Zwillinge. Lotte Dalgaard
kniff ihr mit der einen Hand in die linke Pobacke und mit der anderen in die rechte Brust.
„Stimmt was nicht? Du bist nicht sauer, oder? Ich hab keinen Bock auf alte, nörgelige Ziegen. Jetzt machen wir es uns gemütlich, ich hatte einen anstrengenden Tag.“
„Ich bin nicht sauer“, sagte Line zum Gott-weiß-wievielten Mal in ihrer dreijährigen Beziehung, was irgendwie auch der Wahrheit entsprach. Sie war viel mehr traurig. Und müde. Aber danach würde er nie fragen. Das erforderte schließlich Fürsorge und Umsicht gegenüber anderen, und die besaß Jonas nicht. Während er weiter über seinen Tag auf der Arbeit schwadronierte, anstrengende Kunden und den offenbar lächerlichen Chef, schenkte er zwei Martini Bianco in dafür vorgesehene Gläser, die sie einmal mit dem Kauf einer Flasche erhalten hatten. Zwei Eiswürfel in jedes und je eine halbe Scheibe Zitrone.
Sie wusste durchaus, dass es einer Doppelmoral gleichkam, mit ihm zu trinken, wenn sie doch so gern wollte, dass er aufhörte. Aber sonst würde er alleine trinken, wie all die anderen Abende, an denen sie keine Lust hatte. Und heute hatte sie Lust auf ein paar Gläser. Das war das ewige Dilemma, wenn man mit einem Alkoholiker zusammenwohnte, dachte sie. Mit ihm zu trinken und damit zu signalisieren, dass es in Ordnung war. Oder es selbst ganz sein zu lassen, obwohl sie kein Problem hatte und damit die eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Sie wusste keine Lösung und gerade war es ihr auch vollkommen egal. Sie wollte einfach nur einen gemütlichen Abend verbringen.
Line setzte sich Jonas am Esstisch gegenüber, der zwischen Küche und Wohnzimmer stand. Durch das Fenster konnte sie den Garten und die Straße sehen. Sie war kein Gartenmensch und sie hatte auch keine Lust zu versuchen, es zu werden, denn das Haus in Bagsværd hatten sie nur für zwei Jahre gemietet und es machte keinen Sinn, da viel Energie und Geld zu investieren.
Aber jetzt sollte sie sich besser darauf konzentrieren, was Jonas ihr erzählte, nachfragen und interessiert wirken. Nicht, dass sie nicht an seinem Arbeitsleben interessiert war, aber es wurde ihr so klar, dass es nie um ihres ging. Denn danach fragte Jonas nie. Als wenn es in einer Zimmerei spannender zuging als in einer Nachrichtenredaktion, auch wenn es nur eine Regionalzeitung war.
„Heute sollten wir einige Fensterrahmen zurechtschneiden und Mehmet, dieser Idiot, er hat sie verkehrtherum gedreht, obwohl der Chef es uns gerade erst gezeigt hatte. Manchmal scheint er überhaupt nicht anwesend zu sein“, sagte Jonas, der es liebte, seinen türkischen Kollegen abwechselnd in den Himmel zu loben oder über ihn herzuziehen.
Nach einem Martini und drei Glas Wein war Jonas entspannt und hatte gute Laune. Er flachste mit Mikkel, der immer mit weit aufgerissenen Augen zuhörte, wenn Jonas den großen Geschichtenerzähler gab. Das passierte manchmal, aber immer nur, wenn er getrunken hatte. Wenn er keinen Alkohol getrunken hatte, war er introvertiert, griesgrämig und abweisend. Besonders Mikkel gegenüber.
Line wünschte sich, dass er manchmal auch ein ernsthafter Elternteil sein könnte, aber lustig war in jedem Fall besser als die gedrückte Stimmung, die über dem Haus lag, wenn Jonas einen alkoholfreien Abend verbrachte.
„Kommst du mit raus, wenn ich eine rauche?“, fragte er Mikkel, der einen schnellen Blick zu seiner Mutter hinüberwarf. Sie wankte zwischen ihren Gefühlen. Einerseits war es eine schlechte Idee, mit einem rauchenden, trinkenden, Räubergeschichten erzählenden Mann zusammen zu sitzen. Andererseits könnte sie entspannen und es einfach genießen, dass ihre „Jungs“ ein wenig gemeinsam abhingen und es sich gut gehen ließen.
„Mama macht Klarschiff, wir führen ein Gespräch von Mann zu Mann“, sagte Jonas und legte Mikkel den Arm um die Schultern. Line schüttelte nachsichtig den Kopf und lächelte Mikkel an, wie um zu sagen, es sei okay und begann die Teller zu stapeln.
Als Line aufgeräumt hatte, kamen Mikkel und Jonas wieder in die Küche. Jonas schenkte sich noch mehr Wein ein und Line ging in die Stube, wo sie sich aufs Sofa setzte und den Fernseher einschaltete. Jonas und Mikkel blieben in der Küche und redeten, bis Line Mikkel regelrecht zwingen musste ins Bett zu gehen.
Jonas schmollte erstmal, als er sein aufmerksames Publikum verlor, aber als Line Mikkel ins Bett brachte, hörte sie Jonas telefonieren. Gut, dann hatte er neues Publikum gefunden und sie hatte heute Abend frei.
Nachdem Jonas mit Per die Probleme der Welt gelöst hatte, legte er auf. Sie kannten einander seit der Schule und Per war der einzige, mit dem Jonas von damals noch redete. Die Leute wurden mit der Zeit auch einfach merkwürdig. Mit den anderen Idioten aus seiner alten Klasse wollte er auf jeden Fall nichts mehr zu tun haben. Er leerte sein Glas und rauchte eine letzte Zigarette, während er hinaus in die Nacht schaute. Es war ein guter Abend gewesen. Er hatte eine Familie, eine Freundin, die total auf ihn stand und ihm sein Leibgericht machte, und einen Steifsohn, der meinte, er, Jonas, sei der Coolste. Und das war er ganz sicher. Er hatte alles unter Kontrolle, auch auf Arbeit, er wusste, dass er sein Handwerk beherrschte. Das Leben war gar nicht mal so übel, dachte Jonas und ging ins Schlafzimmer.
Als Line die Spätnachrichten geschaut hatte, ging sie ins Bett. Später krabbelte Jonas zu ihr und sie ließ ihn ran; wie immer. Denn hier im Bett, da fanden sie zueinander. Hier blühten ihre Gefühle für ihn auf. Hier fühlte sie sich verliebt, geliebt, begehrt, glücklich. Sie schlief ein, wie schon so oft. Mit seinen Armen um sich und der Hoffnung, dass alles gut würde, wenn er nur in Behandlung ging.
Kapitel 4
Mittwoch, der 2. März, begann eigentlich ganz gut. Der Himmel war grau, aber es war wenigstens trocken und die Temperatur pendelte sich wieder bei ungefähr zehn Grad ein, was Line ausgezeichnet passte. Sie hasste sowohl die heißen Sommertage, an die Kleidung so spärlich ausfiel, dass sie kaum den dicken Hintern, die großen Oberschenkel oder den hervorquellenden Bauch abdeckte, als auch die kalten Wintertage mit eisglatten Fußwegen, auf denen sie eine Heidenangst hatte auszurutschen, denn sie war schon mehr als einmal gefallen und hatte ihre Knöchel verstaucht.
Nein, sie betete für Frühling und Herbst, Hosen, Pullis und gemütlich daheim sitzen. Trockene Wege und Achseln. Da fühlte sie sich am wohlsten.
Es war 08.58 Uhr, als Line die Redaktion betrat und sie schaffte es gerade noch das Radio auf ihrem Tisch einzuschalten, als die Nachrichten begannen.
„Zwei 13-jährige Mädchen aus Fredensborg werden vermisst. Die Mädchen sind Zwillinge. Sie verließen gestern gegen 21 Uhr den Jugendclub Alphahaus und kamen nicht wie abgesprochen nach Hause. Sie sind beide 1,60 Meter groß, die eine hat lange braune Haare und trug Jeans, rote Wildlederstiefel und eine rote Windjacke mit Pelzkragen. Das andere Mädchen hat kurzes braunes Haar mit hellen Spitzen und trug schwarze Stulpen, schwarze lange Stiefel und einen schwarzen Strickpulli. Die Polizei bittet die Bürger um Mithilfe und nimmt Hinweise über den Aufenthaltsort der Mädchen unter der Rufnummer 49 27 14 48 entgegen.“
Lars Hansen stürmte mit einem Zettel in der Hand an Lines Platz. Es war ein Ritzau-Telegramm, das ungefähr das wiedergab, was Line gerade im Radio gehörte hatte.
„Zwei Teenager-Mädchen sind verschwunden. Sprich mit der Polizei und hol dir alle Infos, die du kriegen kannst. Und sprich mit der Mutter, ich habe Broby gesagt, er solle sich bereithalten.“
Line nickte nur und rief den Fotografen, Steen Broby, der auch ihr guter Freund war, an.
„Hej.“
„Hej Lyng. Was geht?“
„Ich dachte, wir zwei fahren mal zur Polizei und versuchen, was über die verschwundenen Mädchen zu erfahren. Dann könnten wir nach Fredensborg weiter und die Mutter ausfindig machen, Bilder von der Schule schießen und sowas.“
„Okay, ich hol´ eben die Karre, sehen uns draußen.“
Line nahm ihre Jacke vom Stuhl und prüfte ihre Tasche, sie hatte ihren Block dabei und drei, vier Kugelschreiber. Handy und Geldbörse hatte sie auch, also war sie startklar.
„Ich fahre“, rief sie in Lars Hansens Richtung, der nur nickte, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu nehmen.
„Ruf an, sobald du was weißt“, rief er zurück.
Ja, darauf wäre sie von alleine nicht