Zwillinge. Lotte Dalgaard
Helene Bech beginnen sollte, deren Kinder nun anderthalb Tage vermisst wurden. Line fühlte mit ihr wie eine Mutter, gleichzeitig wollte sie gerne ein aussagekräftiges Statement von ihr über den Fund des Handys ihrer Tochter für die morgige Zeitung.
Es gab dabei keine gute Art es zu tun, sie konnte es genauso gut einfach hinter sich bringen. Außerdem konnte sie Lars Hansens abwartenden Blick spüren. Zum Teufel mit diesen offenen Büroräumen.
Line fand die Reste eines Schokoladenriegels, 70% Kakaoanteil. Das war ja nicht so ungesund, dachte sie, während sie Block und Kugelschreiber zurechtlegte, aufkaute und Helene Bechs Nummer eintippte.
„Hallo?“, die Stimme am anderen Ende klang angstvoll.
„Hej Helene, hier ist Line Lyng von der Regionalzeitung Nordseeland.“
„Oh, hallo.“
Line ging auf, dass Helene Bech sicher zusammenfuhr, wenn ihr Telefon klingelte, sowohl aus Angst vor als auch aus Hoffnung auf Neuigkeiten bezüglich ihrer Töchter. Damit wurde ihr Unwillen, sie anzurufen, nicht gerade kleiner, aber nun gab es auch keinen Weg mehr zurück.
„Die Polizei hat Nannas Handy gefunden. Was meinst du dazu?“
Es war still am anderen Ende der Leitung und Line bereitete sich darauf vor, dass Helene Bech sie fragte, was zur Hölle sie sich eigentlich einbildete. Aber dann konnte sie hören, dass Helene weinte und ihre Stimme nicht kontrollieren konnte.
„Sie waren auf dem Heimweg… Es lag genau an der Strecke, die sie sonst auch nehmen. Vielleicht ist es ihr aus der Tasche gefallen… Aber das hätte sie ja bemerkt. Und wenn ihnen nichts passiert wäre, hätten sie mittlerweile angerufen. Von Nikolines Telefon oder einem anderen. Sie wissen, was für Sorgen ich mir mache.“
Line weinte jetzt selbst, es war einfach nicht auszuhalten und sie konnte sich vollkommen in Helene Bechs Angst hineinversetzen. Bevor sie noch weitere Fragen stellen konnte, sagte Helene Bech:
„Jetzt will ich nur noch wissen, was da passiert ist. Diese Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich kann nichts machen. Gar nichts. Ich sitze nur rum…“
Line beendete das Gespräch, nachdem sie mit Helene Bech abgemacht hatte, dass sie wieder anrufen dürfe, wenn es neue Entwicklungen gebe. Dann begann sie zu schreiben.
Mutter der vermissten Zwillinge: Die Ungewissheit ist das Schlimmste
Die Polizei hat Nanna Bech Tofts Handy gefunden. Die Mutter der verschwundenen 13-jährigen Mädchen ist sicher, dass ihren Töchtern etwas zugestoßen ist. Dennoch bewahrt sie die Hoffnung, dass Zwillinge am Leben sind.
„Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich sitze nur hier herum und kann nichts tun“, sagt die unglückliche Mutter Helene Bech.
Line machte eine Pause und sah auf die Uhr. Es war bald 12.00. Sie musste noch den Onlineartikel fertigstellen, bevor sie zum Mittagessen in die Kantine ging. Danach musste sie noch einige Interviews für nächste Woche vorbereiten und dann einkaufen. Freitag. Wochenende. Was würden sie wohl unternehmen? Line seufzte und schaute sich ihren Text noch einmal an. Sie fügte noch einige Zitate ein und Fakten zum Fall. Dann loggte sie sich aus und ging in die Kantine.
Nach Wiener Schnitzel und dem Kuchen des Tages beschloss Line, dass das Abendessen leicht sein sollte. Um 15.00 Uhr ging sie aus der Redaktion und über den Parkplatz zu ihrem Auto. Sie steckte den Schlüssel in die Zündung, doch bevor sie den Wagen startete, rief sie bei Mikkel an.
„Hallo Mama. Ich bin bei Lucas.“
„Okay, Schatz. Ich hole dich da um halb sechs ab.“
„Warum?“
„Weil ich den Gedanken nicht mag, dass du abends allein auf der Straße unterwegs bist.“
„Also, ganz ehrlich, halb sechs ist doch noch nicht abends.“
„Solange wir nicht wissen, was mit den vermissten Zwillingen passiert ist und wer sie entführt hat, bin ich eben extra vorsichtig.“
„Ja, aber ich bin ja ein Junge.“
„Ja, Schatz, das ist mir nicht entgangen. Aber wir wissen ja nicht, ob der Entführer nicht auch auf die Idee kommt, Jungen zu entführen. Also musst du dich damit abfinden, dass deine Mama ein wenig mehr über dir kreist, als sie es sonst macht.“
„Wir haben heute in Dänisch darüber geredet. Und einige Mädchen aus der Klasse werden auch abgeholt, obwohl sie sonst mit dem Rad fahren.“
„Ja, siehste mal. Ich hole dich um halb sechs, Schatz. Bis dann.“
Mikkel seufzte. Er dachte sicher, dass er jetzt nicht auf dem Skateboard heimfahren konnte, aber er sagte „Okay, Mama“ und legte auf. Line dachte darüber nach, ob sie es übertrieb mit ihrer Vorsicht, sie wohnten ja ein gutes Stück von Fredensborg entfernt. Aber es konnte ja nicht schaden, ein wenig mehr aufzupassen, so lange nicht klar war, was da eigentlich passiert war. Allein der Gedanke daran, dass sie Mikkel nicht abholte und ihm etwas zustieß… Line verdrängte die Bilder aus ihrem Kopf, startete den Wagen, machte das Radio an und fokussierte ihre Gedanken auf das Abendessen.
Im Kvickly legte sie Lammhack in den Einkaufskorb und holte Zwiebeln und Tomaten aus der Gemüseabteilung. Im Kühlregal fand sie die dänische Variante von Feta sowie eine Packung griechischen Joghurt und bei den Gewürzen einen Beutel getrocknete Minze. Knoblauch hatte sie. Und Olivenöl zu den Tomaten. Dazu passten Oliven sehr gut, aber die konnte Jonas nicht leiden. Während sie dastand und überlegte, ob ihr noch etwas für griechische Frikadellen mit Tzatziki und Tomatensalat fehlte, rief Jonas an.
„Hey, BBW.“
„Hej“, sagte Line glücklich, trotz des Kosenamens, der Abkürzung für Big Beautiful Woman, bei der sie nicht genau wusste, ob es ein Kompliment war oder eher leicht herablassend. Aber Jonas klang glücklich und plötzlich freute sie sich auf das Wochenende. Vielleicht konnten sie alle gemeinsam etwas unternehmen, am Samstag oder Sonntag. Bowlen oder ins Experimentarium.
„Musst du noch einkaufen?“
„Ich bin im Kvickly und gleich fertig.“
„Was gibt’s heute?“
Auf diese Diskussion hatte Line jetzt keine Lust. Sie wusste, dass sie nicht gerade für Jonas Leibgericht eingekauft hatte, aber heute gab es das. Sie konnten schließlich nicht immer nur Schwein, Rind, Soße und Kartoffeln essen.
„Du wirst schon sehen.“
„Aha. Aber bring noch eben Wein mit, ja? Drei Flaschen weiß und drei rot. Dann haben wir erstmal.“
„Ja, für heute Abend“, erwiderte Line spitz.
„Bist du sauer?“
Nicht schon wieder, dachte sie, sagte nein und versprach, Wein zu kaufen. Auf dem Weg zum Auto, beladen mit zwei Einkaufstüten, gefüllt mit Weinflaschen und Lebensmitteln, legte sich die Müdigkeit um sie wie ein schwerer Mantel. Sie wollte einfach nur ihr altes Nachthemd, das sie so liebte, anziehen, sich auf dem Sofa unter die Decke kuscheln, fernsehen und Süßigkeiten essen. Sie hatte keine Kraft, gesellschaftlich zu sein, Wein zu trinken, Jonas zuzuhören oder der Musik, die er „für sie“ auf seinem iPhone abspielte. Sie wollte früh ins Bett und Sex haben. Nüchtern. Und dann schlafen.
Aber sie riss sich zusammen, wie schon so oft zuvor, fuhr heim und begann mit dem Abendessen. Stellte den Weißwein kalt, öffnete eine Flasche Rotwein, stellte neue Teelichter in die vielen kleinen Halter in der Stube und zündete sie an. Mikkel rief an und fragte, ob er noch bei Lucas essen dürfe. Das durfte er. Sie wollte eigentlich gern, dass er nach Hause kam, aber die Stimmung bei Tisch war nicht immer so gut, also wollte sie nicht darauf bestehen, wenn er bei seinem Freund bleiben wollte. Und sie hoffte noch immer auf ein gemütliches Wochenende, an dem sie alle drei etwas zusammen unternahmen. Sie legte sich auf das Sofa und schloss die Augen. Eine halbe Stunde später hörte sie den Schlüssel im Schloss und Jonas kam in die Stube.
Jonas war bester Laune. Er hatte einen super Tag bei der Arbeit gehabt, alles war gelaufen wie am Schnürchen