Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
Käsebrot weg, holte ein Taschentuch aus der Tasche und schaffte es gerade noch vor dem Nieser. »Elterliche Loyalität ist offenbar grenzenlos«, schniefte sie.
»Mit Schwestern ist das womöglich anders«, sagte Karen-Lis.
Jetzt lag etwas Ängstliches in ihrem Blick. Gegen ihren Willen spürte Kit, wie das Gefühl von Liebe sich in ihr ausbreitete.
Geschwisterliebe, die sich ihrer Kontrolle entzog. Konnte man denn nichts in diesem Leben selbst bestimmen?
»Was ist passiert? Warum bist du plötzlich aus unserem Leben verschwunden, als wir dich am meisten gebraucht haben? Wie konntest du ihnen das antun?«
Sie wollte ihr keine Vorwürfe machen. Wünschte, es lassen zu können.
Karen-Lis stellte leise eine Gegenfrage: »Und dir, oder? Warum fragst du mich nicht danach? Hasst du mich?«
Kit wurde von einer Woge aus Gefühlen überrollt, einer Mischung aus Trauer und Verlust und der Erinnerung daran, wie sie sich früher gegenseitig gestützt hatten. Aber vielleicht war es in Wirklichkeit sie, die am meisten gestützt worden war.
»Du bist meine große Schwester. Wir sollten immer aufeinander aufpassen. Wir sollten immer die Verantwortung teilen und da sein, wenn es schwer war. Nach Großmutters Tod hättest du anders handeln können, was ich nicht konnte. Sie waren immer mit dir beschäftigt. Nach dir haben sie sich immer gesehnt.«
Karen-Lis legte vorsichtig ihre Hand auf Kits. So hätte es sein sollen. Eine Hand, die sich über Unterschiede und Zeit und Orte hinweg ausstreckt. Sie hätte da sein sollen, um sie festzuhalten, als nach Großmutters Tod die Trauer von ihnen Besitz ergriff; als ihr Vater den ersten Herzanfall hatte; als er anfing, in Zirkeln um sich selbst zu kreisen und Einklebebücher anzufertigen; als er seine älteste Tochter nie mit vielen Worten erwähnte, weil er Angst vor den Tränen hatte, für die er sich schämte. Was brachte es, eine Tochter zu haben, wenn sie nicht da war?
»Warum vergisst du dich die ganze Zeit?«, fragte Karen-Lis.
Kit zuckte mit den Schultern. »Ich vergesse nichts und niemanden. Aber ich habe vor allem an sie gedacht. Ich habe gesehen, wie sie jeden Tag kleiner und kleiner geworden sind. Hast du gesehen, wie dünn Mutter geworden ist?«
Sie spürte die Stimme, die zu den PH-Lampen hinaufstieg. »Hast du gesehen, dass Vater ganz grau geworden ist? Siehst du überhaupt etwas anderes als dich?«
Karen-Lis zog ihre Hand zurück. Kit sah, wie das Licht auf ihrer Haut und mit ihren Gesichtszügen spielte. Sie sah den feinen Winkel der Nase und wie die Kurven des Kinns leicht kantig geworden waren; wie die Lippen sich spitzten, als sie von dem Saft trank. In den Falten um die Mundwinkel erkannte sie die beharrlichen Züge ihres Vaters.
»Ich bin nicht so wie du«, sagte Karen-Lis schließlich. »Ich habe niemandem etwas Böses gewollt. Es war meine Art, mir einen Inhalt zu schaffen. Ich musste für eine lange Zeit weg. Und mich fern halten.«
»Das war also Absicht.«
»Natürlich war das Absicht. Aber ich konnte nicht anders. Ich war dabei, von euren Erwartungen und euren Forderungen nach Verantwortung und der Familie hier und der Familie da erstickt zu werden. Zum Schluss habe ich mich selbst nicht mehr gespürt.«
Kit lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie hörte die Worte, aber sie verstand sie nicht. »Geht es wirklich darum? Sich selbst zu spüren? Und ich habe geglaubt, es ginge um die Liebe zu den anderen und darum, das Seine im Leben zu tun.«
Karen-Lis lächelte schwach, »Vielleicht habe ich gehofft, beides kombinieren zu können. Aber offenbar hat das nicht funktioniert.«
»Egoismus. So nennt man das wohl.«
Karen-Lis schien zu überlegen, ob sie empört sein oder sich dafür entscheiden sollte, es humorvoll zu nehmen. Schließlich lächelte sie quer über den Tisch.
»Manchmal ist das der einzige Weg nach vorn.«
Ein Klirren ertönte, als einer Dame an einem anderen Tisch die Gabel auf den Boden fiel. Das Geräusch schien sie aufzurütteln. Kit dachte an ihren Vater und an die rote Karte. Die Worte kamen, ohne dass sie es eigentlich wollte.
»Ich glaube, dass es jemand auf Vater abgesehen hat. Jemand, der ihm Böses will. Ich versuche herauszufinden, was vor sich geht.«
Einen Moment saß Karen-Lis ganz still da. Das Lächeln war verschwunden, abgelöst von Sorge. Sie beugte sich wieder vor und begegnete Kits Blick. Plötzlich begriff Kit, dass die Sorge ihr galt.
»Lass das, Schwester«, sagte Karen-Lis langsam, und Kit hatte das Gefühl, plötzlich wieder sechs Jahre alt zu sein und nach einem weiteren bösen Traum von dem mit Spiegeln verkleideten Pavillon Trost bei ihrer Schwester zu suchen.
»Lass es sein. Du machst dich nur unglücklich.«
Sie dachte an die letzten Worte ihrer Schwester, als sie auf der Autobahn zurück nach Nyborg und zu ihrer Verabredung fuhr. Fragte sich, was Karen-Lis gemeint hatte, tat es dann jedoch als unwichtig ab. Das war typisch Karen-Lis, plötzlich hereingeschneit zu kommen und alles bestimmen zu wollen, obwohl sie kein Teil der Familie mehr war. Denn das war sie nicht. Nicht richtig. Sie hatte kein Gespür für das, was vor sich ging, wusste nicht mehr, wie sie dachten. Konnte sich nicht in ihrer Welt und ihren Alltag versetzen. Sie war zu Besuch, nichts anderes. Es nützte nichts, sich zu öffnen und die alte Vertrautheit zuzulassen. Sie würde schwuppdiwupp wieder aus ihrem Leben verschwunden sein, und man selbst blieb mit abgeschnittenen Nerven und Gefühlen, die in ihrer Nacktheit herumbaumelten, zurück.
Ein kräftiger Windstoß rüttelte an der Karosserie. Kit hielt das Lenkrad von Großmutters altem Volkswagen fest, als sie Richtung Innenstadt abbog. Es war noch immer mit ihrem Lammfell bezogen, das da, wo die Hände zugepackt hatten, bis auf die Haut hinunter abgenutzt war. Sie vermisste diese Hände. Erinnerte sich an jeden einzelnen gebogenen Finger und an den Saphirring, der an der rechten Hand glitzerte. Sie musste daran denken, das Fell einmal umzudrehen, damit man wieder weiche Wolle anfasste.
Es schneite jetzt stark. Millionen von Flocken schienen beschlossen zu haben, zum Angriff auf sie überzugehen, und sie überlebte nur durch den Panzer der Frontscheibe. Sie parkte auf dem Markt in der Mitte der Stadt, hängte sich die Tasche über die Schulter und ging schaudernd durch den Schnee, der auf dem Asphalt zu Pfützen schmolz oder auf Treppen und Hausvorsprünge geweht wurde.
Sie zog sich den Hut extra tief über die Ohren und hielt ihn fest. Vielleicht war es doch gut, dass Karen-Lis sie gewarnt hatte. Sonst hätte sie vielleicht weitergemacht. Hätte vielleicht die Karte mit den chinesischen Schriftzeichen aus der Tasche gezogen und sie eingeweiht. Und sie hatte das Gefühl, dass es zu früh war. Karen-Lis verdiente die Vertrautheit nicht. Sie hatte sich selbst ins Abseits manövriert.
Die Frau in dem chinesischen Restaurant hatte am Telefon zuerst ein wenig misstrauisch geklungen. Als glaubte sie, zum Narren gehalten zu werden. Aber es passierte natürlich auch nicht jeden Tag, dass jemand sie bat, einen chinesischen Text zu übersetzen, sodass Kit schließlich einen Tisch reserviert hatte. Sie hatte Henrik gefragt, ob er mitkommen wolle, aber er hatte ihr mitgeteilt, er sei heute beschäftigt.
Kurz wie ein Windstoß durchfuhr sie Panik. Vielleicht zog er sich bereits wieder zurück. Vielleicht hatte er das Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, jetzt, wo ihr Vater stabil und Karen-Lis nach Hause gekommen war. Vielleicht hätte sie ihn nicht drängen sollen. Hätte den Bruch nicht wieder erwähnen sollen.
Während sie ging, drückte sie die Tasche an sich. Das Recht war auf seiner Seite. Er hatte sein eigenes Leben, wie er selbst gesagt hatte. Warum ihn in etwas hineinziehen, worin er lieber nicht hineingezogen werden wollte? Sie fischte ein Taschentuch aus der Tiefe ihrer Manteltasche hervor. Musste stehen bleiben, während sie nieste. Verdamm, warum war sie so sensibel. Zum Teufel mit der Abhängigkeit. Wenn sie sich doch befreien könnte wie Karen-Lis. Wenn sie sich doch damit begnügen könnte, ihr eigenes Leben zu leben und nicht das der anderen, dann würde sie vielleicht auch nicht so abschreckend wirken. Denn aus diesem Grund hatte sie ihn doch verloren. Das wusste sie genau. Weil sie die Tochter ihres Vaters