Gott singt. Ulrike Gadenne

Gott singt - Ulrike Gadenne


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      Abends kündigt Baba an, dass am nächsten Tag etwa hundert Kilometer von Kurnool entfernt ein Augen-Camp durchgeführt wird. Etliche bekunden Interesse, daran teilzunehmen, aber nachdem die Anstrengungen der Reise geschildert werden, legt sich die anfängliche Begeisterung. So treten nur zwei Devotees mit Mr. Subramanyam, unserem indischen Begleiter, am nächsten Tag die Fahrt an.

      Es wird Mittag, ehe sich der Bus in Richtung Westen in Bewegung setzt. Die Reise geht durch eine grüne Gartenlandschaft mit Reis-, Mais-, Baumwoll- und Sonnenblumenfeldern sowie Weingärten. Mächtige Wasserbüffel mit lackschwarzem Fell grasen am Wegrand oder liegen in Tümpeln, zwischen bizarre Steinformationen schmiegen sich kleine Dörfer und Tempel. In Adoni müssen wir in den nächsten Bus umsteigen und sitzen kurz danach in einem kleinen Dorf fest – ohne Bus, ohne Taxi –, nur eine zahlreiche Affenfamilie wartet auf Essbares. Die letzten dreißig Kilometer werden im Lastwagen zurückgelegt, ohne Windschutzscheibe eine luftige Angelegenheit. Die Landschaft wird atemberaubend – menschenleer, sattgrüne Hügel, bläuliche Berge am Horizont –, hier soll es Springböcke geben und wilde Pfauen, ein Mungo überquert die Straße, staunende Kinder am Straßenrand, wir halten an. Zwischen Felsen und alten Bäumen ein alter, versteckter Ort: die Grabstätte eines großen muslimischen Heiligen. Trotz der Abgeschiedenheit wird dieses Heiligtum auch von vielen Hindus besucht. Die Stille des Ortes tut uns gut und erfrischt treten wir das letzte Stück Wegs an.

      Am Spätnachmittag erreichen wir Holalagundi – das Ambulanzauto mit Babas etwas verunglücktem Konterfei weist uns die Richtung. Inmitten des vielen Grüns wirkt dieses Dorf unerwartet idyllisch. Das Augen-Camp wird in der Schule veranstaltet. Weil einige Klassenräume ausgeräumt werden mussten, findet der letzte Unterricht dieses Tages unter einem großen Baum statt. Im recht komfortablen Haus eines nahe wohnenden Devotees können wir uns frisch machen. Unter einer alten Tamarinde wird uns bei Sonnenuntergang ein starker süßer Tee serviert – welch ein unerwarteter Luxus! Der Operationsraum ist in einem Klassenzimmer vorbereitet: zwei einfache Plastikliegen, ein Topf auf einem Gaskocher zum Sterilisieren, es gibt keinen Strom, Taschenlampen sind die einzige Beleuchtung. Auf einem kleinen Altar steht Balasai Babas Bild. In einem Nebenraum warten etwa fünfzig alte und jüngere Patienten. Mit Mundschutz bekommen wir die Erlaubnis, den Operationsraum zu betreten. Unter seiner Operationskleidung ist der Augenarzt, Dr. Jayaprakash, kaum zu erkennen. Um die Tageshitze zu vermeiden, beginnt er seine Arbeit erst am Spätnachmittag. Er beugt sich über einen Patienten und arbeitet mit Hilfe eines Mikroskops, einer der Helfer leuchtet mit der Taschenlampe. Meine Mitfahrerin sieht Babas Hände beim Operieren – ich sehe die Hände des Arztes. Für jede Aufgabe sind Helfer da: zum Sterilisieren, zum Vorbereiten des nächsten Patienten oder zum Begleiten des frisch Operierten in den Ruheraum. Andere versorgen die Patienten mit Essen, Medikamenten und Brillen. Der Arzt arbeitet hochkonzentriert, ohne Pause, erst gegen Morgen wird er fertig sein. Mit Babas ratternder Ambulanz treten wir in der Dunkelheit den Rückweg an.

      In Adoni besuchen wir einen bekannten alten Lak- shmi-Tempel, in dem auch zu dieser späten Stunde Hochbetrieb ist. Hohe Granitsäulen mit abgegriffenen Reliefs, in der Nische des Sanktums steht segnend die goldstrahlende Göttin, ein Priester nimmt die Opfergaben der Gläubigen in Empfang, starke Glockentöne schwingen durch den Raum, aufdringlicher Räucherstäbchenduft, jeder bekommt geweihte Kokosnussmilch. Im Untertempel hat eine hinduistische Heilige gelebt – meine Mitfahrerin schwärmt von der »starken Energie«. Ich gebe mir Mühe, ihre Erfahrung zu teilen, aber ohne Erfolg.

      Beim nächsten Halt beehrt uns eine Familie, die Anhänger von Baba ist, mit einer Puja (zu so später Stunde nicht das wahre Vergnügen), bevor wir mit einem reichhaltigen, frisch zubereiteten Essen »belohnt« werden. Mit Abschiedsgeschenken und nach ausführlicher Abschiedszeremonie erreichen wir spät in der Nacht Kurnool. Wenn man bedenkt, dass von den gerade Operierten niemand auch nur den Bus in die nächste größere Stadt hätte bezahlen können, ist man umso erstaunter, dass sich zu Ehren Balasai Babas ein Netzwerk von Menschen an solch abgelegenen Orten und unter einfachsten Bedingungen regelmäßig für diese Arbeit, die den Ärmsten der Armen unerwartet den Himmel auf die Erde bringt, zur Verfügung stellt. Der Augenarzt hatte mit Balasai Babas Segen bis zu diesem Zeitpunkt (1998) bereits etwa fünfzigtausend Operationen erfolgreich durchgeführt. Darunter waren spektakuläre Heilungen, bei denen selbst die Medien von »Wundern« sprachen. Der Sri Balasai Baba Central Trust wurde für diese auch für ganz Indien einmalige Initiative mit verschiedenen hohen Ehrungen ausgezeichnet, unter anderem bekam Dr. Jayaprakash die Auszeichnung, in die Reihe der Fünfzig Ehrenbürger Indiens aufgenommen zu werden.

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       Durga oder der Anfang vom Ende

      September 1998 – Meine Abreise war geplant für Ende September. Über meine Zukunft machte ich mir nur nebenbei Gedanken, alles war möglich. Ein paarmal geschah es, dass Vögel mit Pflanzenfahnen oder anderem Nestbaumaterial an mir vorbeiflogen, wenn ich die Möglichkeit in Betracht zog, im Ashram zu wohnen. Aber solche Zeichen schienen mir zu vage und zu »zufällig«. Eines Tages kam Baba vormittags die Treppe herunter, setzte sich aber nicht wie gewöhnlich zur Runde auf den Teppich, sondern lief um den Darshanplatz herum, begutachtete die Bäume des Nachbargrundstücks, deren Zweige weit zu uns hineinragten, inspizierte hier eine Mauer und dort eine Tür und winkte mir, Ihn zu begleiten. Meistens geht das Gespräch in solchen Situationen über belanglose Dinge, die ich nicht mehr erinnere, aber urplötzlich und unerwartet kommt Baba dann auf den eigentlichen Punkt, und an diesem Tag sagte Er nur ein Wort: »Avo!«. Ich erinnerte das Wort aus den Bhajans und hatte die undeutliche Erinnerung, dass es komm hieß. Keine weitere Erklärung, Ende der Runde. Das war die Antwort auf die wochenlang hin und her bewegte Frage. Hiermit gab Baba mir die Erlaubnis, permanent in Seinem Ashram zu wohnen, und ich nahm die Einladung an. Später bestätigte eine Devotee, dass meine Übersetzung richtig war.

      Die letzten Tage waren erfüllt von neuen Aktionen. An den nächsten zehn Tagen sollte im Eingangsbereich des Hauses morgens um 6 Uhr eine Puja stattfinden – ein Altar, der entfernt Ähnlichkeit mit einem Nachttisch hatte, war schon aufgebaut. Die schon lange im Ashram lebenden Devotees wunderten sich – nie hatten sie erlebt, dass das zehn Tage dauernde Durga-Fest, das vielleicht höchste Fest in Indien, im Ashram von Balasai Baba gefeiert wurde. Baba hatte hinduistische Feste und Rituale bisher gnadenlos reduziert. Die frühe Morgenstunde sollte mich nicht schrecken, um 6 Uhr saßen der Priester, ein indisches Ehepaar und ich vor dem kleinen Altar. Der Priester war für einen Südinder untypisch groß. Seine jungenhafte Fröhlichkeit stand im Gegensatz zu seiner königlichen Ausstrahlung, obwohl er nur mit Dhoti und Schultertuch bekleidet war. Mir erschien er wie eine Gestalt aus einem alten Märchen, die sich in unsere Zeit verirrt hatte. Mit ruhigen, geübten Bewegungen ordnete er die Menge der unübersichtlichen Pujagegenstände wie Öllampen, Räucherstäbchen, verschiedenfarbige Pulver, Wassergefäße, Opferzutaten wie Früchte, Blumen, Reis, Süßigkeiten, Milch, Honig, Kokosnüsse usw. In der Mitte des Altars stand eine Figur, die eine vielarmige Göttin auf einem grimmigen Tiger sitzend zeigte. Von der Bedeutung der zehn Tage wusste ich nur, dass an jedem Tag ein anderer Aspekt der Göttin gefeiert wurde, und dass mit jedem Aspekt eine der negativen Eigenschaften des Menschen wie Gier, Neid, Stolz, Eifersucht usw. zerstört würde. Darum also die vielen Waffen in den Händen der Göttin!

      Im europäischen Westen schwingt an jedem 29. September St. Michael sein Schwert, tötet den Drachen und wiegt mit der Seelenwaage das Gute und Böse. Auffällige Parallelen, wenn sich das Jahr der lichtarmen Hälfte zuneigt.

      Die morgendliche Müdigkeit wurde durch den Duft der Blumen und Räucherstäbchen, den mattgoldenen Schein, den die Öllichter an den Messinggegenständen hervorriefen, die Farben der Früchte und erdigen Pulver in einen entspannten, halbwachen Traumzustand verwandelt. Jede Puja ist ein Mikrokosmos, in dem alle Sinnesorgane aktiviert werden, alle schwerstofflichen und feinstofflichen Körper teilhaben und alle Elemente (Äther/Akasha, Luft, Feuer, Wasser, Erde) einbezogen sind. Das Singen und Rezitieren der Mantren hilft entscheidend mit, ob die schwierigen, teils simultanen Handhabungen ruhig fließend und trotz aller Details ohne Hast vollzogen werden können. Ich hatte schon einige


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