Vergewaltigung. Mithu M. Sanyal
keine bemerkenswerten Verbrechen begingen. Cesare Lombroso, der Vater der Kriminologie, ging davon aus: »Wegen ihrer geringeren kortikalen Erregbarkeit haben Frauen allerdings auch weniger das Bedürfnis [nach dem Laster], das beim Manne immer stärker wird, je mehr seine Intelligenz wächst, und außerdem bildet der weibliche Misoneismus, der Respekt vor den einmal herrschenden Sitten, einen Zügel.«71
Besonders schwer war es, sich Frauen als Täterinnen vorzustellen, wenn es um Sexualverbrechen ging72 – mit Ausnahme der Prostitution. Willem Adriaan Bonger, der kurz darauf der erste Professor für Soziologie und Kriminologie in den Niederlanden werden sollte, schrieb 1916: »… die Rolle der Frau im Sexualleben (und damit auch bei Sexualverbrechen) ist eher passiv als aktiv.«73 Darüber hinaus ging man sowieso davon aus, dass Frauen gar nicht vergewaltigen mussten, weil sie jederzeit Sexualpartner finden konnten, da Männer in dieser Hinsicht nicht wählerisch seien. »Während ein Übermaß an Leidenschaft beim Mann, wenn er nicht in die angemessene Bahn geleitet wird, zu sexuellen Übergriffen und Perversionen führt«, brachte es die Sozialreformerin Frances Alice Kellor auf den Punkt, »kulminiert dieselbe bei Frauen am häufigsten in Geisteskrankheit oder physischem Siechtum.«74
Wo Männer vergewaltigen, werden Frauen halt verrückt.
Diedrich Diederichsen prägte den Satz: »Wahres Spießertum erkennt man an der Verve, mit der es auf längst überkommene Tabus eindrischt.«75 Nun ist es natürlich einfach, sich über veraltete Geschlechtervorstellungen lustig zu machen. Doch wenn wir über Vergewaltigung sprechen, hallen dabei stets die Echos vergangener Diskurse mit. Ein großer Teil unseres »Wissens über Vergewaltigung« basiert auf Menschenbildern, die uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen würden, wenn sie uns denn bewusst wären. Da das aber nicht der Fall ist, haben die daraus resultierenden Haltungen eine weitaus durchdringendere Wirkung und Nachwirkung, als sie hätten, wenn wir um ihre Genese wüssten. »Geschichten prägen uns, auch die miesen und sogar die, die absichtlich simplifizieren und unsere Alltagserfahrungen ausblenden. Über Geschichten organisieren wir unser Leben […] und diese Geschichten formen dann unsere Sehnsüchte und unsere Identität.«76 Das beginnt mit der Sprache. Sex wird als etwas beschrieben, das Männer Frauen geben – oder ihnen antun. Worte wie Koitus, Penetration – und ficken – drehen sich um den Penis und vermitteln, was er und seine Substitute – wie Dildos oder Finger – machen, so als würden sich die Körperöffnungen, die penetriert werden, nicht an dem Geschehen beteiligen. Nun gibt es selbstverständlich zahllose andere sexuelle Handlungen, die auch eine größere sprachliche Aufmerksamkeit verdienen. Doch ist Penetration die offensichtlichste linguistische Scheuklappe. Deswegen schlägt die Autorin Bini Adamczak als Gegenbegriff Circlusion77 vor, eingedeutscht Zirklusion, altmodisch auch Circumclusion: »Beide Worte bezeichnen etwa denselben materiellen Prozess. Aber aus entgegengesetzter Perspektive. Penetration bedeutet einführen oder reinstecken. Circlusion: umschließen oder überstülpen. That’s it. Damit ist aber auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität verkehrt.« Dieser Neologismus sollte sich ohne größere Probleme einführen lassen, führt Adamczak aus: »Circlusion ist ohnehin bereits häufiger in der Alltagserfahrung. Denken wir an das Netz, das Fische fängt, den Gaumen, der die Nahrung umschließt, den Nussknacker, der Nüsse zermalmt. […] Circlusion ermöglicht so, eine Erfahrung auszusprechen, die wir schon lange machen.«78 Und damit nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken zu verändern.
Mit einem Konzept wie Circlusion als einer der treibenden Kräfte hinter Sexualität würden sich Klassiker wie Donald Symons The Evolution of Human Sexuality – das Thornhill und Palmer als Inspirationsquelle für ihre Natural History of Rape anführen – merkwürdig anhören: »Auf der ganzen Welt sind es vordringlich die Männer, die um die Gunst der Frauen werben, sie umgarnen, anmachen und verführen … Männer machen Frauen Geschenke, um mit ihnen schlafen zu können, und nehmen die Dienste von Prostituierten in Anspruch.« Vergewaltigung erklärt er als Nebenprodukt »der größeren männlichen Erregung, des größeren autonomen Sexdrives, geringerer Fähigkeit sich sexueller Aktivitäten zu enthalten, viel größerer Lust auf Sexualität per se und größerer Bereitschaft zu Sex ohne Liebe, und nicht wählerisch in Bezug auf ihre Sexualpartner zu sein«79. Mit einem Wort, als Nebenprodukt der Penetration. Kein Wunder also, dass es bis 1997 eines Penis bedurfte, um laut Strafgesetzbuch zu vergewaltigen.
Ohne den Hinweis auf Vergewaltigung läge das allerdings noch immer im Mainstream der populären Meinungen. Wenn man die Stichworte Männer und Frauen und Sex in eine Aphorismen-Suchmaschine eingibt, erhält man geflügelte Worte wie: »Männer reden mit Frauen, um mit ihnen schlafen zu können. Frauen schlafen mit Männern, um mit ihnen reden zu können.« (Jay McInerney) Bestseller wie Das weibliche Gehirn behaupten, dass Frauen pro Tag 13.000 Worte mehr als Männer benutzen müssten, während Männer nur eines wollten. Was, ist ja klar. Die Autorin Louann Brizindine führt weder aus, wie sie auf die doch recht konkrete Zahl von 13.000 kommt, noch was mit Frauen passiert, die ihr Pensum nicht erfüllen. Wahrscheinlich explodieren sie und fallen damit aus der Statistik. Das ist sozusagen das Dampfkesselmodell in Bezug auf Sprache.
2010 machte der britische Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry – der in England als Nationalerbe gilt, so wie die Kronjuwelen und Stonehenge – Schlagzeilen, als er in einem Interview mit dem Magazin Attitude erklärte: »Frauen interessieren sich nicht wirklich für Sex. Das ist nur der Preis, den sie für eine Beziehung bezahlen.«80
Zwar hatte er das so nie gesagt, trotzdem wurde die Debatte begeistert von allen Medien aufgegriffen. »Die Wissenschaft von Frauen und Sex: Hat Stephen Fry doch Recht?«, titelte der Independent und griff für seinen Artikel wieder auf Darwin zurück, um anhand der Evolutionstheorie zu erklären, warum Männer ständig wollen und Frauen ständig nicht wollen: »Männer liegen, was ihre Neigung zu Promiskuität angeht, zwischen Gorillas und Schimpansen. Wir können das an der relativen Größe der Hoden erkennen: Erst Gorillas (ein wenig sexuell freizügig, kleine Hoden), dann Männer und schließlich Schimpansen (sehr freizügig, sehr große Hoden).«81 Und an der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes?
Laut Populär-Primatologie seien schon Affenweibchen schüchtern und sexuell zurückhaltend. Bloß lässt sich das nicht belegen, ganz im Gegenteil. So nennt die Anthropologin Meredith Small eine ganze Reihe von Affenarten, bei denen das Weibchen auf das Männchen zugeht, ihre Genitalien in sein Gesicht drückt und auf unzählige weitere Arten Sex initiiert.82 Pavianweibchen bespringen offensichtlich mit größtem Vergnügen ein Männchen nach dem anderen. Und weibliche Bonobos sind nicht nur während ihres gesamten Zyklus sexuell aktiv, sie sind auch diejenigen, die die männlichen Bonobos anführen – was den Ethnologen Frans B. M. de Waal zu der Spekulation über die Evolutionstheorie anregte: »Was wäre gewesen, wenn die Forschung mit den Bonobos begonnen hätte? Wir würden heute aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausgehen, dass frühe Hominide in frauenzentrierten Gesellschaften gelebt haben, in denen Sex wichtige soziale Funktionen erfüllte.«83
Trotzdem ist die Tatsache, dass Frauen nicht primär durch Schokolade und Liebeserklärungen und Babys sexuell erregt werden,84 wohl so überraschend, dass sie immer wieder mit wissenschaftlichen Experimenten bewiesen werden muss. Bis vor kurzem wurden Daten mit dem bewährten Mittel des Fragebogens erhoben. Proband*innen bekamen Bilder oder Filme zu sehen und kreuzten an, was sie ansprach. Wenig überraschend kam dabei genau das heraus, was erwartet wurde: Männer reagierten mehr oder minder stark auf visuelle Reize wie Brüste oder andere Geschlechtsteile, während Frauen nicht durch sexuelle Stimuli erregt wurden, sondern durch emotionale. Bei anonymen Befragungen fielen die Ergebnisse etwas anders aus, aber grundsätzlich schienen Menschen, wenn es um Sex ging, in erster Linie eines zu tun: zu lügen.
Oder sich selbst anzulügen. Oder nicht mitzubekommen, wie ihre Körper reagierten. Deshalb maß J. Michael Bailey, Professor für Psychologie an der Northwestern University in Illinois, 2002 in einer groß angelegten Studie die Reaktionen auf Bilder mit sexuellem Inhalt direkt an den Genitalien.85 In der Gruppe der männlichen Testpersonen wurden heterosexuelle Männer laut Selbstauskunft am meisten durch Pornos mit heterosexuellem Sex erregt, gefolgt von lesbischem und schließlich schwulem Sex. Bei homosexuellen Männern war es umgekehrt. Auch in der Gruppe