Es wird wieder Tag. Minka Pradelski

Es wird wieder Tag - Minka Pradelski


Скачать книгу
Amerikaner! Gerechtigkeit! Das ist es, was ich will. Die Amerikaner sollen sie aufhängen! Hinter eiserne Gitter mit ihr. Vor Gericht stehen bei den Amerikanern soll sie. Gerechtigkeit!«

      Was war das für ein Wort, an das Mutter sich so klammerte? Wie ein Äffchen an einen rettenden Ast? Gerechtigkeit. Seltsam. Ein gewaltiges, kraftstrotzendes Wort. Die Runde schwieg, als habe Mutter einen Nerv getroffen, der allen Menschen innewohnt, auch so unterschiedlichen wie Adam und Vater. Gerechtigkeit! Kindgerecht, artgerecht? Wenn wir gerade davon sprechen, ist es kindgerecht, das eigene Kind so zu vernachlässigen?

      »Gerechtigkeit für diese Mörder, diese Verbrecher?«, schleuderte Vater ihr entgegen.

      »Ohne Gerechtigkeit will ich nicht leben!«, schrie Mutter.

      Mutter besprach sich mit Martha, stand taumelnd auf, sie hielt sich mit der Linken an Martha fest, die andere Hand zitterte. Am liebsten wäre ich hinzugesprungen, um ihr zu helfen. Mit brüchiger Stimme sagte sie: »Martha und ich haben Liliputs Kommando überlebt. Wir bestimmen, was mit ihr geschieht. Sie kommt vor Gericht. Ich glaube an die Justiz. Sie werden sie zum Tode verurteilen.«

      Am nächsten Morgen blickte Vater besorgt auf Mutters Teller. Sie hatte ihr Frühstück kaum angerührt, nur an einer Tasse Tee genippt.

      »Nun iss. Wenigstens ein halbes Hörnchen«, bat er.

      Mutter schüttelte den Kopf.

      »Klara«, sagte er laut und hob den Brotkorb in die Höhe, »wenn wir hinterfragen, wo unser Bäcker ein paar Monate zuvor als Soldat gewütet hat, verhungern wir am gedeckten Tisch!«

      Mutter schwieg.

      »Du hast doch deinen Willen. Wir zerren sie vor Gericht. Nun ist aber gut«, sagte Vater beschwichtigend.

      Heile, heile Gänschen. Aber es wurde nicht wieder gut. Mutter aß auch an den folgenden Tagen wie ein Suppenkasper. Am dritten Morgen griff ich mit meinen Händchen nach den Essenshäufchen auf ihrem Teller, stopfte sie in mich hinein, damit ihr Teller wie gewohnt ordentlich und leer aussah. Mutter bemerkte es nicht. Sie sah der Fliege nach, die an einem angebissenen Apfelstückchen knabberte, ohne sie zu verjagen. Überhaupt war Mutter anders. Sie holte sich blaue Flecken an Tisch- und Bettkanten, ließ Teller, die sie zum Abtrocknen in der Hand hielt, plötzlich fallen, verbrannte sich beim Kochen am Herd, trug einen großen, nässenden Verband am linken Handgelenk. Mutter war nicht mehr heile.

      Fünf Tage später, als Vater in aller Frühe das Haus verließ, um ein großes Gitter für unsere Eingangstür zu besorgen – Mutter hatte auf ein eisernes Gitter zum Schutz gegen die Mörder bestanden –, blieben am Morgen die vertrauten Geräusche aus. Ich horchte angestrengt, aus dem Schlafzimmer drang kein Laut. Ich wagte kaum zu atmen, als sich die Schlafzimmertüre endlich öffnete. Mutter kam herein, blickte mich nicht an, setzte mich wortlos in den Sportwagen, schob mich in die Küche, schnallte mich an, setzte sich auf einen Stuhl und blieb wie festgenäht sitzen. Ab und an tastete ihre ausgestreckte Hand nach mir, als wolle sie sich vergewissern, dass ich lebe. Ich hätte mich spielend aus dem Ledergeschirr des Kinderwagens befreien können, aber ich wagte nicht, mich zu rühren, und blieb unter entsetzlichen Kinderqualen neben ihr sitzen.

      Gegen Mittag erhob sich Mutter, band mir ein Lätzchen um, schnitt ein Stück Brot ab, ließ es fahrig auf dem Tisch liegen. Ich hätte vor Hungergeschrei ganze Wände zum Einsturz bringen können, zügelte mich mit all meiner Kraft. Mutter aß nichts, trank nichts, stierte vor sich hin. Wegen mir war sie so niedergeschlagen. Weil ich der Teufelin trotz ihres strikten Verbots ins Gesicht geguckt hatte! Deswegen war Mutter so verändert! Mein Glanz erlosch. Meine Herrlichkeit war dahin. Fort. Verschwunden. Ich war Krabeiski. Ich war böse.

      Nie hätte ich gedacht, dass ich Vaters Rückkehr so herbeisehnen würde. Endlich hörte ich den Schlüssel in der Tür. Ich wimmerte, um auf mich aufmerksam zu machen. Er hatte nur Augen für sie. Wie abwesend hielt er mir die abgeschnittene Scheibe Brot in den Sportwagen. Ich grapschte danach, stopfte mir so viel ich konnte in den Mund, verschluckte mich, japste hilflos nach Luft. Die beiden beachteten mich nicht. Ich hätte vor ihren Augen ersticken können! Zum Glück fing ich mich wieder, aß hicksend den Rest Brot, den ich in meiner Faust versteckt hielt. Auch mein quälender Schluckauf bekümmerte sie nicht.

      »Klara!«, rief er. »So kann das nicht weitergehen!«

      Regungslos saß Mutter da, sah ihn nicht an.

      »Am Nachmittag noch im Nachthemd. Ungekämmt. Kein Essen auf dem Herd. Der Kleine hungrig im Sportwagen, stinkende Windeln!«

      Mutter antwortete nicht.

      »Ich war bei den Amerikanern. Habe sie angezeigt.«

      Vater wischte Mutters pitschnasse Wangen mit einem Geschirrtuch trocken.

      »Klara«, sagte er eindringlich, »sie werden sie finden. Jetzt komm zu dir. Sei stark.«

      Mutter rührte sich nicht, saß da wie eine riesige Holzpuppe.

      »Klara«, sanft strich er ihr über den Kopf, »hörst du mich? Bitte, Klara, bitte, komm zu dir.«

      Hatte Mutter ihre Ohren verloren?

      »Du bist eine Kämpferin. Du hast so viele Gefahren überlebt, wirst doch nicht an einer einzigen Begegnung mit dieser SS-Mörderin zugrunde gehen!«

      Er kniete vor ihr, suchte ihren Blick.

      »Ich flehe dich an, Klara, lass mich nicht alleine mit dem Kind.«

      Mutter saß da, unbeweglich wie ein Tisch.

      Vater verlor die Geduld, packte sie an den Armen, riss sie hoch, schüttelte sie, als wolle er sie wach rütteln.

      »Komm zurück, Klara!«

      Sie sackte wieder auf den Stuhl.

      Schweißperlen traten ihm auf die Stirn: »Pass auf, Klara«, stieß er hervor, »komm zu dir, oder ich nehme dir das Kind weg!«

      Mutter zuckte zusammen. Ich hielt entsetzt den Atem an. Mein Schluckauf war verschwunden.

      »Ja! Du hast dich nicht verhört! Ich nehme dir das Kind fort. Gebe es zu Martha in Obhut. Sie wird sich um Bärel kümmern und ihn wie einen eigenen Sohn aufziehen.«

      »Nein!«, schrie Mutter auf. »Er bleibt hier!«

      »Dann sei dem Kind eine Mutter!«

      Vater riss die Küchenschublade auf, zog mehrere Bogen Papier heraus, warf sie auf den Tisch. Sauberes, unbeschriebenes, dünnes Papier, Luftpostpapier. Für mich? Zum Malen? Krachend rückte er Mutters Stuhl an den Tisch, presste ihr einen Bleistift in die Hand, umklammerte eisern ihre Finger, damit sie ihn nicht losließ.

      »Schreibe, Klara, schreibe. Bann das Böse auf das Papier! Fessele es mit deinen Worten! Verpass Liliput den Todesstoß!«

      »Was willst du von mir? Ich kann nicht mehr schreiben. Habe das verlernt. Dass ich auf der Schule war, ist schon so lange her.«

      »Buchstabieren kannst du«, sagte er streng. »Schreibe, ich befehle es dir! Schreib dich gesund für dein Kind, wenn du es behalten willst! Kämpfe um jeden Satz! Sobald du den Stift aufsetzt, wird sich das Blatt füllen!«

      Vaters herrischer Ton gefiel mir. Wenn Not am Mann war, kehrte er den Mächtigen raus, das imponierte mir. Mutter drehte gehorsam den Bleistift zwischen ihren Fingern: »Das Kind bleibt!«, flüsterte sie.

      Ihre Augen wanderten vom Papier zu mir und wieder zurück. Eine endlos lange Weile für mein ausgeprägt feines Gefühl. Flecken, rot wie Marmeladenkleckse, verfärbten ihren Hals. Mutters Hand fuhr sanft über das dünne Blatt, als spürte sie schon die freischwebenden Buchstaben. Sie sprang auf, schnallte mich los, zog mich aus dem Sportwagen, nahm mich auf ihren Schoß, drückte mich an sich, dass ich ihr Herz pochen hörte.

      »Du bleibst bei mir«, flüsterte sie.

      Zart strich sie über mein Ärmchen, als wolle sie die Rundung meiner Armbeuge erkunden. Ihre Finger berührten mein vorgewölbtes Bäuchlein, als spürte sie es zum ersten Mal. Ich


Скачать книгу