Der Pflug des Zorns - Ein historischer Roman. Maria Helleberg
sich in der Scheune, und Waffen, Kleidung, Blumenkränze und Pferdegeschirr waren im Stroh verstreut. Erik half ihm auf die Beine, und sie bahnten sich einen Weg durch Heuhaufen und schlafende Menschen.
Ihre erste Pflicht war es, die Messe zu hören; Gunnar hatte in der ganzen Zeit, die er auf Kalmarhus gewesen war, noch keine einzige versäumt. Aber heute mußte er noch vor Ende der Messe aus der Kapelle stürzen, um sich zu übergeben. Mit der Sonne und dem Tageslicht kehrte die Erinnerung zurück, ungeordnet und abscheulich. Er hatte – wider besseres Wissen, gewählt, und sein Körper war mit der Wahl nicht einverstanden.
Erik hatte seine ersten zehn Jahre bei den Brüdern im Alvastrakloster verbracht. Niemand hatte ihn darauf aufmerksam gemacht, daß das nur eine vorübergehende Unterbringung war. Sein Vater war einem Mord zum Opfer gefallen, und seine Mutter hatte sich entschlossen, eine neue Ehe einzugehen: ob es das schlechte Gewissen war oder reine Neugier, die sie nach Alvastra getrieben hatte, wußte er nicht. Er hatte seine Mutter drei-, viermal gesehen, immer nur ganz kurz – die Brüder bereiteten ihn auf die vornehme Dame vor, auf die Hofmeisterin der Königin. Aber er hatte in ihr nur eine gealterte, überarbeitete und harte Frau sehen können. Er bemühte sich, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie hatte elf Kinder geboren, die alle gestorben waren, bevor sich Erik wie durch ein Wunder als lebenstüchtig erwies. Aber diese alte Dame – er wußte nicht, was er zu ihr sagen sollte –, sie küßte ihn auf die Wange, weil es sich so gehörte, und nahm seine Hand, hörte ihm zu, abwesend, nachsichtig.
Dann hatte er eine Zeitlang auf Åkerö gewohnt, dem großen Hof, den er von seinem Vater geerbt hatte, aber der Verwalter meinte, er sei im Wege, deshalb schickten die Mutter und der Stiefvater ihn an den königlichen Hof.
Erik sehnte sich nicht zurück nach Alvastra, das behauptete er jedenfalls: Wenn der Weg zurück versperrt war, mußte man sich mit den vorhandenen Möglichkeiten abfinden. Und er hatte gelernt, sich in dem von den Mönchen gleichermaßen mit Furcht, Respekt und Sehnsucht als Welt bezeichneten Dasein zu behaupten. Er übernahm es, Gunnar die Tischsitten beizubringen, die rechte Art, sich zu bewegen und zu benehmen, sich richtig zu kleiden und höfisch aufzutreten. Gunnar war sein Werk, eine neue, verbesserte Ausgabe seiner selbst.
Erik ähnelte einem Mädchen und benahm sich manchmal, als seien sie beide verschiedenen Geschlechts: Gewöhnlich gingen sie Hand in Hand, und wenn sie sich trafen oder trennten, küßte Erik ihn mit spitzen Lippen auf den Mund. Aber alle anderen taten das auch, Gunnar ging davon aus, daß es sich so gehörte – so wie man auch wußte, daß man die fettigen Finger im Tischtuch und nicht in den Ärmeln des Nebenmannes abzuwischen hatte.
Als sie schließlich das Bettlager teilten, entdeckte Gunnar, daß Eriks Körper Duft verströmte: Selbst sein Schweiß war süßlich und geradezu angenehm einzuatmen. Sie wärmten einander unter der dünnen Decke, erwachten mit verschlungenen Armen und Beinen. Morgens saß Gunnar immer lange da und betrachtete heimlich seinen schlafenden Freund. Erik war eigenartig und zart und hatte seidenweiche Haut, mit weißem Flaum auf den Schultern und kleinen, blonden Locken im Schritt, sonst hatte er keinerlei Haare am Körper.
Sie ähnelten einander, aber im Unterschied zu Gunnar fühlte Erik sich in seinem Körper wohl und zu Hause. Er war zartgliedrig, ärgerte sich jedoch niemals über die fehlenden Kräfte. Ihm hatte niemand gesagt, daß er es doch nicht lernen würde, mit der Armbrust zu schießen. Erik konnte alles, wußte alles und würde ihm alles beibringen, daran zweifelte Gunnar nicht. Erik war sein Zugang zur Welt, durch seine bernsteinfarbenen Augen sah er die Welt. Aber nachdem er sein Herz an Erik verloren hatte, konnte er sich nicht einmal mehr zwingen, in die Bibliothek zu gehen. Eines Tages würde er zurückkehren, wenn er Zeit hatte; aber gerade jetzt gab es so viel anderes, was er kennenlernen mußte, entschuldigte er sich selbst.
Es war nicht immer leicht, Eriks Vertrauter zu sein – gerade als er glaubte, seinen Freund in- und auswendig zu kennen, stieß Gunnar auf eine Felswand. Erik, der jeden seiner Wünsche zu spüren schien, all seine Bedürfnisse und Sehnsüchte, konnte sich mit einem Schlag in Gefühllosigkeit und Härte verschließen, und Gunnar blieb zurück, einsam und gelähmt.
Sie gelangten durch Zufall hinunter in die Stadt Kalmar, und auf dem Weg zurück zur Burg kamen sie an einem kleinen Aufzug vorbei, der dem Schinderkarren folgte. Eine junge Frau saß auf dem stinkenden Strohhaufen des Wagens. Der Anblick veranlaßte Gunnar, sein Pferd anzuhalten, aber Erik verzog keine Miene. Die Frau sollte wegen Hurerei gebrandmarkt und zur Stadt hinaus gepeitscht werden, damit die braven Bürger sich nicht mehr mit ihr herumschlagen mußten, erklärte Erik mit leerer, gleichgültiger Stimme.
– Muß die Strafe denn so hart sein? fragte Gunnar erschüttert.
– Das geschieht, damit die Priester vor allzu großen Verlockungen geschützt werden, antwortete Erik und zuckte mit den Schultern.
– Aber dann müßten sie ja eher die Priester aus der Stadt peitschen, wandte Gunnar ein.
Die Menschen drängelten sich um den Galgen: Frauen mit lachenden Kindern, Männer mit gebratenen Hähnchen am Spieß, so daß man essen konnte, während die Unterhaltung stattfand. Sogar eine kleine Gruppe von Nonnen auf Durchreise war da, blaßwangige, ältliche Frauen, und sie waren nicht gerade die leisesten.
Der Schinder zog das Mädchen vom Karren – sie schwankte, als hätte man ihr etwas Starkes zu trinken gegeben; duckte sich vor seinen großen, harten Händen, fiel aber nicht, obwohl ihre Füße nackt waren und ihre Hände auf dem Rücken zusammengebunden.
Als sie an den Pfahl gebunden werden sollte, schenkte sie dem Schinder ein breites, zahnloses Lächeln.
– Er ist bestimmt ein guter, alte Kunde, glaub mir das, flüsterte Erik.
Der Schinder schlitzte ihr Kleid am Rücken auf. Sie stand da, die Hände hoch über sich am Pfahl festgebunden, und wartete, während das Urteil verlesen wurde.
Der Henker, der in einiger Entfernung gestanden und gewartet hatte, trat einen Schritt zurück, legte die vielen eisenbeschlagenen Lederstränge in der hohlen Hand zusammen, nahm gut Maß und gab ihr den ersten Streich quer über den Rücken und die Schultern. Ein einzelner Strang fuhr über ihr Gesicht, in ihren Mund, und zog eine schmale, rote Spur über die Wange.
Es sah aus, als überraschte sie der Schlag, von dem sie schräg nach vorn gegen den Pfahl geschleudert wurde: die gebundenen Hände griffen nach oben auf der Suche nach einem festen Punkt, aber sie fanden nichts, und beim dritten Schlag sank sie mit einem kindlichen Jammern zusammen; versuchte, um den Pfahl zu fassen, blieb jedoch, den Kopf schräg nach hinten geworfen, hängen.
Gunnar konnte die Züchtigung einfach nicht mehr ansehen. Er ritt sein Pferd in die nächststehenden Zuschauer hinein, die mit offenen Mündern dastanden und gafften und wütend über die Unterbrechung waren – er schlug mit beiden Füßen, Sporen und Peitsche, um zu entkommen, rief den Leuten Schimpfwörter zu.
Erik holte ihn erst oben an der Zugbrücke ein, wo er vom Pferd gestiegen war und weinend im kniehohen Gras auf und ab ging, mit den Armen gestikulierte und gegen das Schauspiel wetterte, dessen Zeuge er gerade geworden war.
– Sie kann ja von nichts anderem leben als von dem, was sie verkauft! rief er, als Erik ihm sanft und beruhigend die Hand auf den Arm legte – Wer hat sie denn bezahlt? Sie lebte davon, aber wer bezahlte sie? Wo ist der Pfahl, an dem man die Männer festbindet und auspeitscht, die sie gezwungen haben, sich zu verkaufen?
– Dann müßten wir ja alle bestraft werden, wandte Erik bestürzt ein.
Gunnar spürte, daß er niemals ihre mageren, unsauberen Hände aus seiner Seele verbannen könnte: Er blieb zurück mit der Schuld, ohne sie benennen zu können.
Den ganzen folgenden Monat über glitt er wie ein Schatten an der Bibliothek vorbei, ohne auch nur einen Blick auf die Tür zu werfen, die immer noch zu öffnen gewesen wäre, wenn er sich nur getraut hätte. Er versuchte, sich mit ganzer Seele und all seinen Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die innere Zerrissenheit, die er nicht heilen, mit der er aber auch nicht leben konnte.
Das Pferd gähnte, scharrte mit den Hufen