Strafsache van Geldern. Hans Hyan
5. Januar 1931 seine Ehefrau Martha, geborene Streckaus, in der gemeinsamen Wohnung in Westend bei Berlin, Quintenallee 17, ermordet zu haben.
„Bekennen Sie sich schuldig, Angeklagter?“
Van Geldern war, als seine Personaldaten von ihm verlangt wurden, aufgestanden und vom Vorsitzenden belehrt worden, dass er sitzen bleiben könne. Trotzdem erhob er auf diese Frage seinen wohl einen Meter neunzig hohen Körper mit einem Ruck. Seine breite und hohe Brust trat hervor, als hätte er sie tief mit Atem gefüllt. Er hielt die Arme gesenkt, aber sie fielen nicht schlaff zu beiden Seiten herunter, sondern es war in ihrer leichten Krümmung die ungeheure Spannung, der stärkste Wille zur Abwehr. So sah er den Vorsitzenden an. Seine Stimme kam wie aus mächtigem Druck:
„Nein!“
Dann setzte er sich wieder, und das Duell zwischen ihm, dessen Beruf es war, Menschen in ihrem oft verzweiflungsvollen Kampf zu helfen, und zwischen dem, der die menschliche Gerechtigkeit verkörperte, nahm seinen Anfang.
„Wollen Sie uns jetzt einmal ruhig und mit allen Einzelheiten erzählen, was sich am 5. Januar 1931 in Ihrer Villa zwischen Ihnen und Ihrer Frau zugetragen hat?“
Der Angeklagte atmete tief: „Ich kam um drei Uhr aus dem Büro. Im Speisezimmer, in das ich eintrat, nachdem ich meine Frau vergeblich im ganzen Haus gesucht hatte, war der Frühstückstisch noch nicht abgeräumt. Ich bin ein von Hause aus ordentlich erzogener Mensch, und eine derartige Liederlichkeit ist mir tief zuwider. Ich will hierbei gleich sagen, dass die Boheme-Natur meiner Frau der erste Anlass zu unserer Entfremdung war ...“
Der Vorsitzende hob leicht die Hand: „Darüber werden wir später Zeugen hören, die etwas ganz anderes bekunden ...“
Das Monokel von Joachim Vierklee funkelte wie ein Brennglas nach dem Gesicht des Vorsitzenden. Der parierte sofort: „Sie sind anderer Meinung, Herr Rechtsanwalt, und das entspricht Ihrer Funktion. Sie sollen auch nicht in der Bekundung Ihrer Ansichten von mir gehindert werden — ebensowenig wie Ihr Klient ... Also bitte weiter, Angeklagter!“
„Ich klingelte nach dem Mädchen, das ebenfalls nicht da war. Schliesslich kam die Köchin. Es ist das die Minna Müller, die auch als Zeugin gegen mich auftreten wird und die meine Frau aus ihrer früheren Wirtschaft schon mit in die Ehe gebracht hat. Ich weiss aus den Protokollen, dass ich nun sofort in einer ganz zügellosen Weise auf meine Frau geschimpft und gedroht haben soll: ich würde ihr den Standpunkt bei ihrem Heimkommen einmal deutlich klarmachen! ... Und das wäre von Handbewegungen begleitet gewesen, die keinen Zweifel an meinen bösen Absichten liessen!“
Der Angeschuldigte pausierte einen Augenblick, und der Vorsitzende nickte.
Ohne zu diesen Behauptungen Stellung zu nehmen, fuhr van Geldern in seinem Bericht fort: „Ich bekam also schliesslich ein paar Setzeier mit Bratkartoffeln. Das war mein Mittagsmahl, nachdem ich frühmorgens um halb acht das Haus verlassen und, beruflich stark in Anspruch genommen, wie ich bin, seit dem Frühstücksbrötchen keinen Happen zu mir genommen hatte. Ich bin ein wenig magenleidend, eben wohl durch das sehr häufig verzögerte und vergessene Essen, und gerate dann in eine gewisse Aufregung, die ich mich aber immer bemühe meine Umgebung nicht entgelten zu lassen. Die Stutzuhr auf dem Kamin schlug grade halb, als meine Frau ins Zimmer trat. Sie war in grosser Toilette und kam von irgendeiner mondänen Veranstaltung. Wenn ich nicht irre, war es ein Basar, den die Fürstin Hassfeld veranstaltet hatte.“
Die Hand des Vorsitzenden unterbrach: „Können Sie sich entsinnen, welche Toilette Ihre Gattin damals trug?“
Paulus van Geldern schien nachzusinnen. Ein unmerklich fragender Blick glitt zu Joachim Vierklee hin. Das scharfe, jetzt von einer gelblichen Röte überhauchte Gesicht des eben anfgestandenen Rechtsanwalts begegnete dem Auge des Klienten und gab Antwort: sprich, es ist ungefährlich!
„Müssen Sie sich das erst so lange überlegen?“ fragte der nicht ganz ahnungslose Vorsitzende.
Paulus van Geldern hatte seine Sicherheit wiedergewonnen. Er war nicht mehr der Angeklagte, er war der Anwalt des Beschuldigten und Angeklagter zugleich.
„Ich habe von jeher auf dem Standpunkt gestanden, Herr Vorsitzender, dass es unendlich falsch und gefährlich ist, einen Angeklagten auf gewisse Daten, Orts- und Zeitbestimmungen oder auf Äusserlichkeiten in seinen Bekundungen festzunageln. Wir Menschen haben alle ein so kurzes und leicht auszuschaltendes Gedächtnis, dass wir uns nur an wenige Ereignisse ganz deutlich zurückerinnern können.“
Der Vorsitzende hatte sich in seinem hohen Armstuhl nach hinten gelehnt, den Kopf auf dem Kragen blies er aus gespitzten Lippen die Luft von sich. Plötzlich aber senkte er den Kopf und sagte fast mit einem Anflug von Humor:
„Sie verkennen Ihre Rolle, Angeklagter! Sie sind hier nicht Verteidiger, wie Sie anzunehmen scheinen. Das ist Doktor Vierklee. Sie selbst sind der Angeschuldigte ... also verteidigen Sie sich, aber halten Sie keine metaphysischen Brandreden!“
Doktor Vierklee sprang ein: „Sie gestatten, Herr Landgerichtsdirektor: es kann nach der Strafprozessordnung Abschnitt V § 243 dem Angeklagten nicht verwehrt werden, sich in der seinem Bildungsgrad und seinem geistigen Niveau entsprechenden Art zu verteidigen. Wenn mein Klient glaubt, darauf hinweisen zu müssen, dass es unendlich schwer ist, selbst nach wenigen Tagen, sich an affektive Tatsachen zu erinnern, so liegt das durchaus im erlaubten Rahmen seiner Verteidigung. In dieser Anklage wegen Gattenmordes gibt es keine tatsächlichen Beweise. Nur Indizien gibt es hier ... reine Indizien! Wir alle aber wissen, welch eine unendliche Gefahr für die Gerechtigkeit hinter dem Indizienbeweis lauert! Der Angeklagte kämpft um seinen Kopf! Auch nicht eine Spur seines Verteidigungsrechts darf ihm verkümmert werden!“
„Ist ja gar nicht meine Absicht!“ lächelte Hallmann, „also weiter, wenn ich bitten darf, Angeschuldigter ... Wie war Ihre Frau an dem Tage angezogen?“
Die Journalistenbank gegenüber dem Platz des Angeklagten war doppelt gefüllt. Die Bleistifte spritzten stenographische Haken aufs Papier. Hin und wieder fragte einer der Reporter flüsternd den anderen. Aber der lehnte unwirsch ab: die Leser seiner Zeitung wollten nicht ein Wort dieses Verhörs verlieren!
Hans Lerse, der kraft seines wirklichen Könnens, aber auch durch sein unerhört scharfes Mundwerk stets der Spitzenreiter bei solchen Journalisten-Matches war, sah seinen Nachbar an und meinte leise: „Mit dem Vorsitzenden wird er’s bald verdorben haben, der van Geldern — ich verstehe Vierklee nicht, soll ihm doch ’s Maul verbinden!“
Dabei richtete er den Blick seiner kalten grauen Augen wie hypnotisierend auf den angeklagten Rechtsanwalt, der wirklich in diesem Moment hersah und mit jener Überempfindlichkeit aufs höchste gespannter Menschenseelen die Mahnung des Journalisten und ihre Richtigkeit zu begreifen schien.
„Meine Frau trug ein Chiffonkleid von Lindenblütenfarbe, in der damals schon langen Rockmode, mit vielen Falten und Zipfeln an Mieder und Rock. Dazu lange, goldgestickte, schwarzgrüne Lederhandschuhe und eine lichte Crêpe-Kappe auf ihrem dunklen Haar ...“
Der Vorsitzende nickte.
Aber Staatsanwalt Malkenthin erhob sich:
„Gestatten Sie, Herr Landgerichtsdirektor? ... Diese ausserordentlich konkrete Angabe ist der Beweis, dass der Angeklagte an jenem Tage und selbst in der fraglichen Stunde in seiner Beobachtungskraft durch nichts getrübt oder erschüttert war. Ich selbst wäre nicht imstande, mit solcher Genauigkeit und nach so langer Zeit — die Tat ist doch jetzt über ein halbes Jahr her! — nein, ich könnte durchaus nicht so detaillierte Angaben machen über das, was meine Frau damals anhatte!“
Hallmann sah nach rechts und links zu seinen beiden Beisitzern und den je drei Geschworenen hin, und auf allen diesen Gesichtern bemerkte er die absolute Zustimmung zu den Worten des Staatsanwalts.
Im Publikum war leises Raunen.
„Na, und, Angeklagter, was geschah dann weiter?“
Paulus van Geldern atmete wieder schwer:
„Ich kam mit meiner Frau in Streit.“
„Aus welchen Gründen?“
„Es