Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi. Elsebeth Egholm
war, hungrig und unsicher dem Leben gegenüber. Eine Unsicherheit, für die sie sich schämte und die sie vor allen verbarg. Weil sie nicht erlaubt war.
Sie war nur das eine Mal mit Jesper zusammen gewesen. Und dann hatte sie ein paar Wochen später auf einer Fete neben ihm gesessen, überzeugt von ihrer Zusammengehörigkeit nach den gemeinsam verbrachten Stunden, wo sie dagelegen und zu der geblümten Tapete hinaufgeschaut und gewusst hatte, dass das das vollkommene Glück war. Hier und nur hier, in ihn verschlungen, so nah, dass sie die Luft einatmete, die er ausatmete, konnte sie alles vergessen.
Ganz selbstverständlich hatte sie ihre Hand auf seine gelegt, die dort auf der Lehne des Stuhls lag, mit dem Lederriemen und den tunesischen Perlen in aufgemaltem Blau. Einen langen Augenblick lag ihre Hand auf seiner, und sie spürte die Wärme und die Erinnerung an den Abend in ihrem Zimmer, die durch ihren Körper flössen, spürte die Blicke der anderen, die sahen und wussten, was das zu bedeuten hatte. Dass sie nun zusammen waren – ein Paar.
Dann zog er seine Hand ohne ein Wort weg.
Als sie mit Auspacken fertig war, ging sie zum Fenster und sah in den Garten hinunter, in dem Kit und sie als Kinder gespielt hatten. Jetzt lag dort eine Lage von pappigem, schmelzendem Schnee, festgeleimt an den nackten stacheligen Ästen und entblößten Büschen. Und sie verstand nicht, dass sie plötzlich hier stehen konnte, wo sie doch noch immer Henriettes Arm um ihre Schultern spüren und vor sich die toten Bäume des Kariba-Sees und die funkelnden Blicke der Kinder sehen konnte, als der Weihnachtsmann endlich kam.
Einen Moment fragte sie sich, wie Kit reagiert haben würde, wenn sie dort gewesen wäre. Wenn sie die Kinder gesehen hätte, gespürt hätte, wie sie sich festkrallten und einem die Arme um den Hals schlangen, wenn sie in ihre Augen gesehen und das Leben gespürt hätte, das auf geliehener Zeit basierte. Kit, deren Herzenstür immer weit offen stand wie eine Einladung.
Aber das war unrealistisch. Sie hätte das nicht zugelassen. Denn Kit hätte so einen Sturmangriff auf eine offene Tür nicht überlebt. Bei ihr war das etwas anderes. Sie war hart geworden, schon früh. Bei ihr gab es keine Türen, die einen Spalt breit offen standen.
Sie ging in die Küche hinunter, wo ihre Mutter Kaffee gekocht und selbst gebackenes Brot und Käse und Marmelade auf den Tisch gestellt hatte. Sie selbst saß mit einer leeren Tasse Kaffee am Tischende, noch mit der Schürze. Wie immer mit der Schürze.
»Ich dachte, wir sollten dich ausschlafen lassen.«
»Gut gedacht, Mutter«, sagte Karen-Lis und schmierte sich ein Brot. »Was für eine Reise.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht verstehen, wie du so schnell kommen konntest. Aus Afrika.«
»Das Telegramm ist von einem Mann gebracht worden. Zuerst haben wir ihn für den Weihnachtsmann gehalten. Ich bin nur noch ein paar Stunden geblieben, bis der richtige Weihnachtsmann da war. Du hättest sie sehen sollen, Mutter ... ihre Freude.«
Sie hielt inne. Spürte eine Verlegenheit, die sich zwischen sie schlich. Fuhr schnell fort. »Also, wir haben vier Stunden bis Bulawayo gebraucht. Henriette hat mich mit dem Landrover gefahren. Von da aus habe ich ein Flugzeug nach Joburg bekommen. Dann über Frankfurt nach Kopenhagen und nach Odense. Hast du im Krankenhaus angerufen? Was ist mit Kit?«
Ihre Mutter nickte. »Sie ist schon da. Bis wir kommen, dann hat sie etwas anderes vor.«
»Sie ist sauer auf mich.«
Ihre Mutter musterte eingehend die Kaffeekanne. Es war, als wäre sie in Trance gefallen. »Ihr seid so verschieden«, sagte sie nur.
Sie hatte ihre Mutter fragen wollen, was schief gelaufen war. Warum sie plötzlich ihren Vater dort im Krankenhaus liegen sehen musste, umgeben von Krankenschwestern mit raschelnden Kitteln und dem Geruch von Desinfektionsmitteln. Was ihm die Kräfte geraubt hatte wie im alten Ägypten, wenn Anubis mit dem Schakalkopf die Toten vor ihrem Treffen mit Osiris, und bevor ihre Herzen auf der Waage gegen die Feder der Wahrheit gewogen wurden, ihres Inhalts entleerte.
Aber sie konnte nicht fragen. Denn sie wusste genau, dass ihre Mutter ihr nicht helfen konnte. Dass sie nichts wusste, weil sie nichts wissen wollte. So war die Ehe ihrer Eltern vielleicht immer gewesen. Auch bevor sie und Kit Augen und Ohren bekamen. Eng verbunden, aber mit der stillschweigenden Übereinkunft, nicht zu viele Fragen zu stellen. Oder war es einmal anders gewesen? Gab es vielleicht eine Vertrautheit, von der niemand wusste, wie es in so vielen Ehen der Fall war?
Karen-Lis’ Blick wanderte zur Kühlschranktür, die, so lange sie zurückdenken konnte, mit Fotos aus dem Alltagsleben der Familie geschmückt war. Sie suchte nach neuen Bildern, die während ihrer Abwesenheit aufgenommen worden waren. Aber es gab keine. Die Zeit schien in den letzten Jahren aufgehört haben zu existieren. Als könnte man das gesamte Familienleben in die Jahre in Hongkong und die ersten Jahre in Nyborg pressen.
Sie stand auf und sah sich die Fotos näher an. Sie selbst und Kit, wie sie sich im Garten in Hongkong umarmten; ihre Eltern in Festkleidung vor dem Eintreffen der Gäste; Nachbarn und Freunde, die Silvester an einem schön gedeckten Tisch saßen. 1972 stand auf dem Kranzkuchen in der Mitte des Tisches. Sie erinnerte sich an die meisten: Mary Wong, die rechte Hand ihres Vaters in der Firma, sein früherer Chef, Abel Zimmerman, mit der großen Nase; dänische Freunde aus der Kronkolonie; ihr Nachbar Billy Ling und seine dänische Frau Susanne; ein äußerst ungleiches Paar. Billy Lings Blick hing an ihrem Vater, der das mit Cognac gefüllte Glas zum Anstoßen erhoben hatte. Alle anderen lächelten und hießen das neue Jahr willkommen, obwohl es ein dänisches und kein chinesisches Neujahrsfest war. Aber Billy nicht. Nicht die Andeutung eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu sehen. Es war, als würde er in einem unbeobachteten Augenblick ein stilles Gebet quer über den Tisch zu ihrem Vater schicken.
Ihr Vater.
Sie spürte, wie sich die Kehle zu einem Weinen zusammenzog, das sie nicht zulassen wollte. Könnte er sie sehen, wie sie jetzt mit den Tränen kämpfte, er würde sie mit Sicherheit ausschimpfen. »Tränen sind verlorene Zeit«, hatte er immer zu ihr gesagt. »Werde sauer. Schmeiß mit Tellern um dich und schrei. Man muss etwas tun. Das ist das Einzige, das hilft.«
Und das hatte sie gemacht. Etwas getan. Ihr ganzes Leben lang hatte sie etwas getan, war rastlos von Land zu Land gereist und hatte nicht mit Tellern, sondern mit Worten um sich geworfen. Aber jetzt, wo er dort in dem Krankenhaus in seinem weißen Bett lag, wusste sie, dass es nicht geholfen und dass er Unrecht hatte. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Zweifel, ob es ihm selbst geholfen hatte. Denn was immer man im Leben tat, am Ende stand immer die Waage. Und was konnte ein schweres Herz schon gegen die Feder der Wahrheit ausrichten?
11
Das Geräusch von Messern und Gabeln, die gegen Porzellan schlugen, verwob sich zu einem anonymen Teppich.
Die Kantine des Krankenhauses war genauso unpersönlich, wie es solche Kantinen immer waren. Sterile Umgebung mit funktionellen Möbeln; Linoleumboden und Kunst an den Wänden, die nichts von den Personen dahinter preisgab, nicht mehr war als strategisch platzierte Farbkleckse auf weißen Rechtecken. Das Essen war genauso. Nicht schlecht und auch nicht gut.
»Er war wach«, sagte Kit und biss in ihr Käsebrot. »Aber er hat nichts gesagt. Nur dagelegen und in die Luft gestarrt.«
Karen-Lis trank aus dem Glas mit dem Saft. Kit beobachtete sie. Und spürte, wie es sie ein wenig erleichterte, ein paar Worte zu reden. Ihn zu erwähnen.
»Wie ging es ihm sonst? Ich meine, bevor das passiert ist?«
Über Karen-Lis’ Wesen lag heute eine gewisse Vorsicht, notierte sich Kit im Stillen. »Schlecht. Du bist lange weg gewesen.« Sie suchte. Ihr fehlten die richtigen Worte und sie musste sich mit einem Ersatz begnügen. »Er und Mutter haben nichts gesagt. Du kennst sie ja. Aber da war ein Loch. Vater hat jeden Tag die Zeitung von vorne bis hinten gelesen und nach deinen Artikeln gesucht. Sie manchmal auch ausgeschnitten. Er hat sie sogar in ein Buch geklebt! Stell dir das mal vor.«
Karen-Lis ließ nicht im Geringsten erkennen, dass sie sich etwas vorstellte. Aber sie nickte. »Dann muss er wirklich verzweifelt