Vergewaltigung. Mithu M. Sanyal

Vergewaltigung - Mithu M. Sanyal


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von 1871, der bis auf das überflüssige ›th‹ in das deutsche Strafgesetzbuch übernommen wurde. De jure und in der allgemeinen Auffassung konnten demnach

      – nur Frauen vergewaltigt werden und

      – nur Männer Vergewaltiger sein,

      – wenn es dabei zum Beischlaf kam, das bedeutete, zur Penetration,

      – was aber nur außerhalb der Ehe als Problem angesehen wurde.

      Die gefeierte Strafgesetzänderung von 1997 erkannte die Existenz der Vergewaltigung in der Ehe an, stellte nicht nur Penetration, sondern auch »ähnliche sexuelle Handlungen« unter Strafe und machte aus einer »Frauensperson« eine »Person«. Damit wurden zum ersten Mal auch Männer als Opfer von sexualisierter Gewalt denkbar. Wenn auch ziemlich schwer denkbar. In England wurde der Sexual Offences Act erst 2003 dahingehend geändert, so dass nun auch cis Männer und trans Personen vergewaltigt werden können. Südafrika folgte 2007, Schottland 2009, China 2015 …20 Dagegen bedarf es in der Schweiz nach wie vor eines Penis, um »eine Person weiblichen Geschlechts zur Duldung des Beischlafs«21 zu nötigen, sonst ist eine Vergewaltigung keine Vergewaltigung.22

      Doch auch die vermeintlich geschlechtsneutrale Formulierung des Sexual Offences Act in England in Bezug auf die Opfer verlangt als Voraussetzung dafür, eine Person als Täter wahrzunehmen, noch immer einen Penis. Kein Penis = kein Vergewaltiger. Das ist nicht etwa ein anachronistisches Überbleibsel aus dem alten Gesetzestext, sondern das Ergebnis einer im Home Office geführten Debatte, nach der Vergewaltigung »so wie sie allgemein verstanden wird«23 nur durch die erzwungene Penetration mit einem Penis (sic!) gegeben sei. Zwar wurde zu den vergewaltigbaren Körperöffnungen – Vagina und Anus – nun noch der Mund gezählt, denn dies sei »ebenso schrecklich, erniedrigend und traumatisierend wie andere Formen der erzwungenen Penetration durch einen Penis«. Eine entsprechende sexuelle Grenzüberschreitung durch eine cis Frau ist dagegen anscheinend nicht »schrecklich, erniedrigend« oder »traumatisierend« genug – vor allem, wenn das Opfer ein Mann ist. »Die Straftat der Penetration durch einen Penis ist ein besonders intimes Vergehen«, erklärte das Home Office, da es »das Risiko von Schwangerschaft und der Übertragung sexueller Krankheiten beinhaltet«24. Allerdings dürfte es schwierig sein, durch erzwungene Fellatio schwanger zu werden, und Geschlechtskrankheiten können genauso gut durch Frauen übertragen werden. Doch hält sich die Vorstellung, dass der weibliche Körper besonders verletzlich ist – genauer gesagt: besonders verletzlich durch sexuelle Handlungen –, aber umgekehrt selbst eine geringere Macht besitzt zu verletzen, hartnäckig. Nicht nur in der englischen Gesetzgebung. So ist in Deutschland zwar die öffentliche Entblößung des männlichen Körpers als Exhibitionismus strafbar, nicht aber die des weiblichen Körpers – und andere Körper kennt der Gesetzestext nicht.25

      »Vergewaltigung ist eine ›essenziell umkämpfte Kategorie‹, durch und durch aufgeladen mit politischen Bedeutungen«26, konstatiert die Historikerin Joanna Bourke. All das bedeutet nicht, dass Männer die eigentlichen Opfer wären, sondern dass Vergewaltigung das gegenderteste Verbrechen überhaupt ist. Und damit nicht genug, auch das Verbrechen, das uns am meisten gendert. Denn die Art, wie wir über Vergewaltigung denken, steht in einem erschütternden Verhältnis zu der Art, wie wir über Sex denken, und damit sind in diesem Fall Sexualität und Geschlecht gleichermaßen gemeint.

      Was verrät es uns aber über unsere Kultur, dass es uns so schwerfällt, über Vergewaltigung anders zu sprechen als über ein Verbrechen, das Männer Frauen antun, obwohl das nicht die ganze Geschichte ist? Nachdem Genitalien und Chromosomen und Hormone nicht mehr ausreichen, um Geschlecht eindeutig zu bestimmen, und eine Studie der Universität von Tel Aviv nun auch mit dem Mythos vom männlichen versus weiblichen Gehirn aufgeräumt hat (anscheinend haben wir alle menschliche Gehirne)27 – wäre es doch überaus verwunderlich, wenn sich jetzt herausstellte, dass der wahre Geschlechterunterschied in einer Disposition zu sexueller Gewalt begründet liegt.

       Sexing the Difference I: Nein heißt ja!

      Zur Ehrenrettung der Parole »Nein heißt nein« muss man erwähnen, dass Nein lange Zeit natürlich nicht Nein hieß, sondern schlicht Ich bin weiblich. Männliche Gewalt und weibliches Sträuben waren ein integraler Teil der Konstruktion von »normaler« Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert. »Ist [ein Weib] geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes«28, bezeugte der Begründer der Sexualwissenschaft Richard von Krafft-Ebing und erklärte sich das so: »Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.«29 Da Frauen vermeintlich kein eigenes sexuelles Begehren hatten, war es die Aufgabe des galanten Mannes, sie zu überwältigen. Und die Frauen – die zwar nicht selber wollten, aber doch wollten, dass er wollte – stachelten ihrerseits den sexuellen Drang des Mannes durch ihre scheinbare Abwehr an, wie der Jurist Max Thal in seiner Streitschrift gegen »die sexuelle Doppelmoral« aufklärte: »(M)anch eine stammelt noch ein abwehrendes, rührend tiefes: ›Nicht doch!‹, wenn schon alles vorüber ist.«30

      Damit hatte Thal die Tradition auf seiner Seite. So schrieb bereits der römische Dichter Ovid in seiner Liebeskunst: »Vielleicht wird sie zuerst dagegen ankämpfen und Unverschämter! sagen; sie wird aber im Kampf besiegt werden wollen.«31 Überhaupt geht die Idee des feurigen Mannes und der frigiden Frau auf die klassische Antike zurück,32 auf Aristoteles, der von einer größeren inneren Hitze des Mannes ausging – wortwörtlich. Das Fehlen dieses inneren Feuers führe dazu, dass die Frau in einem Stadium der Unfertigkeit verbliebe, was ihre physische, intellektuelle, aber vor allem sexuelle Potenz anginge. Schließlich sei sie noch nicht einmal in der Lage, ihre Menstruationsflüssigkeit zu kochen und damit zu Samen zu machen!33

      Nachdem medizinische Erkenntnisse die Existenz eines realen Temperaturunterschieds ad absurdum geführt hatten, musste ein anderes Modell herhalten, um den imaginierten Temperamentunterschied zwischen den Geschlechtern zu erklären. Das vom Darwinismus geprägte 19. Jahrhundert fand dies in der Geschlechterordnung der Urgeschichte – nicht in der tatsächlichen Urgeschichte wohlgemerkt, sondern in einer Flintstones-Version der bürgerlichen Gesellschaft.34 Der Sexualforscher Havelock Ellis führte aus: »Die Zurückhaltung des Weibes – die in ihrer ursprünglichen Form als körperlicher, aktiver oder passiver, Widerstand gegen die Angriffe des Mannes sich darstellt – hat die Auslese gefördert, indem sie die wichtigste Eigenschaft des Mannes, Stärke, auf die Probe stellt. So kommt es, dass das Weib bei der Wahl unter Männern, die um ihre Gunst wetteifern, der Kraft den Vorzug gibt. Im Kampfe ums Dasein ist Gewalttätigkeit die erste Tugend.«35

      Die sexuelle Selektion war Charles Darwins große Neuerung, und sie gestand Frauen in gewisser Form eine größere Rolle in der Fortpflanzung zu: War sie vorher komplett passiv, konnte sie jetzt auswählen, von welchem Mann sie überwältigt wurde. In Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl schrieb Darwin: »[Das Weibchen] ist spröde, und man kann oft sehen, dass es eine Zeit lang den Versuch macht, dem Männchen zu entrinnen […] Das Ausüben einer gewissen Wahl von Seiten des Weibchens scheint ein fast so allgemeines Gesetz wie die Begierde des Männchens zu sein.«36 Diese Wahl beinhaltete jedoch nicht, dass Frauen selbst nach Sexualpartnern suchten, ein solches Verhalten sei wesensfremd und würde sie für die virilen Männer unattraktiv machen.37 Wo für Männer das Überleben des Stärksten galt, schien es für Frauen das Überleben der Schwächsten und Passivsten zu sein. Wie bereits Susan Sontag bemerkte: »In unserer Kultur [ist] alles, was mit der Sexualität zusammenhängt, zu einem ›besonderen Fall‹ geworden – ein Vorgang, der zu merkwürdig widersprüchlichen Verhaltensweisen führte.«38

      Die Überzeugung von der Frigidität der Frau und der heißen Begierde des Mannes durchdrang noch bis ins 20. Jahrhundert alle Bereiche: allgemeine Rollenvorstellungen, Kommunikation, gelebte und imaginierte Sexualität, so dass eine Frau, die einen Mann nicht


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