librsnet@mail.ru
Zwillinge. Lotte Dalgaard
Line lud den Text hoch und holte vom Server eines von Steens Bildern von Helene Bech, die mitten zwischen den offenen Türen der Kinderzimmer stand. Sie schrieb Steens Namen unter das Bild nachdem sie einen kurzen Bildtext verfasst hatte: „Helene Bech hofft, dass ihre Töchter bald heimkommen.“ Danach begann sie mit dem längeren Text für die Printausgabe.
Als Line heimfuhr, dachte sie an Helene Bech. Arme Frau. Es musste die Hölle sein, nicht zu wissen, wo die eigenen Kinder waren. Hoffentlich kamen sie noch heute heim, dachte sie, als sie auf den Irma-Parkplatz fuhr. Sie wollte Rinderhack, Burgerbrötchen und einen Salatkopf kaufen. Heute Abend sollte es selbstgemachte Burger geben und alle anderen Zutaten hatten sie bereits daheim. Mayonnaise, Tomaten, eingelegte Gurken, rohe und geröstete Zwiebeln, Ketchup und Schmelzkäse.
Line hatte mit Jonas die obligatorischen sechs Telefonate im Laufe des Tages geführt. Er schien nicht in Trinklaune zu sein, also konnte er einen Film seiner Wahl sehen. Sie selbst würde Mikkel fragen, ob die beiden sich Popcorn machen und eine Runde Stratego spielen sollten. Sie hoffte, dass er nichts Anderes vorhatte.
Zum Gott-weiß-wievielten Mal überlegte Line, ob sie Jonas verlassen sollte. War das Leben nicht zu kostbar, um es so zu verbringen? Sie konnte wenigstens aktiv etwas gegen ihre gegenwärtige Lebenssituation tun, im Gegensatz zu Helene Bech, die nur passiv dasitzen und abwarten konnte, in welche Richtung ihr Leben sich entwickeln würde. Helene hatte ihre schreckliche Lage nicht selbst gewählt, Line hingegen schon und darum hatte sie die Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Aber das würde sie nicht heute tun, dachte sie, während sie den Schlüssel hervorkramte.
Kapitel 6
Bent Jakobsen trank den letzten kalten Schluck Kaffee aus seinem Becher, stand von dem Klappstuhl in der Küche auf und nahm die Thermoskanne mit dem frischen, warmen Kaffee vom Küchentisch, die seine Frau dort hingestellt hatte. Er ging hinaus in den Eingangsbereich, stellte die karierten Pantoffeln ins Schuhregal und zog die weichen Holzschuhe, die hinten offen waren, an. Dann nahm er seine Windjacke vom Bügel, steckte den Kopf noch einmal durch die Küchentür, um seiner Frau, Birthe, tschüss zu sagen, die an der Spüle einen Eimer mit Wasser füllte. Er bekam ein „Tschüss, mein Freund, hab einen guten Tag“ zurück. So wie immer.
Birthe war eine gute Frau, sie war eine gute Mutter für ihre Söhne gewesen, die schon längst nicht mehr bei ihren Eltern wohnten. Sie hatten sich einfach nicht mehr so viel zu sagen. Hatten sie das jemals? Aber zum Teufel noch eins, wer hatte schon Lust auf das dauernde Palaver. Davon hatte er schon genug im Taxi, das er täglich von 9 bis 17 Uhr fuhr.
Bent setzte sich in den Wagen, den die Nachtschicht auf dem Parkplatz vor der Wohnung im Wohnkomplex in Asminderød abgestellt hatte, wo Birthe und er seit fast acht Jahren wohnten, nachdem sie das Haus in Hillerød, in dem die Kinder aufgewachsen waren, verkauft hatten. Der Kollege wohnte im selben Wohnkomplex, das war sehr angenehm.
Bent stellte den Sitz auf seine kurzen Beine und seinen großen Bauch ein. Er machte das Radio an, genau in dem Moment begannen die Nachrichten.
„Zwei junge Mädchen verschwunden. Hier in der Nachbarschaft. Schöne Scheiße“, dachte Bent Jakobsen und fuhr auf dem Königsweg Richtung Fredensborg.
Die Massen von Polizei und Presse erinnerten einen an das Aufgebot, das aufgefahren wurde, wenn etwas im Schloss passierte. Abgesehen davon, dass die Polizei heute die Autos anhielt und Leute auf der Straße ansprach. Bent Jakobsen wurde auch an den Rand gewinkt.
„Tag auch, Nordseelands Polizei“, sagte der Polizist, der vom Alter her sein Sohn hätte sein können.
„Einmal deinen Namen und deine Personalausweisnummer, bitte.“
Bent Jakobsen gab die verlangten Auskünfte, obwohl es ihm missfiel, seine Ausweisnummer anzugeben. Nicht, weil er etwas zu verbergen hatte, vielmehr aus Prinzip.
„Wir suchen zwei Mädchen. Ist dir etwas Ungewöhnliches auf deinem Weg aufgefallen? Autos an verlassenen Stellen, Personen, die sich merkwürdig benommen haben oder ähnliches?“
Bent Jakobsen verneinte und nahm die Karte entgegen, auf der die Telefonnummer notiert war, unter der man sich melden sollte, wenn man Hinweise zu diesem Fall hatte. Dann verabschiedete er sich, wünschte dem Polizisten viel Erfolg und fuhr wieder los.
Im Kreisel nahm Bent Jakobsen die erste Ausfahrt in den Wäldchenhügel, während er das Radio aufdrehte, wo Lars Lilholt von Liebe sang. Er blinkte und fuhr in den Christ Boecksweg, um in die Bäckerstraße zu kommen, von wo aus seine erste Tour des Tages losging. Auf einmal fiel ihm etwas Hellrotes am Wegesrand auf. Etwas, das nicht in die Landschaft gehörte. Etwas, das ins Auge fiel, zumindest, wenn man hier viel unterwegs war. Er fuhr den Wagen an die Seite, stieg aus und ging näher. Ein Handy. Er bückte sich mit einigen Schwierigkeiten hinunter und besah es sich näher. Er hatte genug Fernsehkrimis gesehen, um zu wissen, dass er es liegen lassen musste und nicht anfassen durfte. Denn ihm war sofort klar, dass es eine Spur zu den vermissten Mädchen sein könnte.
Sollte er zurück zu dem Polizisten fahren? Nein, er entschloss sich, zu bleiben und fingerte sein Handy aus der Jackentasche. Der Polizist am Telefon bat ihn, an Ort und Stelle zu warten, bis die Polizei bei ihm war und unter keinen Umständen mögliche Spuren zu zertrampeln oder etwas anzufassen.
„Oh Mann, was glauben die, wer ich bin?“, dachte Bent Jakobsen, setzte sich in den Wagen, öffnete die Tür und machte sich eine Zigarette an. Es war ein Nichtraucher-Wagen, aber bei offener Tür konnte das ja wohl nicht weiter schlimm sein. Und dann in solch einer Situation. Er sollte wohl besser die Zentrale informieren, dass sie einen anderen Fahrer in die Bäckerstraße schicken mussten.
Kapitel 7
Ich war größer geworden und Opa war zum letzten Mal zu einem abendlichen Besuch auf meinem Zimmer gewesen. Das war nun schon lange her und ich hatte jeden Abend wach gelegen, meine Hände zu Fäusten geballt, meinen Atem angehalten und alle Muskeln angespannt. Aber er kam nicht mehr.
Zuerst hatte ich ein komisches, leeres Gefühl in der Magengegend gehabt. Und dann begann es regelrecht in mir zu brodeln. Ich kaute Nägel und die Haut um die Nägel herum, klaute nachmittags Süßigkeiten im Milchladen an der Ecke, die ich oben auf meinem Zimmer in mich reinstopfte. Ich begann, Mutter und Oma Zigaretten zu klauen und rauchte sie, sobald ich Gelegenheit dazu hatte. Und ich hatte mit Erik eine Flasche Kirschwein hinter der Schule geteilt.
Das war ein gutes Gefühl gewesen. Dazusitzen und das Rauschen des Weines im Kopf zu fühlen und die Ruhe, die mir die Zigaretten für einen Moment verschafften. Danach hatten wir welche aus der zweiten Klasse geschubst und ich fühlte mich wie ein Teufelskerl. Das dämpfte alles. Ich bekam das Gefühl, selbst zu bestimmen. Ich war derjenige, der die Kontrolle hatte.
Niemand sollte mich jemals wieder gegen meinen Willen anfassen. Das entschied ich an jenem Abend, als meine Mutter hochkam um Gute Nacht zu sagen. Sie hatte bemerkt, dass Opa nicht länger zu mir ins Zimmer kam und Gutenachtgeschichten vorlas. Aber dafür war ich wohl zu groß geworden. Einen Kuss konnte ich noch bekommen.
Als sie sich über mich beugte, legte ich meine Hand um ihren Hals und flüsterte, dass sie aus meinem Zimmer verschwinden sollte. Mutter hatte ängstlich ausgesehen, als sie ging. Und traurig. Das Mitleid, das ich einen kurzen Augenblick empfunden hatte, verschwand und wurde verdrängt von einem Rausch, der besser war als die Süßigkeiten, Zigaretten und der Alkohol.
Ich hatte gefühlt, wie es war, Macht zu haben. Und von diesem Augenblick an gab es keinen Weg zurück.
Kapitel 8
Die Polizei hatte eine Pressemitteilung über den Fund von Nannas Handy am Wegesrand herausgegeben. Man hatte keine Spuren gefunden, die helfen könnten, die Frage zu beantworten, wo sie oder ihre Schwester abgeblieben waren, aber das Telefon an sich war schon Beweis dafür, dass die Mädchen diesen Weg gegangen waren und das irgendetwas geschehen sein musste.
Line war unbehaglich zumute und sie konnte sich nicht überwinden, Helene Bech anzurufen, um sie um einen Kommentar zu bitten. Aber das musste sie, das war ihr Job. Leute anzurufen, bei denen man nicht vorher wusste, wie sie reagierten, war einer