir wären zusammengeprallt wie zwei Lokomotiven, die ohne Halt aufeinander zurasen. Eine Rolle rückwärts, und ich schrumpfte dem Alten und seiner Frau zuliebe um etliche wertvolle Monate. Ich stellte mich hilflos und dumm. Zappelnd wie ein ungeschicktes Kleines ließ ich mich wickeln und pudern, quietschte vergnügt aus heiterem Himmel, patschte vor Freude mit perfekt simulierten ungelenken Händchen auf meine geliebte von Helga gestrickte Wolldecke, um beim nächsten Wimpernschlag den Mund zur weinerlichen Schnute zu verziehen. Ich ließ mich stupide in der Wohnung herumtragen und widerstand dem starken Drang, vom Arm zu springen und die interessante Toilette aufzusuchen. Geradezu meisterhaft imitierte ich das sinnlose Kleinkindgebrabbel, hörte mir allzu gerne zu, wenn ich nach Herzenslust klingende Laute aneinanderreihte, fremdelte gekonnt, wenn sich mir ein unbekanntes Gesicht näherte, weinte erbärmlich, wenn ein Unbekannter es wagte, seinen dämlichen Kopf nickend in meine Wiege zu stecken.
Kündigte sich Besuch an, schrie ich durchdringend in schrillsten Tönen, bis sie endlich die Wiege ins Wohnzimmer schoben. Ich trickste sie aus, stellte mich schlafend, tat, als könne keine noch so laute Unterhaltung mich aus meinem Tiefschlaf wecken. Dabei schnappte ich wie ein Verdurstender nach jeder gesprochenen Silbe. Worte, Sätze, ganze Geschichten erfrischten mich wie ein kalter Wasserstrahl an einem glutheißen Sommertag. Am liebsten hätte ich mir ein Wortpolster um Brust und Bauch gebunden, als Vorrat für karge, stille Stunden. Meine Kehle vibrierte. Meine Zunge tanzte wie wild in meinem Mund. Leute, wollte ich rufen, redet mit mir! Ich kann euch verstehen, ich kenne eure Geschichten: Lager, Peitsche, Furunkel, Befreiung, Zigaretten, Schwarzmarkt, Heirat, Bankrott. Am liebsten wäre ich aus der Wiege gesprungen, hätte mich zu ihnen gesetzt und mit ihnen geredet. Aber den Alten zuliebe blieb mein Mündchen fest verschlossen.
Nachts, wenn die beiden schlafen gingen, lauschte ich an der Tür ihres Schlafzimmers. Sie ahnten nicht, wie viele Worte durch die Ritzen nach außen drangen. Wie gebannt blieb ich an ihrer Tür stehen, bis sie schwiegen. Ich hätte ihnen auch die Reihenfolge der grunzenden Laute vorführen können, bevor die alten Sprungfedern so grässlich ächzten, dass meine Ohrmuscheln minutenlang schmerzten. Die gutgläubigen Greise erwischten mich nie. Ich war viel schneller als sie, brauchte weniger Schlaf, für eine Erwachsenenstunde nicht länger als zehn Minuten. Wenn einer aufstand, um mitten in der Nacht ein Glas Wasser zu holen, lag ich längst wieder unschuldig und brav in meiner Wiege.
Den Alten lieferte ich so ein grandioses Schauspiel. Ich spielte den tadellosen Säugling, als sei mir die Rolle auf den Leib geschneidert. Prompt gingen sie mir auf den Leim. Berauscht von meinem eigenen Kunstwerk, fand ich Gefallen an meinem Publikum und verstieg mich zu meiner nächsten guten Tat. Ich, schöner als ein Pfauenauge, stieg in all meiner Herrlichkeit zu den Greisen hinab. Ich gestattete den beiden, mich als ihren Sohn anzusehen. Ich erhob sie zu meinen Eltern! Auf Widerruf, versteht sich. Wie aber meinen neugeborenen Eltern die freudige Nachricht überbringen?
Am nächsten Morgen bewegte ich meine zarten Lippen, sprach sie an.
»Ma Pa«, piepste ich, beobachtete sie dabei scharf.
Die Alte fiel in Ohnmacht. Der Alte fächelte seiner Frau Luft zu. Ich wiederholte stolz mein prächtiges Wortgebilde.
»Das ist deine Mama, und ich bin dein Papa«, sagte Vater überdeutlich und wies auf Mutter und sich.
»Ma Pa«, insistierte ich mit feiner Stimme.
»Und wer bist du?«, konterte Vater.
»Bärchen«, antwortete ich frech.
»Bärelchen heißt er«, lachte Vater, »da schau an!«
Schon wollte ich ihm ins Wort fallen, ob der Unverschämtheit, meinen herrlichen selbstgewählten Namen zu verhunzen, hielt mich aber gewaltsam zurück. Ahnte Vater etwas? Wollte er mich mit seiner Frage in die Falle locken? Mutter rätselte, wo nur das Kind den Namen aufgeschnappt haben konnte. Um mich nicht zu verraten, beschloss ich, das Sprechen bis auf weiteres einzustellen. Nichts konnte mich zum Sprechen verleiten, weder ein kindisch bunter Luftballon noch ein klebriger Lutscher, die ich nur bekommen würde, wenn ich das Zauberwörtchen Danke sagte. Beharrlich schwieg ich, bekam Lutscher und Luftballon dennoch. Als ob ich Wert auf diese lächerlichen Kindereien legte.
»Er mag halt nicht sprechen«, sagte Vater, »der Junge ist ein Spätentwickler. Wirst sehen, mit einem einzigen Satz holt er alles auf.«
Vater hielt mich also für einen Spätentwickler. Wie blind Vater war! Überhaupt glaubten die Eltern, ihr stummer Sohn verstünde sie nicht. Ohne Rücksicht auf mich verständigten sie sich untereinander in einem seltsamen Sprachengemisch. Ich war der Spion in der Wiege. Nachts