Strafsache van Geldern. Hans Hyan
Hans Hyan
Strafsache van Geldern
Kriminalroman
Saga
1
Am blauen, durchsichtigen Himmel zogen weisse Wölkchen friedlich von Osten nach Westen. Ein paar Schwalben schossen durch den Äther. Das und der Wipfel einer dunkelgrünen Kiefer waren das einzige, was Paulus van Geldern seit sechs Monaten, seit dem Beginn dieses Jahres 1931, von der Welt sah. Er stand in seiner hellgetünchten Zelle unter dem hohen Gitterfenster mit erhobenen Augen und blickte da hinaus durch das besonnte Rechteck, dessen Eisenstäbe in der Morgensonne glitzerten. Er dachte nichts. Seine Seele war hinausgeflogen in die leuchtende Weite, war eins und tief verbunden mit einer anderen, der er in Liebe ergeben war.
Hinter seinem Rücken rasselten die Schlüssel. Die wuchtige Eisentür ging auf, und der Aufseher, ein hoher, schlanker, blonder Mensch, stand in dem schmalen Türrahmen:
„Es ist Zeit, Herr van Geldern. Sie müssen zur Verhandlung!“
Van Geldern drehte sich langsam um. Er blickte durch den jungen Aufseher hindurch, als sei der Mann aus Glas. Er sah in diesem Augenblick schon den Schwurgerichtssaal vor sich, angefüllt mit Menschen, die gekommen waren, um seine Erniedrigung mitanzusehen, das Urteil über seine Schuld oder Unschuld zu hören.
Da richtete er sich mit einem Ruck in die Höhe, warf den Kopf mit dem kurzgeschnittenen dunklen Haar in den Nacken und trat an dem zurückweichenden Aufseher vorbei hinaus aus der Zelle auf die Galerie. Er ging schnell zur nächsten Eisentreppe, die er vor dem Aufseher hinunterlief, als wollte er entfliehen oder aber als könnte er nicht schnell genug diese letzte Station seines Golgatha erreichen.
Im Zentral stand der Oberaufseher Matthes, ein Mann in den Fünfzigern, der fast niemals sprach. Und dieser Schweigsame wandte sich zu Paulus van Geldern um mit den Worten:
„Schwere Stunde ... hm ... ja ... schwere Stunde ... Aber geht auch vorbei ... hm ...“
Van Geldern war stehengeblieben in der dienstlichen Haltung, die die Gefängnisnorm vorschreibt. Er sah in das starre graue Gesicht mit dem weissen Backenbart und nickte:
„Ich danke, Herr Oberaufseher!“
Dann schritt er hinüber zu dem grossen Tor, das das eigentliche Gefängnis abschloss. In dem dämmrigen Korridor traf er den Geistlichen. Der drückte ihm stumm die Hand.
Und wie er eben das Gefängnis verlassen wollte, kam von draussen von dem sonnenhellen Gefängnishof herein der Direktor Doktor Stupp, ein jovialer Mann, immer bemüht, es seinen unfreiwilligen Pflegekindern so leicht wie möglich zu machen, wenn sie ihn nicht durch Widersetzlichkeit reizten.
Er hielt van Geldern an, der wieder stramm stand, und klopfte ihm lächelnd auf die Schulter.
„Wer ein gutes Gewissen hat, der braucht sich vor keinem Gericht zu fürchten! ... Na und Sie ... Sie haben’s doch ... nicht wahr?“
„Jawohl, Herr Direktor!“
Die Stimme van Gelderns kam wie aus einem leeren Raum. Dann ging er weiter, der Aufseher immer hinter ihm, und trat auf den Gefängnishof hinaus. Er sah die Gärtnergehilfen in ihrem blauleinenen Gefangenenkittel, die da Gemüse pflanzten und Kartoffeln hackten, und ging, ohne dass er wusste, wohin, über den gelben Kiesweg dem roten Hause zu, das durch einen Gang mit dem Untersuchungsgefängnis verbunden war.
In dem grossen Schwurgerichtssaal fiel durch die hohen, buntverglasten Fenster in hellem Farbenspiel das Sonnenlicht. Es sprühte über das Halbrund des grün bezogenen Tisches hin, an dem die neun Männer des Schwurgerichts schon Platz genommen hatten. Der Vorsitzende in der Mitte war ein kraftvoller Mann mit blondem Bart. Er hatte eine dröhnende Stimme, die er doch so dämpfen konnte, dass nur der Angeklagte, der aber mit um so grösserer Wirkung, sie spürte.
Der Zuschauerraum war überfüllt. Mehrere Schupos flankierten die Tür und hielten das Publikum in Schach, das immer wieder hereindrängen wollte.
Eben öffneten die beiden Justizwachtmeister den hohen Saaleingang, und wie eine Welle flutete die Menge der Zeugen in den Saal, diesen plötzlich anfüllend und mit dem Summen ihrer leisen Unterhaltung belebend.
Landgerichtsdirektor Hallmann hob den blondbärtigen Kopf, der ohne ein Haupthaar in der Sonne glänzte, und klopfte mit dem grossen Bleistift auf die Tischplatte:
„Herrschaften!“ — ein Ausdruck, den er gern brauchte — „ich habe keine Zeit zu verlieren, und wir haben mindestens acht Tage mit der Sache angestrengt zu tun. Darum muss alles Überflüssige fortfallen! Zum Beispiel langatmige Auseinandersetzungen mit den Zeugen, Ermahnungen an die Zuhörer oder was weiss ich. Hier hat niemand ungefragt zu reden; aber wenn er gefragt wird, dann soll er gefälligst den Mund aufmachen und Rede und Antwort stehen! Ich meine ’s gut mit jedem, der ’s mit mir gut meint!“
Der Protokollführer, Referendar Lebermann, der zwischen dem Richtertisch und der Anklagebank seinen Platz hatte, ein kleiner, elegant aufgemachter Herr, nickte bedächtig und legte den gespitzten Bleistift ernst neben sich. Dann begrüsste er höflich den Ersten Staatsanwalt Doktor Malkenthin, der nicht aus dem Richterzimmer, sondern vom Korridor her durch die grosse Saaltür eintrat.
Der sehr magere, schwarzhaarige Herr mit dem Einglas im linken Auge trat sofort zu dem Vorsitzenden hin, wohl um ihm etwas Wichtiges zu sagen, als plötzlich alles, wie von einer elektrischen Schwingung erfasst, zur grossen Tür hinstarrte, durch die in diesem Augenblick, von zwei Justizwachtmeistern geleitet, der Angeklagte hereintrat.
Für einen Augenblick war nur das Summen einer grossen Fliege, die oben an dem sonnenbunten Fenster hin und her surrte, im Raum.
Paulus van Geldern wollte in die Anklagebank kreten, deren Gittertür der Justizwachtmeister vor ihm öffnete, als ihm der Vorsitzende gestattete: „Sie können da auf dem Stuhl“, er deutete mit breiter Geste hinüber, „vorläufig Platz nehmen!“
Dicht neben van Geldern, der sich wie automatisch niederliess, war die Rechtsanwaltsbank, neben der sein Verteidiger Doktor Joachim Vierklee sich mit Hans Lerse, dem Reportagechef von den „Berliner Allgemeinen Nachrichten“, unterhielt. Lerse brachte seinen dreieckigen Kopf mit der grossen spitzen Nase dicht an das Gesicht des Rechtsanwalts heran: „Wie legen Sie den Fall, Doktor?“
„Absolut: Sieg!“
Lerse schüttelte den Kopf mit den grossen abstehenden Ohren: „Platz! ... Höchstens! Ich wette keine zehn Mark, dass Sie den Mann frei kriegen!“
Vierklee hob das scharfgeschnittene Profil mit dem blitzenden Monokel und sah den Zeitungsmann ohne Antwort an. Sein schmaler Mund, die nur ganz wenig gebogene Nase und das in seinem Weiss leicht getüpfelte Auge veriet nichts von dem, was in seinem Innern vorging. Dieser Mann in der schwarzen Robe, zu dem jeder kam, der seine letzte Karte ausspielen musste, verschoss sein Pulver nicht vor der Schlacht.
Paulus van Geldern suchte auf den Zeugenbänken nach dem einzigen, das ihn in dieser Welt festhielt. Seine grossen dunklen Augen gingen im Saal hin und her und fanden endlich auf der zweiten Zeugenbank ganz in der Ecke die Gesuchte. Sie sass, von ihrer Mutter gedeckt, und hielt ihr Tuch an die Augen. Plötzlich, als spüre sie seinen Anruf, liess sie die Hand sinken und erhob ihr junges, achtzehnjähriges Gesicht zu ihm.
Sie gab ihm in diesem Augenblick alles, was sie ihm geben konnte, ihre ganze Seele, ihren Leib und ihr Leben. Sie behielt nichts für sich. Sie allein in diesem grossen, von Menschheit brausenden Saal war bis zum Rande ihrer Seele erfüllt von dem Glauben an seine Unschuld.
Und es war Paulus, als strömten ihm neue Kraftquellen zu für den schweren Kampf, den eine Welt von rachgierigen Feinden ihm entgegentrug.
In diesem Augenblick erhob sie sich und verliess mit ihrer Mutter und den anderen Zeugen auf das Gebot des Vorsitzenden den Saal.
Die beiden Sachverständigen, Professor Grolly von der Universität Greifswald und Doktor Rawenfleet von der Berliner Städtischen Irrenanstalt, machten sich mit dem Vorsitzenden bekannt.
Die Verlesung des Eröffnungsbeschlusses