Zwillinge. Lotte Dalgaard
Platz vor der Polizeiwache in Helsingør war bereits belagert von Fernsehjournalisten und -fotografen, sowie Kollegen der Radiostationen und landesweiter Zeitungen. Die Sonne war durch die Wolken gebrochen, einige standen herum und rauchten, andere übten ihre Anmoderationen für die TV-Nachrichten und wieder andere saßen einfach nur da und schauten auf den Gebäudeeingang.
„Hej Line“, sagte Christina Holm von der Tageszeitung Politiken, mit der sie gemeinsam die Journalistenschule besucht hatte.
Christina war so eine kleine, effektive Frau, die stets froh aussah und deren energische Schritte man immer durch die Betongänge der Schule, vom Klassenzimmer zur Kantine oder in die Bibliothek oder zum Treffen der Schülervertretung, hatte hören können. Line mochte Christina eigentlich, aber irgendwie fand sie sie auch nervig und vor allem gab es sonst niemanden, der immer so gut gelaunt und energiegeladen war. Hatte diese Frau denn einfach nie einen schlechten Tag?
„Wir warten auf den Pressesprecher. Ein neuer. Ulrik Madsen heißt er, meine ich. Wie geht’s?“, fragte Christina und wartete mit einem strahlenden Lächeln auf eine Antwort.
„Alles gut“, antwortete Line, die keine Lust hatte, die lasterfreie Christina mit ihrem schönen Mann und den süßen, wohlerzogenen Kindern in ihr Privatleben zu lassen. Auf der anderen Seite war sie zu höflich, sie einfach nur abzufertigen, und es war ja auch ganz nett mit ihr zu quatschen, bei den Gelegenheiten, bei denen sie einander ab und zu trafen.
„Nicht viel Neues. Mikkel geht es gut in der Schule und Jonas und ich sind glücklich zusammen. Wie geht’s deinen Kindern? Und wie geht es deinem Mann? Arbeitet er noch bei der Kommune?“
„Den Kids geht es gut und dem Mann ebenso. Und ja, er arbeitet noch für die Kommune, da kommt er bestimmt nie raus.“
Line musste an etwas denken, das Christina ihr erzählt hatte, als sie sich auf dem TV3-Pressetreff im Januar gesehen hatten. Das Unterhaltungsressort ging bei der RN von einem zum anderen und Line hatte den Pressetreff „gewonnen“, inklusive Promis, Kanapees und Kostproben des TV-Programms für das kommende Jahr.
Jeden Sonntagabend, nachdem Christina die Kinder ins Bett gebracht hatte, breiteten sie und ihr Mann einen Teppich auf dem Fußboden im Wohnzimmer aus, öffneten eine Flasche Cava, dämmten das Licht und hatten Sex. Das war so dermaßen schematisch, dass es Line freute, dass es bei ihr anders war. Auf der anderen Seite war das wohl besser, als wenn das Sexleben ganz einschlief, wie bei so vielen ihrer Freundinnen.
Es kam Bewegung in die Menschenmasse, denn die Tür in der großen Glasfront ging auf und ein schicker Kerl in Uniform kam heraus. Medien-Madsen taufte Line ihn in Gedanken und stellte sich schräg hinter Ulrik Madsen, der die Medienvertreter in dem Fall um die verschwundenen Mädchen mit neuen Informationen versorgte.
„Die Zwillinge Nikoline und Nanna Bech Toft, 13 Jahre alt, verschwanden gestern Abend, nachdem sie im Jugendclub in der Eisenbahnstraße gewesen waren, weniger als einen Kilometer von ihrem Zuhause in der Höhenstraße in Fredensborg entfernt. Die Mutter alarmierte die Polizei um 21.38 Uhr. Eines der Mädchen hatte gegen 17 Uhr angerufen und gefragt, ob sie im Clubhaus essen dürften, was die Mutter erlaubte. Das Mädchen meinte, sie kämen, wenn der Club schließt und darum wurde die Mutter nervös, als die Mädchen nicht heimkamen und auch nicht ans Telefon gingen.“
Ulrik Madsen schaute in die Runde der Medienvertreter, die, im Anbetracht der Menschenmenge, ungewöhnlich still war.
„Die Mutter hat uns gesagt, dass sie sich normalerweise keine Sorgen mache, wenn die Mädchen abends vom Club oder von Freunden nach Hause fuhren, da sie immer gemeinsam unterwegs waren. Wir haben die Mutter erst einmal gebeten, alle Freunde anzurufen und zu fragen, ob die Mädchen vielleicht mit zu jemandem heimgegangen sind. Wir haben mit dem Leiter des Jugendclubs gesprochen, der gestern selbst dort war, und er hat gesagt, er habe Nanna und Nikoline verabschiedet, als der Club schloss, aber auch, dass mehrere Kinder zu diesem Zeitpunkt gegangen seien und er daher nicht wisse, ob sie mit jemandem gegangen sind oder welchen Weg sie genommen haben.“
Ulrik Medien-Madsen sah auf ein Stück Papier, das er in der Hand hielt, und fuhr fort.
„Normalerweise fahren die Mädchen über die Eisenbahnstraße, dann nach links den Wäldchenhügel entlang und die Schlossstraße hoch, um zur Höhenstraße zu kommen. Das ist die Route, von der wir ausgehen, dass die Mädchen sie genommen haben. Als die Mädchen heute Morgen nicht zur Schule erschienen, haben wir alle Hebel in Bewegung gesetzt und suchen sie nun im Umland mit Helikopter, Spürhunden und Suchmannschaft.“
Lines Kollegen begannen Fragen zu stellen, aber sie hatte das Gefühl, dass die Informationen ausreichend gewesen waren. Außerdem war sie ungeduldig und wollte nach Fredensborg kommen, um Fotos von den Suchtrupps, dem Club und der Schule zu machen und die Mutter zu finden.
Im Auto ging sie mit ihrem hoffnungslos überalterten Nokia E6 ins Internet, während Steen den Wagen aus dem Kreisverkehr auf die Autobahn steuerte und Kurs in Richtung Fredensborg nahm.
„Helene Bech, Höhenstraße 10, das muss sie sein“, sagte Line. „Die Mädchen haben anscheinend auch den Nachnamen des Vaters angenommen. Das ist ja mittlerweile so üblich. Lass uns erst dahin fahren, bevor die anderen sie belagern.“
Steen nickte nur und machte sich eine Zigarette an, die er aus dem Fenster hielt, um Line so wenig wie möglich mit dem Rauch zu stören. Das half aber nicht wirklich, denn wenn er einen Zug genommen hatte, blies er den Rauch zwar aus dem offenen Fenster, aber etwas blieb ja doch in der Fahrerkabine hängen und Line hasste das. Aber davon einmal abgesehen, war Steen der beste Fotograf und der liebste Mensch in der Redaktion, also überwand sie den Drang etwas zu sagen und machte stattdessen das Radio an, während sie in Gedanken die Worte durchging, die sie sagen wollte, falls die Mutter die Tür öffnen und einem Gespräch zustimmen sollte.
Kapitel 5
Helene Bech öffnete schnell die Tür zu ihrer Reihenhauswohnung, als Line klingelte.
„Hej Helene. Wir kommen von der Regionalzeitung Nordseeland. Ich heiße Line Lyng und das ist mein Kollege, der Fotograf Steen Broby“, sagte Line mit sanfter Stimme.
Helene Bech überraschte sie, indem sie Platz machte und sie bat hereinzukommen. Sie sah gut aus, schulterlanges rotbraunes Haar, große, lebendige blaue Augen, leicht sonnengebräunt, wo auch immer sie das geworden war, zu dieser Jahreszeit und eine hübsche Figur, mit nettem Vorbau und Hinterteil. Line schätzte sie auf Ende dreißig, also ungefähr so alt wie Line selbst. Helene Bech strahlte eine Menge Energie aus und redete einfach drauf los, während sie die beiden in die Stube führte.
„Es ist einfach schrecklich, dass ich nicht weiß, wo meine Mädchen sind, aber ich tröste mich damit, dass sie zusammen sind, und es wird ja wohl kaum beiden etwas ganz Fürchterliches passiert sein?“
Die Frage, die eher wie eine Feststellung klang, stand unbeantwortet im Raum. Bevor Line es schaffte, eine nichtssagende Antwort zu formulieren, redete Helene Bech weiter.
„Ich bin schon bei den Nachbarn gewesen, die um diese Tageszeit daheim sind und gleich, um 11 Uhr, gehen wir hinaus in den Wald und suchen sie. Später, zur Feierabendzeit, gehe ich noch einmal zu denen, die ich jetzt nicht erreicht habe. Die Leute wollen wirklich helfen.“
Line begriff, dass Helene Bech nervös war und ihr Redeschwall vielleicht verhindern sollte, dass sie zusammenbrach.
Sie fragte, ob sie sich setzen dürften und Helene Bech entschuldigte sich und bat sie in den beigen Stofflehnstühlen Platz zu nehmen, die zum Ecksofa passten.
Sie setzte sich ihnen gegenüber auf das Sofa, zwischen ihnen stand ein Sofatisch aus dunklem Holz, der alt aussah, aber möglicherweise bei IKEA in der Abteilung für Möbel in Patinaoptik gekauft worden war, dachte Line. Von so etwas verstand sie nichts. Auf dem Tisch stand eine große Bambusschale mit Äpfeln und Birnen, daneben lagen eine Fernbedienung und eine ungelesene Ausgabe der aktuellen Politiken.
„Ich bin Lehrerin der 10. Klasse in Hillerød, aber ich habe mich heute krankgemeldet.“
Line nickte und sagte, dass das vollkommen nachvollziehbar sei in Anbetracht der