Gott singt. Ulrike Gadenne

Gott singt - Ulrike Gadenne


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Rezitierens, zusammen mit der Hingabe und Konzentration des Priesters neben mir, ließ die Laute der Ursprache der Menschheit ganz neu erklingen. Sein Gesang begleitete in natürlichster Weise die komplizierten Handhabungen des Schwenkens, Gießens, Brechens, Schmückens, Auftragens, Mischens, Verteilens, und unsere Aufmerksamkeit wurde ganz natürlich in seine Verehrung mit eingebunden. Das Sanskrit basiert auf dem Klang des Vokals A und drückt in vollkommener Weise das Staunen der damaligen Menschheit vor der Göttlichkeit der Schöpfung und des Menschen aus. Dieses Bewusstsein ist heute verlorengegangen, aber in diesem jungen Priester schien es mir bewahrt, so selbstverständlich und natürlich stellte er dar, was er sang. Während eines Abenddarshans materialisierte Baba ihm einen Ring, nie wieder erlebte ich, dass ein Priester so gesegnet wurde. Als der Ashram in ein größeres Gebäude in Hyderabad umzog, blieb er im Dienste von Baba und versorgte täglich den Atma Lingam, den Baba für den Ashram geboren hatte. Eines Tages hörten wir, dass er krank sei, und bald darauf starb er.

      Vielleicht war es sein Beispiel, dass mich inspirierte, später jeden Morgen vor den Bhajans eine kleine Puja zu machen, obwohl ich nie ein Fan solcher Rituale gewesen war. Ich machte das regelmäßig jeden Morgen. Als ich nach vier Jahren vor einer Reise nach Deutschland das Puja-Geschirr wegräumte, wusste ich, dass ich es nicht mehr auspacken würde, als spirituelle Übung in Konzentration und Disziplin hatte sie ihren Dienst getan.

      Am achten Tag des Festes, dem Aspekt, der dem kämpferischen Aspekt der Göttin Durga gewidmet war, war mein Rückflug – der 29. September, Michaeli. Obwohl ich kein Gespräch erwartete, das Baba den meisten Abreisenden schenkte, hoffte ich, ihn noch einmal zu sehen.

      Vormittags brachte ich noch Filme zum Fotoshop, und als ich zurückkam, saß Baba im Hof: singend, lachend, Witze machend. »Du warst beim Fotoshop? Dies war nicht dein letzter Film! Dies war nur der Anfang – der Anfang vom Ende – hast du verstanden? Du kommst bald wieder!« Ich hatte verstanden, aber nur halb – welches Ende?

      Der Flug ging über Bombay und Delhi. Unter mir tauchte nach Delhi der Lauf des Indus’ auf, dann endlose Wüsten und die Gebirge von Pakistan und Afghanistan. Die Nachrichten zeigten Flüchtlinge im Schlamm von Kosovo, Muslimsoldatinnen mit grünem Stirnband und Gewehren in Teheran. Nacheinander zogen das Elbursgebirge, das Kaspische Meer, die ersten größeren Flächen von bewässerten Feldern, der schneebedeckte Ararat, in der Ferne die Gipfel des Kaukasus vorbei. Im Flieger von Paris nach Frankfurt gab es einen Teller mit Roastbeef-Sandwiches, nur auf meinem Teller lagen zwei Maronen-Quark-Desserts, die Brote konnte ich verschenken …

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       Zwischenzeit

      September 1998 bis Januar 1999 – Später als geplant war ich nach Hause zurückgekommen und hatte keine Erklärung, die verstanden werden konnte.

      Eines Tages im Oktober ging ich mit meinem Mann die Hauptstraße von L. herunter und sah plötzlich in etwa zehn Metern Entfernung einen Straßenmaler. Er war alt und vertieft in seine Tätigkeit. Er schien ein indisches Götterpaar zu malen, und das wollte ich unbedingt ansehen. Waren es Shiva und Parvati? Oder Radha und Krishna? Rama und Sita? Die indische Mythologie hat wunderbare Bilder, um die Einheit in der Dualität aufzuzeigen. Ich strebte eilig näher, aber kurz vor der Szene bog mein Mann links ab und äußerte deutlich, dass er heute dafür keine Zeit habe und sofort zum Auto müsse. Ich folgte ihm, wollte aber unbedingt das Götterpaar genauer sehen. Denn es war eines, so viel konnte ich erkennen, was mich also wieder in Richtung des Malers bewegen ließ. Mein Mann hatte es jedoch zu eilig und war schon fast um die nächste Ecke verschwunden, also änderte ich wie automatisch die Richtung und lief ihm nach, drehte mich aber im selben Moment wieder um, um doch noch einen Blick auf das Bild zu werfen. So buchstäblich »im Dreieck« springend, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: »Du musst dich entscheiden!« Balasai Baba hatte komm gesagt, und mir wurde klar, dass ich noch nicht geantwortet hatte. Ich hielt inne und spürte die schneidende Klarheit der Worte und ein plötzlicher Schmerz lähmte mir die Beine. Langsam folgte ich meinem Mann. Den alten Maler und das Götterbild habe ich nicht mehr aus der Nähe gesehen.

      Beruflich hatte ich mich für ein freies Jahr entschieden, um meine Mutter durch verschiedene Operationen begleiten zu können. Im November brachte ich sie in die nahe gelegene berühmte Herzklinik. Da auf der Station für Kassenpatienten alles belegt war, wurde sie in der neuesten und schönsten Station Toskana einquartiert, was nach Ferien und ewigem Frühling klang.

      Im Blumengesteck auf dem Tisch steckten zwei Pfauenfedern. Die Pfauenfeder ist der Kopfschmuck Krishnas, des Kuhhirten, der mit seinem Flötenspiel Musik, Spiel, Tanz und Freude verbreitet. Unauffällig schaute ich in die übrigen Zimmer: Nirgendwo gab es ein Blumengesteck mit Pfauenfedern! Ich bedankte mich innerlich für den Willkommensgruß von Baba, der im Ashram von Kurnool als Krishnafigur die Flöte spielt und die Kühe hütet, und mein Vertrauen wuchs, dass alles gut gehen würde.

      Die Operation verlief ohne Komplikationen, schon am nächsten Tag löste meine Mutter wieder Kreuzworträtsel und eine Woche später sah sie im Traum Baba im Sessel sitzend mitten in einer Blumenwiese. »Der Traum war nur kurz, aber ich wusste, dass es Baba war!«, sagte sie.

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       Übung

      Seit der Rückkehr aus Indien im September 1998, nachdem der Gedanke, permanent im Ashram von Balasai Baba zu leben, undeutlich Gestalt angenommen hatte, führte ich die Meditationspraxis, die ich im Ashram begonnen hatte, regelmäßig fort. Die überraschende Erfahrung war, dass sich innerhalb der zwanzig Minuten, die ich »sitzen« wollte, konzentriert auf das Mantra OM SRI BALASAIYINE NAMAH, leicht und ganz natürlich ein Zustand von Gedankenleere und Ruhe einstellte, der sich deutlich unterschied von allen bisher bekannten Wachheitszuständen.

      Wieder in Indien (Januar 1999) führte ich diese Praxis weiter, verlegte sie aber auf die Zeit zwischen 4 und 5 Uhr am frühen Morgen. Diese Zeit wird in der indischen Tradition Brahmamuhurta genannt, und sie ist besonders günstig, um den Geist zu fokussieren, weil die Atmosphäre zu dieser Zeit am wenigsten störende Einflüsse ausübt. Ziel dieser Übung ist es, den weithin automatischen Gedankenstrom mit seinen meist sinnlos hin und her springenden Assoziationen und unzusammenhängenden und emotional gefärbten Inhalten schrittweise »auszudünnen«, bis die Aufmerksamkeit zeitlich unbegrenzt auf einem gedanklich leeren »Raum« verweilen kann.

      Da unser Mind es nicht gewöhnt ist, ohne etwas zu sein, ist es hilfreich, ihn anfangs an einen überschaubaren ausgewählten Inhalt zu »koppeln«. Die Konzentration kann sich auf einen Gegenstand aus der Sinneswelt richten oder auf ein Mantra, eine Laut- und Klangkombination, die eine positive Wirkung auf den mentalen Zustand hat. Laute und Klänge haben unabhängig von der jeweiligen Kultur und Sprache die gleiche Wirkung auf den Organismus, so dass die Bedeutung des jeweiligen Wortsinnes untergeordnet ist, jedoch unbewusst mitschwingt.

      Dem Sanskrit schreibt man als »Mutter aller Sprachen« die Qualität zu, die wohl ursprünglich allen Sprachen zu eigen war, dass in den Lautklängen noch direkt deren inhaltliche Bedeutung schwingt, dass also Wort und Bedeutung nicht auseinandergefallen sind. Um die Konzentration eine Weile ungestört aufrechterhalten zu können, ist es wichtig, eine aufrechte (um dem Einschlafen vorzubeugen), möglichst bewegungslose und entspannte Körperhaltung einzunehmen. Ein Stuhl ist dafür genauso geeignet wie das für uns unbequemere Sitzen auf dem Boden, aber hier hat man höchstens im Zimmer einen Stuhl zum Sitzen, das Leben spielt sich auf dem Boden ab. Das Haupthindernis, um eine tiefere Konzentration und Entspannung zu erreichen, ist für viele, den Körper ruhig zu halten. Für einen ungeübten Geist ist Ruhe das Schlimmste. Nach wenigen Minuten wird er sich alles Mögliche einfallen lassen, um unterhalten zu werden, sei es ein Jucken am Kopf, die harte Sitzfläche (die er sonst nicht wahrnimmt), ein Durstgefühl, ein surrender Moskito und schließlich die ungezählten meist unangenehmen Körperempfindungen, die durch die ungewohnte Haltung entstehen. Baba hatte zweimal täglich eine halbe Stunde Meditation mit


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