Vergewaltigung. Mithu M. Sanyal
ist sexuell. Das bedeutet, dass vor allem Männer, wenn nicht nur Männer, Herrschaft sexualisieren.«148 Demgegenüber gab es die nicht minder breit rezipierte These, dass der Feminismus Männer so sehr in ihrer Identität gefährde, dass sie durch das Wegbrechen der »stabilen Geschlechterordnung« zu Vergewaltigern würden – besser bekannt als »Krise der Männlichkeit«-Theorie.149 Es ist eine Ironie des Schicksals, dass dieser vehement geführte politische Kampf das Problem letztendlich entpolitisierte, indem er es sexualisierte. Doch zwischen den Polen »Männer vergewaltigen, weil sie schlechte Menschen sind« und »Männer vergewaltigen, weil Feministinnen schlechte Menschen sind«150 war eine Menge verbrannter Erde.
Die Reaktionen auf den Big Dan Case sind charakteristisch für das angespannte Verhältnis zwischen den Geschlechtern zu diesem Zeitpunkt. In einem Artikel für Ms rang die spätere Journalismusprofessorin Mary Kay Blakely damit, dass ihre eigenen Söhne eines Tages unter den jubelnden Zuschauern einer Vergewaltigung sein könnten. Sie adressierte ihren Text an einen der »34 Prozent Männer, die sich von sexualisierter Gewalt gegen Frauen abgestoßen fühlen«151. Abgesehen von der Frage, woher Blakelys Statistik kam, ist vor allem die durchdringende Bedrohung bemerkenswert, die im historischen Rückblick wie ein Szenario aus einem totalitären Regime wirkt, in dem Eltern nicht einmal ihren Kindern trauen können, wenn diese männlich sind. Angeklagt war das cineastische Manifest dieser Haltung. Die Filmkritikerin Penny Ashbrook lobte, der Film komme beeindruckend nahe an eine Umsetzung von Susan Brownmillers berühmter Aussage, dass »Vergewaltigung eine Methode bewußter systematischer Einschüchterung ist, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten«152.
Tatsächlich war »die weibliche Angst«153 zu diesem Zeitpunkt ein Synonym für das Gefühl der allgegenwärtigen Bedrohung durch Vergewaltigung geworden, das Susan Griffin in ihrem einflussreichen Artikel »Rape: The All-American Crime« mit den Worten beschrieben hatte: »Ich war niemals frei von der Angst vor Vergewaltigung. Von klein auf war Vergewaltigung für mich, wie für die meisten Frauen, ein Teil meiner natürlichen Umgebung – eine Bedrohung wie Feuer oder Blitzschlag.«154 Vergewaltigung galt als »alles durchdringende und kontinuierliche Conditio der weiblichen Existenz«155. Damit hatte der Anti-Rape-Aktivismus – so viel wir ihm auch zu verdanken haben, und das will ich auf keinen Fall schmälern, auch wenn ich nicht immer mit seiner Rhetorik übereinstimme – paradoxerweise eben das erreicht, was Brownmiller als Absicht »allen Männern« unterstellte, nämlich dass ein signifikanter Teil der weiblichen Bevölkerung in konstanter Furcht lebte, einer Furcht, die es selbstverständlich auch davor gegeben hatte, jedoch nicht in demselben Ausmaß. Denn Furcht funktioniert wie ein sozialer Virus, der zwar nicht unbedingt durch Publizität erzeugt, aber vervielfältigt wird. »Nach den ganzen Workshops und Flugblättern über Date Rape, Safer Sex und sexuelle Belästigung, bleiben wir – egal wie mutig und erwachsen, wie rebellisch und sorglos wir auch sein mögen – mit dem Gefühl von unmittelbarer Gefahr zurück«156, kommentierte Katie Roiphe.
Ehre I: Das Schicksal, das schlimmer ist als der Tod
Allerdings kam die Auffassung, dass Vergewaltigung deshalb ein besonderes Verbrechen sei, weil dabei die Seele oder die Essenz einer Frau angegriffen werde, nicht erst in den 1970er Jahren auf, sondern lässt sich so weit zurückverfolgen wie die entgegengesetzte Überzeugung, dass Frauen nur darauf warteten, überwältigt zu werden. Vergewaltigung ist wie kaum ein anderes Thema voller Paradoxien und Widersprüche. Doch lag dieser spezielle Widerspruch an der Vorstellung dessen, was eine »echte« Vergewaltigung konstituierte und wer als »vergewaltigbar« galt. Von dieser Kategorie waren nicht nur cis Männer und trans Menschen ausgeschlossen, sondern auch ein großer Teil der cis Frauen, wenn diese beispielsweise nicht weiß waren oder in anderer Form den Normen von Weiblichkeit nicht entsprachen. Tatsächlich machte der Raub jener Essenz sie erst zu einem »echten« Opfer, dem »echte« Rechte zustanden. Das bedeute allerdings auch, dass eine Frau ohne diese Essenz schlicht keine echte Frau war. Doch wie kam es überhaupt zu dem Axiom, dass die Sexualität einer Frau ihre Essenz sei? Schließlich ist die Selbstbestimmung über die eigene Sexualität eine wichtige Angelegenheit für alle Geschlechter – ebenso wie die Selbstbestimmung über den eigenen Geist, und über die Gesundheit, wie die Gewährleistung der Grundbedürfnisse und all der anderen Dinge, die das Leben lebenswert machen. Warum also wurde der Aspekt der Sexualität bei Frauen aus dem Ensemble der Menschenrechte herausgelöst und an eine so exponierte Stelle gestellt?
Um das zu verstehen, bedarf es des Konzepts der Ehre. Die abendländische Vorstellung von Ehre ist maßgeblich durch die klassische Antike geprägt, hauptsächlich durch Aristoteles’ Nikomachische Ethik. Bloß hat diese Schrift heute nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung gelesen. Besser bekannt – wenn auch nicht unbedingt unter diesem Namen – sind dagegen zwei Geschichten, die deren Ideen versinnbildlichen: Die Schlacht bei den Thermopylen und die Vergewaltigung der tugendsamen Lucretia.
»Die Schlacht bei den Thermopylen ist eines der wichtigsten Ereignisse für den akademischen Diskurs über Scham«, erklärt Edith Hall, Professorin für Klassische Altertumswissenschaft. »Das liegt daran, dass sich die Spartaner in der Schlacht bei den Thermopylen – während der zweiten persischen Invasion von 480 vor unserer Zeitrechnung – freiwillig opferten. Doch der Grund für diese heroische Tat ist, dass sie zehn Jahre zuvor – 490 bei der Schlacht von Marathon – einfach nicht aufgetaucht sind und die Griechen allein kämpfen ließen.«157 Die Scham der Spartaner über diesen Ehrverlust war so groß, dass sie sich nicht etwa opferten, um die Schlacht zu gewinnen – diese war bereits verloren, und die legendären 300 Spartaner konnten nur den Rückzug des griechischen Heeres decken –, sondern weil dies die einzige Möglichkeit war, ihre Ehre zurückzugewinnen. Entsprechend wurden sie danach mit einem Denkmal geehrt, auf dem der berühmte Zweizeiler des Simonides von Keos gestanden haben soll: »Wanderer, kommst du nach Sparta, verkünde dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl.«158 So die Übersetzung Friedrich Schillers, der den Spartanern – nur für den Fall, dass die Inschrift nicht deutlich genug sein sollte – zwei Zeilen zuvor zurief: »Ehre ward euch.«159
Die Ehre des Mannes wurde also im öffentlichen Raum verhandelt, das heißt auf dem Schlachtfeld oder im Beruf. Entsprechend gab es »ehrliche« – also ehrbare – und »unehrliche« Berufe, was nichts mit ethischen Überlegungen zu tun hatte, sondern mit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz: Schmiede waren ehrbar, Kesselflicker nicht etc. Die Ehre der Frau dagegen wurde in ihrem Körper verortet, in ihrer Jungfräulichkeit oder ihrem Status als ehrbare Ehefrau oder Witwe. Aus diesem Grund hatte auch nur sie etwas, das sie durch eine Vergewaltigung verlieren konnte. Da ihr Platz in der Gesellschaft jedoch maßgeblich durch ihre Ehre bestimmt war, wurde dieser bei einer Vergewaltigung ebenfalls angegriffen, und damit nicht selten ihre Existenzgrundlage. Zwar wurden Männerkörper in Kriegen nicht minder ausgebeutet, ihre Ehre war allerdings erst dann in Gefahr, wenn sie sich diesem System verweigerten, indem sie beispielsweise desertierten, woraufhin sie ebenfalls – meistens durch Hinrichtung – aus der Gesellschaft ausgeschlossen wurden.
Entsprechend wurde der Kampf um Lucretias Ehre nicht auf dem Feld, sondern im Schlafzimmer ausgefochten. Der römische Geschichtsschreiber Livius berichtet in Ab urbe condita von der vorbildlichen Lucretia, die im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gelebt haben soll, als der despotische König Tarquinius Superbus über Rom herrschte. Lucretias Ehemann, der Prinz Collantius, wettete mit anderen Patriziern, dass seine Frau die Tugendhafteste sei. Und tatsächlich fanden die Adligen Lucretia als Einzige fleißig an ihrem Spinnrad, während ihre Schwägerinnen sich mit ihren Freundinnen vergnügten. Verärgert, die Wette verloren zu haben, schlich Sextus Tarquinius, der Neffe des tyrannischen Königs, sich daraufhin nachts zu Lucretia und versuchte, sie mit gezogenem Schwert zum Beischlaf zu zwingen. Doch sie weigerte sich mit den berühmten Worten, sie würde lieber sterben, als ihrem Mann untreu zu werden (also ihre Ehre zu verlieren). Da drohte er, nicht nur sie zu töten, sondern auch noch einen Sklaven, dessen nackten Körper neben sie zu legen, und ihrem Mann zu berichten, er habe die beiden auf frischer Tat ertappt (wodurch sie ebenfalls ihre Ehre verloren hätte). Weil sie keinen anderen Ausweg sah, gab Lucretia auf, und Sextus