Vergewaltigung. Mithu M. Sanyal

Vergewaltigung - Mithu M. Sanyal


Скачать книгу
in der Folge angegriffen werden. Wobei Vaterhaus selbstverständlich eine literarische Umschreibung für das Patriarchat war, das nun als System zur Vergewaltigung von Frauen verstanden wurde, ebenso wie Vergewaltigung im Umkehrschluss als System zur Stabilisierung des Patriarchats. Der berühmteste Satz des Buches lautete: »[Vergewaltigung] ist nicht mehr und nicht weniger als eine Methode bewußter systematischer Einschüchterung, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten.«101

      Diese Definition hatte ein solches Gewicht, weil Susan Brownmiller damit die Gretchenfrage des Feminismus beantwortete: »Wie hat das alles angefangen?«102 Dadurch ist Vergewaltigung jedoch nicht nur der Ursprungsmythos des Patriarchats, sondern auch der der zweiten Welle der US-amerikanischen Frauenbewegung. Denn für die Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts hatte die Frage der sexuellen Gewalt nur eine marginale Rolle gespielt. »Es ist in der Tat auffällig, wie wenig Aufmerksamkeit die Feministinnen des 19. Jahrhunderts für Vergewaltigung übrig hatten«, bemerken die Historikerinnen Ellen Du Bois und Linda Gordon. Den Rang der »zentralen weiblichen Angst«103 hatte – zumindest in den bürgerlichen Teilen der Frauenbewegung – die Prostitution eingenommen. Anti-Vice-Organisationen104 debattierten, wie sie die männliche Lust stoppen und die Ehre der Frauen reinhalten könnten.105 Wenn die britische Suffragette Frances Swiney feststellte: »Die Erlösung der Frau vom Mädchenhandel kann nur durch die Erlösung des Mannes von seiner Sexbesessenheit erreicht werden«106, dann hörte sich das nicht zufällig nach dem frigide-Frauen/feurige-Männer-Modell von menschlicher Sexualität an. Denn diese Ansichten darüber, was uns zu Männern und Frauen – und damit erst als Menschen vorstellbar – macht, waren so weitreichend, dass sie die Grenzen der politischen Lager überschritten, und auch die Feministinnen der 70er Jahre griffen auf diese bereits vorhandenen Argumentationsstrukturen zurück. Nur dass der Kampf gegen Prostitution und Geschlechtskrankheiten inzwischen vom Kampf gegen Vergewaltigung als gemeinsames Ziel abgelöst worden war.

      Zu sagen, dass sich die US-amerikanische Frauenbewegung der 70er Jahre um Anti-Rape-Gruppen organisiert hätte, würde dieser wichtigen sozialen Bewegung jedoch nicht gerecht. Doch nahm die Auseinandersetzung mit Vergewaltigung in den USA eine ähnliche Position ein wie zeitgleich in Europa der Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen: Sie lieferte eine vereinende Erfahrung und wurde zur Metapher für all das, was mit den Geschlechterverhältnissen nicht stimmte. Oder, wie die Autorin und Mitgründerin der New York Radical Women Robin Morgan es ausdrückte: »Vergewaltigung ist die ultimative Metapher für Unterdrückung, Gewalt und Herrschaft.«107

      Nun wird der Diskurs über etwas so Allgegenwärtiges wie Geschlecht gleichzeitig immer wieder radikal in Frage gestellt. Und so wartete die »neue Vergewaltigungsgeschichte«108 mit einigen grundlegenden Änderungen auf. Vor dem Anti-Rape-Aktivismus der 70er Jahre hatte es ein mehr oder minder festes Set an Vorstellungen über Vergewaltigung gegeben:

      – Vergewaltigung ist Sex.

      – Frauen sagen nein, wenn sie ja meinen.

      – Opfer sind schöne, junge Frauen, deren Attraktivität einen Mann so erregt, dass er sich nicht mehr beherrschen kann.

      – Alternativ sind Opfer Flittchen, die Männer bewusst provozieren und es nicht besser verdienen.

      – So oder so trägt das Opfer (Mit-)Schuld an der Vergewaltigung, weil es den Täter durch seinen Minirock oder aufreizendes Verhalten eingeladen hat.

      – Denn Frauen wünschen sich im Grunde ihres Herzens, vergewaltigt zu werden.

      – Vor allem Frauen, die mit einem Mann beim ersten Date nach Hause gehen, wollen in Wirklichkeit Sex.

      – Eine Frau, die sich wehrt, kann nicht vergewaltigt werden. (Gleichzeitig allerdings paradoxerweise: Keine Frau kann sich erfolgreich gegen eine Vergewaltigung wehren, also kann sie sie genauso gut genießen.)

      – Echte Vergewaltigungen sind sehr selten,

      – Falschanzeigen dagegen häufig, weil Frauen entweder Hysterikerinnen sind oder sich an einem Mann, der sie abgewiesen oder sitzengelassen hat, rächen wollen oder versuchen, eine uneheliche Schwangerschaft zu rechtfertigen.

      – Täter sind gesellschaftliche Außenseiter, Psychopathen und/oder Sexmonster.

      – Vergewaltigungen geschehen im öffentlichen Raum und nicht zu Hause, und Täter und Opfer sind nicht miteinander bekannt (der Fremde hinter dem Busch) usw.

      Und nun kam die Anti-Vergewaltigungs-Bewegung und bezeichnete diese Überzeugungen durch die Bank als Vergewaltigungsmythen (rape myths), deren Existenz darauf hinweise, dass wir in einer Kultur der Vergewaltigung, also in einer Rape Culture109 lebten. »Das ist ein zentraler rhetorischer Trick. Er nimmt alle Elemente des alten Narrativs und kehrt sie in ihr Gegenteil um. Er liefert die knappste und effektivste Erklärung für die alte narrative Struktur, indem er sie als ›Mythen‹ bezeichnet, und macht sie damit auf einen Streich ungültig. Tatsächlich liefert die Umkehrung jedes einzelnen Mythos die Hauptelemente für die neue Story«110, erklärt der Sozialpsychologe Ken Plummer, der in seiner Arbeit die Bedeutung der Geschichten heraushebt, die wir (uns selbst und anderen) über unsere sexuelle, psychische oder spirituelle Identität erzählen, und untersucht, wie wir dadurch Sinn – und in vielen Fällen auch eine politische Agenda – erzeugen. In Bezug auf Vergewaltigung bedeutet das: Wo vorher nur schöne, junge Frauen vergewaltigt wurden, galten nun alle Frauen als potenzielle Opfer, keine Frau trug Schuld an ihrer Vergewaltigung, Falschanzeigen waren unglaublich selten und so weiter. »Das ist ein klassisches rhetorisches Mittel: Die eigene Haltung als Gegensatz zu einer bestehenden Haltung zu entwickeln. Geschichten werden nicht in Abgeschiedenheit formuliert, sondern im Widerspruch zu anderen Geschichten. Das wird an ›Myth debunking‹ – also dem Entlarven von Mythen – besonders deutlich.«111

      Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Vergewaltigungsmythen in Wirklichkeit der Wahrheit entsprochen hätten, sondern dass der alte Diskurs den neuen noch immer bestimmte, wenn auch als Negativfolie. (Und in einzelnen Aspekten auch ganz direkt, so galten nach wie vor nur Frauen als Opfer, nur Männer als Täter, wegen der wesensimmanenten Verletzlichkeit der Frau und des ebenso wesensimmanenten Wunsches des Mannes, sie zu beherrschen.)

      Im Zentrum des Debunkings standen zwei Punkte: Aus ›Nein heißt ja!‹ wurde ›Nein heißt nein!‹, und Susan Brownmiller definiert in Gegen unseren Willen, dass Vergewaltigung nichts mit Sex zu tun habe, sondern ein reines Gewaltverbrechen sei; echter Sex basiere auf Konsens und sei frei von Gewalt. Auf diese Weise entkräftete sie zugleich alle weiteren Punkte, in denen es um die Verantwortung oder Mitverantwortung der Frau ging, denn durch die neue Definition als Gewaltverbrechen wurden das Aussehen des Opfers, ihre Kleidung und ihr Verhalten irrelevant. (Kurz: Es war egal, wie »sexy« die Frau war, da es ja gar nicht um Sex ging.) Das war vor allem in Bezug auf Gerichtsverfahren wichtig, in denen Opfer noch bis in die 1980er Jahre ausführlich zu ihrem Sexualleben befragt wurden, da eine Frau, die freiwillig Sexualverkehr hatte, nicht dem Bild des »echten« – also möglichst jungfräulichen – Vergewaltigungsopfers entsprach. Das ist der Grund, warum Feministinnen heute von sexualisierter – und nicht von sexueller – Gewalt sprechen, um deutlich zu machen, dass Sex zwar die Waffe, nicht aber die Motivation bei einer Vergewaltigung ist. Dabei war das damals keineswegs unumstritten. So hatte die feministische Rechtswissenschaftlerin und Anwältin Catharine MacKinnon, die ansonsten weitgehend mit Brownmiller übereinstimmte, sie mit der berühmten Frage kritisiert: »Wenn es nur um Gewalt und nicht um Sex ging, warum hat er sie dann nicht einfach geschlagen?«112

      Als der Philosoph Michel Foucault 1977 bei den Round-Table-Gesprächen113 zu dem Problem der Vergewaltigung gefragt wurde, klangen seine Ausführungen wie eine zeitversetzte Antwort auf MacKinnons Frage: »Ob man irgend jemandem seine Faust in die Fresse oder seinen Penis ins Geschlechtsteil schlägt, bezeichnet keinen Unterschied«, schlug Foucault vor. »Die Sexualität kann auf keinen Fall Gegenstand einer Bestrafung sein. Und wenn man die Vergewaltigung bestraft, dann sollte man ausschließlich die physische Gewalt bestrafen.«114 Er ging noch einen Schritt weiter, dass es sogar problematisch sei, Vergewaltigung explizit von anderen Formen von


Скачать книгу