Es wird wieder Tag. Minka Pradelski

Es wird wieder Tag - Minka Pradelski


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Abend aus voller Leibeskraft zu brüllen, meine Schreistunde. Schreistunde, das gefiel mir. Entzückt über die gewaltige Kraft meiner Stimme, schrie ich, als würde man mich häuten und vierteilen. Kein Schaukeln, kein gutes Zureden half. Helga wusste das. Pünktlich um achtzehn Uhr, wenn meine Schreistunde begann, verließ sie beim ersten schrillen Ton seelenruhig das Kinderzimmer. Es war ein mörderisches, lustvolles Schreien. Ich variierte, für die abgenutzten Ohren der Greise kaum hörbar, die Töne, steigerte sie nach Herzenslust, kreischte ohne Unterlass, schrie mich ins Delirium, bahnte mir brüllend einen Weg wieder hinaus. Die verunsicherte Alte im Zimmer nebenan zuckte verängstigt zusammen, wenn ich, Wände und Türen durchdringend, mit der Lautstärke von mindestens drei cholerisch gewordenen Dreijährigen zu schreien begann. Kaum fing das Gebrüll an, beglückwünschte sie sich, die Säuglingsschwester zu haben. Flaute der Lärm ab, bedauerte sie es wieder, denn Helga hatte inzwischen die Herrschaft im Kinderzimmer an sich gerissen.

      In der Wohnung gab es ein ständiges Kommen und Gehen. Klingeln, Lärm, Fußgetrampel, Geräusche, fremde Stimmen, sogar das Greinen von Säuglingen war zu hören. Aufmerksam lauschte ich. Das sind deine Milchschwesterchen, klärte Helga mich auf. Ich will keine Geschwisterchen, meine Wiege teile ich mit niemandem. Die sind doch viel jünger als du, die armen Würmchen, beschwichtigte Helga, sie bekommen die gleiche Muttermilch, weil ihre Mütter nicht genügend für sie haben. Von mir aus dürfen die kleinen Schmarotzerinnen meine Überbleibsel wegnuckeln, sobald ich, der Senior-Säugling, mich sattgetrunken habe. Aber in meinem Kinderzimmer dulde ich sie nicht.

      Ich horchte gespannt, wenn die Eingangstüre krachend ins Schloss fiel. Staubkörnchen flogen auf, ein Käferlein suchte krabbelnd ein schützendes Versteck, Helgas Stricknadeln hielten mit dem Klappern einen kurzen Augenblick inne, Frauenstimmen im Flur verabschiedeten sich rasch. Ich hatte ein Ohr für die Schritte des Alten, kannte sie genau, sie klangen wie die Schritte eines Eindringlings, störend, penetrant, laut. Der Alte war bei uns zu Hause. Mein Geschrei vertrieb ihn nicht, genauer gesagt, es berührte ihn kaum. Er behauptete steif und fest, das lange anhaltende Schreien stärke die schwachen Lungen seines kleinen Sohnes. Eine Beleidigung! Umpusten würde ich ihn glatt mit der gewaltigen Kraft meiner Stimme, wenn ich nur ein klein wenig größer und kräftiger wäre.

      Wie auf Knopfdruck ebbte mein Geschrei pünktlich um achtzehn Uhr dreißig ab. Resolut öffnete Helga die Türe zum Kinderzimmer und sah mich prüfend an. Ich schenkte ihr ein bezauberndes Lächeln, streckte ihr meine kleinen Arme entgegen und jauchzte vor Wonne, wenn sie mich auf den Arm nahm. Zu unserer beider Freude kitzelte sie mein fein gefälteltes Hälschen, freute sich über mein fröhliches Lachen. Wie hübsch und lustig es klang! Helga lachte ebenfalls. Sie verzog ihren riesigen Mund wie ein Papierschiff. Recht primitiv fand ich ihren Mund, er stachelte mich erneut zum Lachen an. Sie warf mich ein wenig in die Luft, uiii, wie schön das war! Ich zitterte vor Freude! Mein Bärchen, nannte mich ihr lachender schiffförmiger Mund. Sie schnupperte an meiner wohlriechenden Haut.

      »Mein Bärchen«, sagte sie, »du duftest wie Alpenröschen.«

      Königliche Lilien wären mir lieber gewesen, aber vielleicht kannte Helga sich bei Königs nicht aus. Das Spiel des Lachens mochten wir beide, wir hatten so richtig unseren Spaß. Jeder Spaß hat ein Ende. Sie hieß mich ruhig sein, verschloss ihren Mund mit dem gestreckten Zeigefinger, trug mich zum Füttern ins Schlafzimmer der Alten. Treffsicher und mit ungeheurer Geschwindigkeit schnappte ich mir die Brustwarze, umschloss sie samt Warzenhof mit meinem Mündchen, besoff mich an der Milch. Sekundenlang schielte ich unauffällig zu meiner Hebamme, die während der Fütterung kopfschüttelnd neben uns stand.

      »Der Kleine ist ein Genießer, der trinkt wie ein ausgewachsener Kerl«, bemerkte sie schmunzelnd.

      »Ist das gut oder schlecht?«, fragte die Greisin ängstlich und schob mich befremdet von sich.

      »Wie man es nimmt«, antwortete die Hebamme in einem überheblichen Ton.

      Ich beschloss, nicht weiter auf das Gerangel der beiden zu achten, kuschelte mich ein, grapschte mit meinen kleinen rosa Fingern nach der zweiten warmen Brust, trank sie mit einem Zug leer, um die Alte zu beeindrucken. Sie beachtete mich nicht, als sei sie in Gedanken versunken. Hallo! Mal hergeschaut! Hier bin ich, seine Majestät, der Säugling! Dass ihre Milch, die ohne ihr Zutun trinkfertig aus ihrem Körper fließt, mir so gut schmeckt, ist doch ein großes Kompliment! Ruppig stieß ich sie mit meinem Ellenbogen an, langsam senkte sie den Kopf, blickte mich scheu an, da riss Helga mich aus ihren Armen.

      Zwei Monate nach meinem fulminanten Eintritt in die Welt saß ich morgens aufrecht wie ein Buddha in meiner Wiege. Helga rieb sich die Augen, erstarrte vor Ehrfurcht, bekreuzigte sich, versuchte, nachdem sie sich gefangen hatte, mich sachte wie eine Billardkugel anzustoßen. Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen, federte ihren Schubs ungerührt ab. Knappe sechs Wochen später erwischte mich Helga, wie ich nachts voller Tatendrang den schweren, wolkigen Wiegenhimmel öffnete, elegant aus der schaukelnden hölzernen Wiege stieg und kein bisschen tapsig durch die dunkle Wohnung lief. Das langweilige Kriechen und Krabbeln hatte ich wie zwei lästige Schulklassen einfach übersprungen. Helga holte mich ein. Wir liefen Hand in Hand durch die Wohnung, die ich bisher nur schemenhaft kannte. Sie im langen weißen Nachthemd und ich in den von ihr hübsch gestrickten Hemdchen und Söckchen, meine gelbgraue Gummihose über die weiße Baumwollwindel geknöpft. Besonders die Toilette hatte es mir angetan. Helga setzte sich auf die interessante hölzerne Brille und zeigte mir, was sie für einen kleinen und einen großen Wunsch hielt, lehrte mich mit dem lustigen, baumelnden Ding, das sie meinen Piepmatz nannte, umzugehen. Ich ahmte es nach. Helga meinte, ich wäre jetzt sauber, obwohl ich mich zuvor keineswegs schmutzig gefunden hatte. Ich nehme es ihr nicht übel, wir Säuglinge sind eben anders.

      Meine beängstigenden Fortschritte hielt Helga vor den Alten geheim. Sie verschwieg ihnen sogar, dass ich in meinem wunderschönen hellrosa Mündchen schon über etliche beißscharfe elfenbeinfarbene Zähnchen verfügte. Helga war erschrocken, als sie es entdeckte. Dies brachte ihren strikten Fütterungsplan durcheinander. Sie passte sich schnell an, gab mir heimlich feste Nahrung. Wie sehr genoss ich den duftenden Schokoladenbrei, die fettige Haferflockenmilch, die sie in der Küche angeblich nur für sich selbst anrührte. Vor ihr musste ich mich nicht mehr verstellen. Ich weigerte mich, mit dem dummen, aus Gummi gefertigten Beißring zu spielen. Bald stellte ich das wilde abendliche Schreien ein, stürzte mich auf andere Vergnügungen. So zertrümmerte ich mit einem einzigen gezielten festen Faustschlag das klappernde hölzerne Mobile, drei aneinandergereihte Holzpferdchen, dieses Säuglingsfolterinstrument, das über meinem Köpfchen schwebte. Wenn sie nur wüssten, wie uns dieses ohrenbetäubende Geräusch quält! Als ob man mit einem Eisenhammer auf unsere empfindliche zarte Schädeldeckel einschlagen würde! Ich gab Helga zu verstehen, ihre Säuglingsspiele langweilten mich, das stumpfsinnige Kuckuck-Spiel könne sie sich an den Hut stecken! Ich wollte nur wie ein in die Jahre gekommener ältlicher Dreijähriger auf ihrem Bett herumhüpfen. Am liebsten spielte ich Ball mit ihr. Den Ball schoss ich aus meiner Wiege direkt in Helgas Schoß! Tor! Ich bin genial!

      Apropos, was machen meine jungen Kameradinnen aus der Säuglingsstation; wie hilflose Krüppel lagen sie damals in ihren Bettchen. Gerade mal mit Müh und Not die Bauchlage geschafft? Bestenfalls können sie in zwei Monaten auf ihrem windelbepackten Hintern sitzen, unter dem Applaus der gesamten Familie, während ich, das schlaue Kerlchen, schon mit Helga sprach.

      Lustig war es bei uns im Kinderzimmer, obwohl Helga meinte, von einem Kinderzimmer könne, bei Gott – sie schluckte –, keine Rede mehr sein. Ich hätte, sagte sie, einen klugen Kopf, wie ein kleiner Professor. Wissbegierig sog ich Worte in mich hinein. Ich sehnte mich nach komplizierten Wörtern, die ich wie ein Spielzeug zerlegen könnte. Stattdessen lehrte sie mich fromme Abendgebete, versuchte, mich mit ihren Wiegenliedern zu besänftigen. Für kurze Zeit kehrte Ruhe ein, dann nahm ich Witterung auf, Helga wusste weitaus mehr. Her damit! Seufzend legte Helga ihr Strickzeug weg und brachte mir bei, was sie an Wissen in sich barg. Nach kurzer Übung sprach ich die wenigen lateinischen Ausdrücke, die sie aus ihrem Arbeitsleben kannte, fehlerlos nach. Ich wollte mehr, sprühte Funken wie ein trockener Ast im Feuer. Helga weihte mich in die Funktionen des weiblichen Leibes ein. Hatte ich mir ihr Wissen einverleibt, steigerte sich meine Gier. Wie ein Raubvogel hockte ich auf Helga und pickte die Worte aus ihrem Kopf. So leicht gab Helga sich


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