Vergewaltigung. Mithu M. Sanyal

Vergewaltigung - Mithu M. Sanyal


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ein ganzes Cluster von Begriffen, um sexualisierte Gewalt zu beschreiben – wie stuprum, raptus, violentia, contaminatio etc., die ein ganzes Spektrum von Bedeutungen aufwiesen: »Schande, Befleckung, Verhöhnung […] Verletzung, Verderben, Unzucht, Zwang und Raub«, oder schlicht: »Geschlechtsverkehr«160 – so bezeichnet »stuprum« Schändung, Entehrung, Unzucht und Ehebruch.

      Nach der Tat rief Lucretia ihren Vater und ihren Ehemann zu sich, berichtete, was Sextus getan hatte, und teilte ihnen den Entschluss mit, sterben zu wollen. Die beiden beschworen sie, sich nicht umzubringen. Doch sie sagte, sie wolle verhindern, dass sich in Zukunft untreue Ehefrauen auf sie berufen könnten, und nahm sich mit einem Dolch das Leben. An der Wahl der Argumente wird deutlich, dass es sich hier um ein Lehrstück handelt und nicht um ein historisch verbrieftes Geschehen. Wichtig war, dass Lucretia durch den erzwungenen Geschlechtsakt ihrer Ehre beraubt wurde und es auch für sie nur eine Möglichkeit gab, diese zurückzuerlangen, nämlich den geschändeten Körper hinter sich zu lassen. Und so galt Lucretias Freitod als heroische Tat, vergleichbar dem Heldentod der Spartaner.

      Die berühmten Gemälde von Botticelli, Cranach, Dürer und Rembrandt zeigen entweder den Vergewaltiger mit einem Dolch an Lucretias Brust oder Lucretia, wie sie sich danach selbst einen Dolch ins Herz stößt. Händel besang sie. Shakespeare wurde durch sein episches Gedicht The Rape of Lucrece berühmt. Und der Wikipedia-Eintrag »Vergewaltigung«, ebenso wie der englische Wikipedia-Eintrag »rape«, illustriert das Thema mit dem Bild Die Vergewaltigung der Lucretia von Tizian.161 In Kunst und Literatur ist die Römerin so allgegenwärtig, dass sie zur Referenzfigur162 für Vergewaltigung geworden ist und zahlreiche Nachfolgerinnen in Romanen und Filmen fand. Am berüchtigtsten ist der Nazi-Propagandafilm Jud Süß, in dem die unschuldige Dorothea von dem Juden Joseph Süß Oppenheimer vergewaltigt wird und sich daraufhin ertränkt. »Vergewaltigung wird, auch wenn das Opfer dabei nicht umgebracht wird, als eine Form des symbolischen Todes gelesen«163, beschreibt Tanya Horek die gnadenlose Logik dieser Narrative.

      Das ist jedoch keine unweigerliche Lehre aus der Geschichte, sondern eine äußerst selektive Lehre aus der Geschichte, denn in der klassischen Antike gibt es genug Gegenfiguren zur tugendhaften Lucretia. So berichtet Livius in Ab urbe condita ebenfalls von der keltischen Königin Chiomara, die im Jahr 189 vor unserer Zeitrechnung bei dem Raubzug des römischen Konsuls Gnaeus Manlius Vulso entführt und von einem seiner Zenturionen vergewaltigt worden war.164 Als der erkannte, dass er eine Königin in seiner Gewalt hatte, verlangte er, sie solle von ihrem Ehemann, Ortagion, dem Führer des Stammes der Tolistobogier, ein Lösegeld verlangen. Chiomara willigte ein, ein Sklave wurde zu den Tolistobogiern entsandt und ein geheimer Ort zur Übergabe ausgemacht, und während der Zenturio das Gold zählte, gab Chiomara ihren Leuten den Befehl, ihm die Kehle durchzuschneiden.165 Es überrascht wenig, dass Chiomara, obwohl sie im Gegensatz zu Lucretia den Vorteil hat, eine echte historische Person zu sein, nicht als Rollenmodell herhalten durfte.

      Etwas besser erging es der ebenfalls keltischen Königin Boudicca (oder Boudica oder Boudicea), für die das – in diesem Fall an ihren Töchtern begangene – Verbrechen ebenfalls keinen Ehrverlust bedeutete, sondern Dial, das altwalisische (Antiquae Linguae Britannicae) Wort für Rache. Boudicca hatte das Glück, dass ihr Name dieselbe Bedeutung hatte wie der Königin Victorias – nämlich »die Siegreiche« – und diese dringend eine weibliche britische Königin als Identifikationsfigur brauchte, um ihre Herrschaft symbolisch zu rechtfertigen. Also entdeckten die Viktorianer die bereits vergessene Königin des Stammes der Iceni wieder, die in den Jahren 60/61 n. Chr. Colchester (Camulodunum), London (Londinium) und St. Albans (Verulamium) eroberte und die Römer beinahe dazu gebracht hätte, aus Britannien abzuziehen. Der Poet Laureate Alfred Lord Tennyson verewigte sie in einem Gedicht, und Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Statuengruppe von Boudicca und ihren Töchtern gegenüber von Big Ben errichtet (und das Gerücht kam auf, dass sie unter Gleis 9 oder 10 der Kings Cross Station begraben sei, von wo aus heute der Hogwarts-Express Hexen und Zauberer wie Harry Potter zur Schule bringt). Da ihr Leben nur in römischen Quellen überliefert ist – hauptsächlich von Tacitus und Cassius Dio –, wirkt Boudicca jedoch wie eine im Streitwagen fahrende und schwertschwingende Version der Lucretia. Vor allem in der Rede, die ihr Tacitus vor ihrer letzten Schlacht in den Mund legt: »Jetzt aber räche [ich] … die verlorene Freiheit, den zerschlagenen Leib, die geschändete Ehre [meiner] Töchter. So weit trieben nun die Römer ihre Lüste, daß sie nicht die Person, ja selbst das Alter nicht oder Jungfräulichkeit unbefleckt ließen.«166

      Nirgendwo wird die Gleichsetzung des Verlusts der weiblichen Ehre mit dem sozialen Tod so gnadenlos auf den Punkt gebracht wie in dem Satz, Vergewaltigung sei ein »Schicksal, das schlimmer ist als der Tod«, eine Redewendung, die ebenfalls auf das antike Rom zurückgeht, allerdings nicht auf eine lateinische Quelle, sondern auf Band IV der Geschichte vom Verfall und Untergang des römischen Imperiums von 1788. Darin beschreibt der britische Historiker Edward Gibbon die Vergewaltigung römischer Ehefrauen und Jungfrauen durch die Goten als »Gewalttaten … die nach den Maßstäben der Keuschheit schlimmer waren als der Tod«167.

      Die Viktorianer griffen das Idiom so begeistert auf, dass es zu der Beschreibung für Vergewaltigung wurde. Doch das Verdienst, es ins 20. Jahrhundert transportiert zu haben, kommt Edward Rice Burroughs und seinem Megabestseller Tarzan bei den Affen zu, in dem die US-Amerikanerin Jane Porter im afrikanischen Dschungel von einem Menschenaffen zu einem »Schicksal tausendmal schlimmer als der Tod«168 entführt wird. Die amerikanische Jane über der Schulter des dunklen Affen war – ebenso wie die plündernden Goten – die perfekte Illustration des Schwarzen169 (barbarischen) Vergewaltigers, der eine weiße Unschuld stahl. Selbstverständlich intervenierte Tarzan, der zwar im Dschungel aufgewachsen, aber als Sohn eines britischen Lords weiß genug war, um Jane und ihre Ehre zu retten, so dass sie später seine Ehefrau und die Mutter seines Sohnes werden konnte.

      Dass das zentrale Problem bei einer Vergewaltigung der Raub der Ehre war, ist in dem englischen Wort »rape« – von dem Lateinischen »rapere«, von dem unser Wort »Raub« kommt – noch etymologisch enthalten, ebenso wie in dem deutschen Vorläuferbegriff zu Vergewaltigung, nämlich Notnunft (althochdeutsch notnumft, synonym: Not(h)zucht). Jacob Grimm führt Notnunft auf die germanische Wurzel »Noti neman«, also mit Gewalt (Not) nehmen, zurück, die ursprünglich jede Art von Raub bezeichnete, »doch hat man die ausdrücke notnunft, notzuht allmälich auf die an frauen verübte gewaltthätigkeit eingeschränkt«170. Auf Notnunft stand die Todesstrafe. Allerdings nur, wenn die Frau zuvor eine Ehre besaß, die ihr gestohlen werden konnte. Bei verheirateten Frauen und Witwen wurde ihr Leumund überprüft, bei unverheirateten Frauen ihr Körper. Zu diesem Zweck wurde im 18. und 19. Jahrhundert bei Anzeigen unverheirateter Frauen mit dem sogenannten »Fingertest« (auch bekannt als »Zwei-Finger-Test«) anhand der »Dehnbarkeit« der Vagina überprüft, ob die betreffende Frau Geschlechtsverkehr »ertragen konnte«171. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Jungfräulichkeit eine nahezu hypnotische Wirkung auf Ärzte und Richter, so dass bei Obduktionen von Frauenleichen immer zuerst das Hymen überprüft wurde, um auszuschließen, dass sich die Tote aus Scham über einen Ehrverlust selbst umgebracht habe.172 Jungfräulichkeit bestimmte den Diskurs um Ehre dergestalt, dass die Begriffe gerne synonym verwendet wurden,173 weshalb auch noch nach dem Wegfallen des Konzepts der weiblichen Geschlechtsehre Jungfräulichkeit weiterhin massiven Einfluss auf die Vergewaltigungsdebatten hatte.

      Ein Beispiel: Larry King Live ist eine amerikanische Prime-time-Interviewsendung, in die wichtige Menschen des Zeitgeschehens, wie amtierende Präsidenten, berühmte Schauspieler*innen, Literat*innen, Künstler*innen und Unternehmer*innen, eingeladen werden. 2003 wurde Roman Polanski für seinen Film The Pianist für sieben Academy Awards nominiert, konnte aber nicht nach Hollywood reisen, da er dort sofort verhaftet worden wäre, weil er 1977 die damals 13-jährige Samantha Gailey (die inzwischen Geimer heißt) vergewaltigt hatte. Also lud Larry King am 24.2.2003 stattdessen Samantha Geimer in die Sendung ein, wo er sie unweigerlich fragte: »Waren Sie noch Jungfrau?«

      Sie antwortete freundlich: »Ich habe gerade nachgerechnet. Nein.«

      King war verblüfft: »Sie waren keine Jungfrau?«

      »Nein,


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