Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
sie auf einem Stuhl im Wohnzimmer gedöst hatte. Dass er die Augen aufgeschlagen hatte. »Kit«, hatte er mit seiner alten, gut gelaunten Stimme gesagt. »Kit, mein Schatz. Sollen wir den Baum jetzt fällen?«
»Wir können jetzt nachsehen«, sagte sie und spürte ihre Unsicherheit. Denn sie hatte auch Angst gehabt und wie üblich dichtgemacht. Sich eingebildet, dass vielleicht die eine oder andere gute Fee kommen und sich um alles kümmern würde. Aufräumen und dafür sorgen, dass da, wo er gefallen war und das Regal mitgerissen hatte, nichts zu sehen war.
Henrik stand auf. »Komm.«
Es sah noch genauso aus wie an dem Morgen, als die Sanitäter die Bahre hereingetragen und ihn vorsichtig daraufgelegt und in Decken und Gurte eingepackt hatten. Nur das Bild von Karen-Lis hatten sie zurück auf den Tisch gestellt. Da saß sie und sah sie aus dem Rahmen heraus an. Das helle Haar zottelig kurz, das Gesicht schmal und fein auf dem langen Hals, den Blick auf ihren eigenen Namen auf der Titelseite der Zeitung gerichtet.
Henrik kniete sich hin und richtete vorsichtig das Regal auf.
»Es war schon immer wackelig«, sagte Kit. »Erst letzte Woche habe ich vorgeschlagen, ein neues zu bestellen. Es gibt so viele schöne. Aber natürlich keins, das Großmutter gehört hat ...«
Sie wusste, dass sie vor sich hinplapperte. Merkte, wie sich die Kehle zusammenschnürte und das Asthma sie keuchen ließ. Nie hatte ein Foto von ihr im Büro gestanden. Auch keins von ihrer Mutter.
»Ihr seid ja hier«, pflegte ihr Vater zu sagen. »Ihr seid ja direkt um die Ecke. Karen-Lis ist so weit weg.« Und das stimmte schließlich.
Sie sammelten alles auf. Bücher und Zeitschriften, die durcheinander lagen. Ordner, aus denen sich das meiste gelöst hatte und herausgefallen war, Jahrbücher aus Hongkong, die sorgfältig durch Jahre hindurch in schweren Bänden gesammelt worden waren. Kit setzte sich auf den Boden. Fand eine Weihnachtskarte und las sie. Sie war von einer Tante in Aarhus. Ein kleines Paket von DK-Textil stellte sich als Kunstkalender heraus, ein Weihnachtsgeschenk mehr von Geschäftsfreunden.
Sie sahen ihn beide gleichzeitig. Den kleinen roten Briefumschlag, der unter einem Buch darüber klemmte, was 1982 in Hongkong passiert war, und auf dessen Umschlag zwei chinesische Mädchen vor einem Hintergrund aus blühenden Frühlingsazaleen zu sehen waren. Kit streckte die Hand aus und zog das Kuvert hervor. Es war geöffnet, sah sie. Die Lasche war kaputt, als wäre sie aufgerissen worden. Sie nahm die Karte heraus. Es war eine neutrale weiße Karte. Keine Dekoration, kein Weihnachtsschmuck, keine Farben. Auf der rechten Seite standen nur drei mit sauberer Feder geschriebene chinesische Zeichen.
Henrik sah ihr über die Schulter. »Glaubst du, dass es das ist?«
Kit nickte. Spürte die Unruhe.
Henrik drehte den Umschlag um. Er war in Dänemark abgestempelt. »Kein Absender. Keine Unterschrift. Nur drei Zeichen.«
Sie nickte wieder. Drei Zeichen. Die ihr Vater deuten konnte, die für sie jedoch böhmische Dörfer waren. Trotzdem war sie sicher. »Das bedeutet etwas, ich weiß nicht was. Etwas, das ihn aufgeregt hat.«
»Vielleicht ist es nur eine Weihnachtskarte«, meinte Henrik.
»Dann stünde etwas in unseren Buchstaben darauf. Zumindest der Name meines Vaters und der des Absenders.«
Henrik nahm das letzte Jahrbuch und stellte es an seinen Platz. Dann begutachtete er das Regal, das noch immer unsicher stand. »Ich sollte wohl besser vorbeikommen und es reparieren«, murmelte er.
Als sie zwei Stunden später zurück ins Krankenhaus kamen, waren sie mit Kleidung und anderem, das mitzubringen ihre Mutter sie gebeten hatte, bepackt. In einem Anfall von Optimismus hatte sie auch nach den Kamelhaarpantoffeln ihres Vaters geschickt.
»Irgendeine Veränderung?«, fragte Kit ihre Mutter vorsichtig, die bleich und ausdruckslos am Bettrand Wache hielt.
»Der Arzt war hier. Aber er kann nichts sagen. Es kann plötzlich passieren. Aber es kann auch sein, dass es nicht passiert.«
»Dass er stirbt oder dass er aufwacht?«, wollte Kit fragen, aber sie brachte es nicht über sich. Deshalb setzte sie sich ihrer Mutter gegenüber und wunderte sich, dass sie das ganze Weiß sehen und den Krankenhausgeruch einatmen konnte, ohne zu erschaudern. Ihr Vater lag noch immer wie in tiefem Schlaf, mit Schläuchen in Nase und Armen und Instrumenten, die bewegliche Kurven auf grünen Schirmen zeigten und merkwürdige unpersönliche Laute von sich gaben.
Henrik blieb noch eine Weile. Zog sich einen Stuhl heran und setzte sich still hin. Sie konnte nicht auf seinem Gesicht lesen. Sie überlegte, wer die Karte mit den drei Zeichen deuten konnte. Sie könnte sie natürlich nach Hongkong faxen, wollte aber niemanden mit hineinziehen, der die Familie kannte.
Auf dem Gang hörten sie Schritte. Entschlossene Schritte, bei denen die Hacken fast auf den Boden knallten. Plötzlich verstummte das Geräusch, und die Tür ging auf.
Karen-Lis stand einen Moment ganz still, als hätte alle Selbstsicherheit sie verlassen. Kit sah ihre Mutter an und sah Tränen in ihren Augen, wie sie sie seit Karen-Lis’ Abreise nicht mehr gesehen hatte.
»Hei, Schwester«, sagte Karen-Lis, nachdem die Mutter sie losgelassen hatte.
Kit stand auf. Die Umarmung war heftig, aber kurz. Sie spürte, wie die Trauer hochkam und drängte sie zurück.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte sie.
»Gleichfalls. Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Wie geht es ihm?«
Karen-Lis setzte sich. Nicht auf den Stuhl, sondern auf den Bettrand. Sie beugte sich vor und küsste ihren Vater auf die Stirn.
»Fröhliche Weihnachten, du alter Schurke«, sagte sie mit zitternder Stimme.
Ein paar Sekunden vergingen. Kaum mehr. Karen-Lis runzelte die Stirn und beobachtete die Herzkurve auf dem Monitor. Dann war plötzlich Bewegung in seinem Arm, als wollte er sie alle segnen. Kit sah verwundert, wie ihr Vater die Augen öffnete und seine älteste Tochter ansah.
»Karen-Lis«, flüsterte er. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?«
7
Er konnte ihre Gesichter sehen. Aber er konnte sich nicht bewegen. Seine Hand gehorchte ihm nicht, sodass er nur ganz langsam den Blick über sie schweifen ließ.
Warum sprachen sie mit ihm, als wäre er ein Idiot? Warum saß Kit da, fahrig und nervös, als hätte sie ein Gespenst gesehen? Selbst Karen-Lis starrte ihn an, als wüsste er die Antwort auf den Sinn des Lebens und darauf, was sie mit ihrem Leben anstellen sollte. So war es, Vater zu sein. Wie viel er auch für sie tat, sie erwarteten immer noch mehr.
Plötzlich war er furchtbar müde. Hätte sich gerne entschuldigt; hätte ihnen gerne gesagt, dass sie selbst eine Lösung finden mussten. Dass sie ohne ihn zurechtkommen mussten. Was sie auch konnten, das wusste er. Aber seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr.
Er schloss die Augen. Sehnte sich. Danach, keine Verpflichtungen zu haben, nur seiner eigenen Lust folgen zu können. Er mochte das Weiß nicht, die knochentrockene Luft und den Geruch von Reinheit. Er sehnte sich nach den Tropen mit ihrer Feuchtigkeit, sodass er atmen konnte und seine Haut sich nicht zusammenzog und rissig wurde vor Berührungsangst. Er sehnte sich nach exotischen Früchten und in Straßenküchen gebratenem Fisch mit dem Risiko, sich mit allen möglichen Krankheiten anzustecken. Er sehnte sich nach Lärm und Verkehr und kleinen schreienden Menschen in flachen Schuhen. Danach, sich einfach in eine Rikscha zu setzen und die Straße hinuntergefahren zu werden, hinein in das Gewimmel. Falls er sterben sollte, dann am liebsten so. Mitten in dem summenden Inferno aus Lärm und Feuchtigkeit und Gerüchen; dem Kessel aus zitternder, geldgieriger Unternehmungslust.
»Seht, er lächelt«, hörte er von weither Kits Stimme.
»Ich glaube, er träumt«, sagte Karen-Lis und klang fast wie damals, als sie noch ein kleines Mädchen war und auf seinem Arm saß.
Damals. Bevor alles angefangen hatte. Vorher. Es hatte ja ein Damals