Vergewaltigung. Mithu M. Sanyal
die Nase. Man muss es folglich schützen, es umgeben, auf jeden Fall mit einer Gesetzgebung ausstatten, die nicht die sein wird, welche für den Rest des Körpers gilt.«115 Obwohl Foucault mit seiner Aussage, Vergewaltigung sei »nicht mehr und nichts anderes als eine Aggression«116, sozusagen Brownmiller paraphrasierte, gab es keine Hurra-Rufe, sondern deutliche Kritik von den anwesenden Frauen und in der Folge von zahlreichen feministischen Theoretikerinnen, er würde Vergewaltigung banalisieren.117
Das lag daran, dass Foucault und Brownmiller über komplett unterschiedliche Aspekte der komplexen Verstrickung, die Vergewaltigung ist, gesprochen hatten. Während er – aus der Sicht des (männlich imaginierten) Täters – versuchte, die Macht des Sexualitätsdiskurses (als Instrument der sozialen und politischen Kontrolle) zu verringern, wollte sie – und mit ihr die zweite Welle der Frauenbewegung – Vergewaltigungsopfer von der Mitschuld an dem an ihnen begangenen Verbrechen exkulpieren, außerdem sollte es durch die Neudefinition von Vergewaltigungen für Frauen leichter werden, (vor Gericht) darüber zu sprechen, ohne sofort sexualisiert zu werden.
Die Verheerungen, die sexualisierte Gewalt anrichtete, sollten jedoch keineswegs relativiert werden. Und wo die Motivation des Vergewaltigers Gewalt und nichts als Gewalt war, unterschieden sich die Auswirkungen der Vergewaltigung auf das Opfer radikal von denen sonstiger Gewalt, da das Ziel nicht der Körper ist, sondern sein Selbstbestimmungsrecht über eben jenen Körper – was sich nach einer marginalen Unterscheidung anhört, bis man bedenkt, dass die (physische, psychische und legale) Selbstbestimmung – versus die Fremdbestimmung durch einen Mann – ja das Ziel der Emanzipation war. Die Autorin Susan Griffin erklärt: »[Vergewaltigung ist] ein Akt der Aggression, bei dem dem Opfer seine Entscheidungsfreiheit genommen wird. Es ist eine gewaltsame Tat, die auch, wenn das Opfer nicht zusammengeschlagen oder ermordet wird, in ihrem Kern stets eine Morddrohung beinhaltet.«118
Da der Anti-Rape-Aktivismus mit der Hochzeit der Massenmedien einherging und die Vereinigten Staaten die Hauptexporteure für politische und kulturelle Produkte in die westliche Welt waren, wurden die Theorien und Bücher der amerikanischen Frauenbewegung international extensiv rezipiert. Die deutsche Übersetzung von Gegen unseren Willen erschien im selben Jahr wie das amerikanische Original. Kurz darauf folgte Marilyn Frenchs bekanntester Roman The Women’s Room – auf Deutsch schlicht Frauen. Darin griff die Autorin Virginia Woolfs berühmtes Gleichnis von Shakespeares Schwester auf. Doch während bei Woolf die hypothetische Schwester des Schriftstellers daran scheiterte, dass sie keine Ausbildung, keine Arbeit und keine Möglichkeit bekam, sich im öffentlichen Raum Inspirationen zu suchen, wurde sie bei French vergewaltigt, stellte fest, dass sie schwanger war und heiratete den nächstbesten Mann, um ihr Kind zu ernähren. French schloss: »Shakespeares Schwester hatte die Lektion gelernt, die alle Frauen lernen: Männer sind der ärgste Feind.«119
Ein Großteil der Feministinnen grenzte sich vehement von diesem ebenso wie von dem am häufigsten zitierten Satz des Buches ab: »In ihren Beziehungen zu Frauen sind alle Männer Vergewaltiger und nichts anderes.«120 Dagegen wurde die These von Vergewaltigung als einem der Hauptpfeiler des Patriarchats grundsätzlich übernommen, weshalb die Erfahrung von sexueller Gewalt in zahlreichen Texten der 1970er und 80er121 Jahre eine essenzielle Rolle spielte. Die Amerikanistin Maria Lauret nennt diese Romane »feministische Fiktion der Subjektwerdung« oder expliziter: Geschichten darüber, »wie ich zur Feministin wurde«122.
Trauma Cinema
Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass das erste Strafverfahren, das jemals live im US-amerikanischen Fernsehen übertragen wurde – und zwar über Monate hinweg täglich auf CNN – ein Vergewaltigungsprozess war. Der berühmteste Fall der 1980er Jahre: Big Dan’s Rape Case. Wobei es sich bei dem »großen Dan« nicht um eine euphemistische Beschreibung des Täters handelte, sondern um eine Kneipe in New Bedford, Massachusetts. Dort wurde am 6. März 1983 eine Frau123 von einer Gruppe Männer auf dem Billardtisch vergewaltigt, während die anderen Kneipenbesucher zuschauten und die Täter anfeuerten. Dieses außerordentliche Fehlen von Mitgefühl erschütterte die Öffentlichkeit, die sich nahezu geschlossen hinter das Opfer stellte. Big Dan’s Rape Case gilt als Triumph des Feminismus, weil es das erste Gerichtsverfahren in einem Vergewaltigungsfall war, das sich explizit auf Argumente der Frauenbewegung bezog: So war die Jury bestürzt über die Versuche der Verteidigung, das Opfer mit Verweisen auf dessen sexuelle Vergangenheit zu diskreditieren;124 und als die Täter zu Höchststrafen verurteilt wurden, jubelte die Presse, endlich hätten auch Richter eingesehen, dass eine Frau keine Jungfrau sein müsse, um das Recht zu haben, nicht vergewaltigt zu werden.125
Dabei sah die Realität anders aus. Die Publizistin Helen Benedict kritisiert die einseitige Bewertung des Falles in ihrem Buch Virgin or Vamp. How the Press Covers Sex Crimes und betont: »Sie sollte im Gegenteil als das am schlechtesten behandelte Vergewaltigungsopfer der Dekade in die Annalen der Geschichte eingehen.«126 Der Hintergrund war, dass zwar vier der sechs Vergewaltiger verurteilt wurden, das Gesetz aber keine Handhabe gegen die grölenden Zuschauer hatte, die in den Augen der Öffentlichkeit noch »schuldiger« waren als die Täter selbst, so dass die Berichterstattung rasch rassistische Züge annahm. Nachdem sowohl Opfer als auch Täter und Zuschauer zu Beginn in den Medienberichten durch ihre Namen identifiziert worden waren, verwandelten sich die Männer bald in »portugiesische Immigranten aus der Arbeiterklasse«, im Gegensatz zu der Frau, die als »Mutter zweier Kinder« nicht durch ihre Herkunft markiert wurde, obwohl sie die sogenannten »Wurzeln« ebenso wie den sozialen Hintergrund ihrer Angreifer teilte.127 Die Aussage war klar: Die Anderen hatten das Verbrechen begangen und – noch weitaus schlimmer – es im Akt des Beobachtens autorisiert. »Tiefliegende rassistischsexuelle Ängste Kriminellen und anderen Außenseitern in den Mund zu legen, erfüllt seinen Zweck für das weiße Amerika, weil es ihm erlaubt, diese Haltungen auszusprechen, ohne sie eingestehen zu müssen«128, kommentierte der Medien- und Kulturwissenschaftler John Fiske. Schlagworte wie »Clash der Kulturen« fielen – als würden nur portugiesisch sozialisierte Personen vergewaltigen –, und es dauerte nicht lange, bis die Telefone der lokalen Radiosender schrillten und aufgebrachte Anrufer forderten, alle Portugiesen sollten »nach Europa zurückgeschickt«129 werden.
Die Angriffe waren so massiv, dass sich die portugiesische Community von New Bedford rasch fühlte, als wäre sie und nicht die Frau vergewaltigt worden.130 Verschärfend kam hinzu, dass die ehemalige Walfang-131 und Holzschiffbaumetropole eine Stadt im Niedergang war und das Verbrechen zur Metapher für die wirtschaftliche und soziale Zerstörung der Stadt wurde. In Schlagzeilen wie »Eine Stadt und ihr Leid« und »Das Verbrechen, das eine Stadt befleckte« verwandelte sich der Körper der vergewaltigten Frau in den Körper der Stadt. John Bullard, der spätere Bürgermeister New Bedfords, führte aus: »Es verletzt uns mehr, als es andere Städte schmerzen würde. Es ist ein weiterer Nagel in unserem Sarg. ›Oh mein Gott, wir sind wirklich ein entsetzlicher Ort.‹ Und wir müssen uns noch viel mehr anstrengen, um auch nur wieder zurück zu null zu kommen.«132 Mit jedem neuen Bericht wandte sich die Stimmung innerhalb der Stadt mehr gegen die vergewaltigte Frau, nach dem Motto: Wenn sie als Opfer in der Lage war, mit ihrer Klage eine solche Verheerung anzurichten, musste sie auch in dem Vergewaltigungsfall irgendwie die Aggressorin gewesen sein.
Solche Reaktionen sind so häufig, dass es in der Psychologie eigene Bezeichnungen dafür gibt, wie Gerechte-Welt-Glaube und defensive Attribution. Die Rechtswissenschaftlerin Ulrike Lembke erläutert: »[D]ie solchem opferbeschuldigenden Verhalten zugrunde liegenden Wünsche [sind], dass in der Welt kein unbegreifliches Unrecht geschehen möge – weshalb das Opfer einfach irgendetwas falsch gemacht haben muss – und dass die eigene Person nicht in Gefahr sein möge – weshalb eine starke und abwertende Abgrenzung vom Opfer stattfindet.«133
Doch die Abwehr gegen das Opfer in dem New-Bedford-Fall ging weit darüber hinaus. Augenzeugen erinnern sich: »Leute gingen zu ihrem Haus … bewarfen es mit irgendwelchen Dingen und richteten Schaden an … Die Stimmung in der Stadt war wirklich blutrünstig. Ich habe noch nie etwas erlebt, das Mobhysterie mehr glich.«134