Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
ließ sich von seiner Rotweinstimme nicht abschrecken. »Wir wollten Star Wars spielen. Du hast es versprochen.«
»Wann habe ich das versprochen?«
»Als du Gute Nacht gesagt hast. Du hast gesagt, dass wir heute spielen, wenn ich mir selbst die Zähne putze und ins Bett gehe.«
Wenn Victor sich daran erinnerte, war es zweifellos richtig. Dieser Junge hatte ein Gedächtnis wie ein Computer. Henrik zog sich die Bettdecke als Schutz gegen das Licht, das ihn blendete, über den Kopf. Das war die Strafe, wenn die eigene Schwester zum Weihnachtsessen einlud und einen wehrlosen Bruder so mit Alkohol voll pumpte, dass er die Nacht im Gästezimmer verbringen musste.
Nach und nach kam die Erinnerung in ungleichen Bruchstücken zurück, die verdächtig an Jannes Rumkäse und eine Viertelflasche vergeudeten Bacardi-Rum erinnerten. Nachdem er den Tag mit Kit und ihrer Familie verbracht hatte, war er auf eine Party zu seiner Schwester und seinem Schwager gefahren. Der Wein war geflossen, das konnte man nicht leugnen. Gewöhnlich trank er nicht so viel, aber jetzt erinnerte er sich an das Gefühl, einfach vergessen zu wollen. Eine Mischung aus Angst und Sorge und Ärger über das, was passiert war. Darüber, plötzlich wieder in Kits Welt katapultiert worden zu sein und keinen Fluchtweg zu sehen. Über die verdammte Anziehungskraft, die die ganze Familie, das ganze Haus in der Birchsallee anscheinend doch noch immer auf ihn hatte.
»Wie spät ist es?«, fragte er aus der Tiefe der Bettdecke.
»Fünfunddreißig«, antwortete Victor, der noch immer ein etwas unklares Verhältnis zu Zahlen hatte.
Henrik lachte, dass ihm die Schläfen wehtaten. »So heißt das doch nicht, du Affe.«
Victor kletterte ins Bett und zog an der Decke. »Und wie heißt es dann?«
»Sieben Uhr vierzig.«
»Nein, tut es nicht. Du lügst.«
»Tu ich nicht.«
»Tust du doch.«
»Du sollst nicht widersprechen, Junge.«
»Du sollst nicht lügen«, sagte Victor und kam ihm mit seinem ernsten Gesicht ganz nahe. Plötzlich war der Schelm weg und ein offener verletzlicher Blick begegnete seinem, unvorbereitet auf die Bosheit der Welt. Kit, dachte er. Kits Augen, wenn sie etwas nicht verstand. Wenn Karen-Lis sie verletzt hatte, ohne es zu wissen oder zu wollen. Wenn ihr Vater zu beschäftigt war. Wenn die Welt ungerecht war. Wenn er sie nur an sich ziehen sollte, ohne Fragen zu stellen. Da sein sollte, bis es vorüber war.
Henrik drückte einen Onkelkuss auf Victors weichen Flaum. »Völlig richtig. Lügen ist verboten.«
»Verboten«, jubelte Victor, denn er liebte das Wort, das er von den schönen Verkehrsschildern mit den roten Querstrichen kannte. »Man darf nicht lügen. Man darf nicht pupsen. Man darf nicht parken.«
Henrik stützte sich mühsam auf den Ellenbogen. »Jetzt hör mir einmal zu. Warum malst du nicht ein Bild mit allem, was verboten ist. Mit roten Schildern und so. Dann spielen wir später Star Wars.«
Victor schien den Vorschlag zu überdenken. Henrik konnte die ganzen roten Schilder, die in seinem Kopf Schlange standen, nahezu sehen. Dann sprang er schnell aus dem Bett und lief zur Tür.
»Okay«, sagte er. »Aber dann musst du auch tun, was darauf steht.«
Später, als sie hatten gespielt und der Kaffee die Kopfschmerzen in die Flucht geschlagen hatte, erinnerte er sich an seine Verabredung mit Carsten auf dem Nyborger Wall und verfluchte sich und seinen Weihnachtsoptimismus. Carsten war der einzige Kollege in der Firma, zu dem er noch immer Kontakt hatte. Dreimal in der Woche joggten sie morgens zusammen. In den Weihnachtstagen waren sie jedoch realistisch genug gewesen, das Treffen auf elf Uhr zu verschieben. Anschließend hatte er sich zu einem späten Frühstück mit Mette verabredet. Sie hatte die Weihnachtsferien bei ihren Eltern in Aarhus verbracht und war heute zurückgekommen.
Er erwog ernsthaft, beide Verabredungen abzusagen. Vielleicht sollte er lieber Kit anrufen und hören, wie es stand. Oder den Amazon waschen. Oder einfach hier im Havrevej bleiben, wieder ins Bett gehen und vorgeben, dass es ihm schlecht ging.
Aber das war unrealistisch. Victor würde ihn durchschauen und weitere Unterhaltung fordern. Es geschah nicht so oft, dass er seinen Onkel einen ganzen Tag in Reichweite hatte.
Spielen oder laufen. Pest oder Cholera. Nach ein paar mit dem Kaffee heruntergespülten Thomapyrin waren die Kopfschmerzen schwächer geworden. Vielleicht würde ein bisschen Luft ihm helfen, klar zu denken.
Er entschied sich für die Cholera.
Während sie liefen, begann es zu schneien. Große weiße Flocken fielen auf die Erde und wurden zertreten und in Matsch verwandelt. Oder sie sammelten sich an exponierten Stellen, an denen sie das sparsam wachsende Gras besiegten, zu Haufen und schufen die Illusion einer weißen Nachweihnacht. Der Himmel war noch immer bleischwer, sodass er fast Pulvergeschmack auf der Zunge hatte. Das Schloss von Nyborg lag mit seinen dicken Mauern wie ein Schutz gegen das dänische Wetter und andere Feinde da, während die beiden masochistischen Vollidioten in ihren Trainingsanzügen das Gras auf dem Wall niedertrampelten.
Carsten schüttelte den Kopf, dass der Schweiß nur so tropfte. »Das wundert mich eigentlich nicht, weißt du. Stress und Hetze und Gläubiger und unmögliche Kunden. Es ist hart, ein Geschäft zu haben! Fast zum Umfallen.«
Henrik sah ihn von der Seite an. Dachte, dass er selbst umfallen würde, wenn sie ihr Tempo nicht etwas reduzierten. Carsten sah auch nicht besonders gut aus. Unter seinen Augen waren dunkle Ränder, und das Gesicht hatte etwas Bleiches, Beklommenes.
»Du bist doch selbst Teil davon«, sagte Henrik.
Carsten, der in der Firma als Shippingmanager arbeitete, hatte die Gewohnheit, beim Laufen zu reden. Er selbst zog die Stille und das Zusammengehörigkeitsgefühl vor, deshalb ließ er den Freund über alles Mögliche reden und begnügte sich selbst nur mit Stichworten. Heute hatte er sowieso nicht genügend Puste, um gleichzeitig zu laufen und zu reden.
Carsten nickte finster. »Mehr als du ahnst. Es war ziemlich hart in der letzten Zeit«, gab er zu und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Als du gekündigt hast, wurde es plötzlich schlimmer. Überstunden. Fuck ups. Und der Häuptling in Gewitterstimmung.«
»Er hat es ziemlich persönlich genommen«, sagte Henrik.
»Das war persönlich«, stellte Carsten fest. »Zuerst hast du den Job gekündigt, und dann habt ihr euch getrennt. Plötzlich wolltest du weder das Königreich noch die Tochter.«
Henrik sagte nichts. Aber er konnte Erik Bennetts Blick vor sich sehen, genau wie Kits und Victors. Nackt und offen und so voller Enttäuschung, dass es wehtat. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Er war lange vorher zu dem Schluss gekommen, dass sein Schwiegervater im Grunde hart und irgendwie unsensibel war. Eine menschliche Rechenmaschine. Charmant und voller Wärme, wenn es zu seinem eigenen Vorteil war, doch ansonsten so kalt wie die Schneeflocken, die jetzt auf seiner Stirn und auf seinen Wangen landeten.
Trotzdem waren ihm Zweifel gekommen. War sein Entschluss an dem Tag ins Wanken gekommen, als er in sein Büro marschiert war und ihm seine Kündigung überreicht hatte. Erik Bennett hatte sie gelesen. Den Blick gehoben, diesen unverstehenden, milchigen Blick. Die Stimme hatte leicht gezittert, aber nicht vor Wut.
»Warum?«, hatte er nur gesagt, und zu seiner Verzweiflung hatte Henrik eine Träne gesehen, die sich ihren Weg aus den Augenwinkeln bahnte und im Zickzack zwischen den kleinen Fallgruben der Runzeln herunterlief. Er war außer Stande gewesen zu antworten.
»Ist es das Gehalt? Wir können über das Gehalt reden«, hatte die Stimme gesagt. »Verdammt noch mal, Junge, wir sind doch fast eine Familie.«
Der alte Häuptling hatte es wirklich nicht verstanden. Das hatte ihn am allermeisten erschreckt. In Erik Bennetts Blick hatte er die Enttäuschung eines Vaters über einen Sohn gelesen, der ihn im Stich gelassen hat, und in ihm war ein Gefühl aufgestiegen, das er in Verbindung mit einem Schwiegervater nicht für möglich gehalten hatte: Er hatte