Thomas Tuchel. Daniel Meuren
Weg und die Trainerwerdung eines so außergewöhnlichen wie mitunter rätselhaften Fußballlehrers nachzeichnen. Es erzählt die Geschichte von der Karriere des Spielers Thomas Tuchel, die ihm zwei prägende Trainerpersönlichkeiten bescherte: den autoritären Rolf Schafstall bei den Stuttgarter Kickers und den perfektionistischen Ralf Rangnick in Ulm. Und nach dem verletzungsbedingten Ende der aktiven Laufbahn dann die Anfänge von Tuchels Coachingkarriere in Stuttgart und Augsburg, wo er seinen Schützling Julian Nagelsmann dazu ermutigt, ebenfalls Trainer zu werden. Der schnelle Aufstieg in Mainz vom Meistertrainer der Junioren zu einem der aufregendsten Versprechen in der deutschen Trainerbranche. 2015 der Wechsel zu Borussia Dortmund, Tuchel trainiert seinen ersten großen Verein – und steht sich selbst im Weg: als Fachmann unantastbar, als Mensch schwierig, so die Diagnose. Statt eine Ära zu prägen, muss Tuchel nach zwei Jahren im Streit gehen. Dann also Paris: Neymar, Mbappé, Cavani und Co.
Mit diesen Stars besiegt er zu Beginn der Coronakrise am letzten Spieltag vor Aussetzung des Spielbetriebs in der Champions League den BVB. Nach einer 1:2-Niederlage in Dortmund gewinnt PSG am 11. März 2020 unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Rückspiel im Prinzenpark mit 2:0. In diesem „Geisterspiel“ besiegt Tuchel auch seine bösen Geister – und vor allem die Vergangenheit beim BVB.
Einen ähnlichen Geist hatte Tuchel bereits vor jenem Spiel in Straßburg besiegt: Beim Plaudern vor dem Stade de la Meinau ist Tuchel die Erlösung anzumerken, gegen den alten Rivalen Jürgen Klopp, dem er einst in Mainz und Dortmund folgte, ein frühes Aus in der Champions League vermieden zu haben. Immer wieder lächelt er zwischen seinen Sätzen. Man könne, so Tuchel, nicht in jedem Spiel dieselbe Einstellung erwarten wie gegen Liverpool. Gegen die Engländer rannten, grätschten und spielten elf Pariser tatsächlich, als ginge es um alles oder nichts. Die Stars agierten unter Anleitung ihres Trainers als: Mannschaft. Die Erleichterung sei bei allen im Klub riesig gewesen, gibt Tuchel zu und schwärmt vom Können Mbappés: „Der ist der Beste.“
Zu Beginn seiner Amtszeit, sagt Tuchel, habe PSG Spiele vor allem über individuelle Klasse gewonnen, mittlerweile erziele man auch als Mannschaft Erfolge. Er hat die Akzeptanz der Könner im Kader gewonnen, weil er sofort gezeigt habe, wer die Richtung vorgibt. Den Fehler, sich zu sehr anzupassen oder abzuwarten, wie die Spieler auf bestimmte Dinge reagieren, hat er nicht begangen. In der Sache coacht Tuchel in Paris so unnachgiebig wie in Mainz und Dortmund. Neymar nannte ihn nach kurzer Zeit schon einen „Gewinnertypen, der PSG etwas Neues gibt“.
Tuchels Arbeit fußt noch immer auf dem Ansatz aus den Tagen seiner unverhofften Beförderung vom Nachwuchstrainer zum Chef des Bundesligateams bei Mainz 05 im August 2009: An jenem Anfang war der Pass. Zu Beginn seiner ersten Einheit als Trainer des Fußballbundesligaklubs lässt Tuchel seine Spieler im zuvor exakt abgemessenen Abstand einander gegenüber aufstellen. Drei Spieler auf der einen Seite, drei Spieler auf der anderen. Eine Übung, wie sie ambitionierten D-Juniorentrainern mit ihren Zehn- bis Zwölfjährigen zu simpel wäre. Gut 20 Minuten lang geht es nur darum, den Ball sauber zum Gegenüber zu spielen und dann im lockeren Trab auf die andere Position zu laufen. Dabei müssen die Spieler die Namen ihres Gegenübers, dem sie den Ball zuspielen, laut rufen. „Andy!“, „Tim!“, „Miro!“ oder „Niko!“ schallt es über den Trainingsplatz am Bruchwegstadion. Dazwischen hört man immer wieder ein knappes „Schärfer!“. Tuchel schaut sich pedantisch die Zuspiele mit der Innenseite an und moniert, wenn der Ball nicht fest genug oder unpräzise gespielt wird.
Schon die ersten Minuten des Profitrainers Thomas Tuchel weisen den Weg in eine Karriere, die einen damals 35 Jahre alten Fußballlehrer, der zuvor ein gutes Jahrzehnt im Nachwuchsfußball gearbeitet hat, binnen weniger Jahre hinaufkatapultieren wird in die erste Reihe von Europas Spitzentrainern. Thomas Tuchel wird sich und seine Spielphilosophie verändern, auch seine Arbeitsweise mit immer neuen Details weiterentwickeln, die sich der in alle Richtungen interessierte Trainer aneignet. Aber Tuchel wird in vielen Facetten ein Rätsel für seine Beobachter, weil er sich umso mehr aus der Öffentlichkeit zurückzieht, je prominenter seine Arbeitsplätze und er selbst werden. Zudem hinterlässt er an jedem Ort seines Wirkens auch zwiespältige und negative Gefühle bei denen, mit denen er zusammengearbeitet hat. Der Draht zum VfB Stuttgart ist verglüht. Nach Augsburg bestehen nur noch vereinzelte Kontakte. Bei Mainz 05 gibt es neben zahlreichen Tuchel-Verehrern auch viele, die ein höchst gespanntes Verhältnis zum ehemaligen Aushängeschild haben. In Dortmund ist Thomas Tuchel Persona non grata.
Am besten ist der aktuelle Coach von Paris Saint-Germain als Trainerpersönlichkeit zu erklären aus seiner Mainzer Zeit, in der er sich noch regelmäßig dem Dialog mit Journalisten stellt in wöchentlichen Hintergrundgesprächen, salopp als „Tuchel-Runden“ bezeichnet, in denen der Jungtrainer oftmals erstaunliche Einblicke in seine Fußballdenkweise gestattet. Wenn er mit Fragen konfrontiert wird, die ihn fachlich berühren, dann sprudelt es aus Tuchel mit nahezu missionarischem Eifer heraus. Er will seine Anschauungen zum Fußball in die Welt tragen. Wenn er dann in der Berichterstattung aus seiner Sicht nur arg verkürzt und unzureichend wiedergegeben wird, ist er zutiefst beleidigt. Tatsächlich aber ist die Berichterstattung über einen Bundesligatrainer wohl selten von so viel Fachlichkeit geprägt wie in den ersten Jahren von Thomas Tuchel in Mainz. Die beiden Autoren dieses Buches sind zwei der kaum eine Handvoll regelmäßigen Begleiter dieser Tuchel-Runden. Sie wollen Thomas Tuchel von jenen Wurzeln am Bruchweg her erklären. In Mainz entwickelt er bereits jene Charakterzüge in seiner Mannschaftsführung, die vor allem in Dortmund zu Problemen führen werden: Tuchel wird ungeduldig, bisweilen cholerisch, er ist unnachgiebig und nachtragend.
Über der Dortmunder Zeit lastet das traumatische Erlebnis des Bombenanschlags auf die Mannschaft des BVB vor dem Champions-League-Spiel gegen AS Monaco. Die Geschehnisse und die Meinungsverschiedenheiten rund um den Anschlag sowie die Neuansetzung des Spiels am Folgetag führen endgültig zum Zerwürfnis zwischen Tuchel und der BVB-Führung.
Die Persönlichkeit Tuchels, die gerade zum Ende der Zeit bei Borussia Dortmund wegen der Begleitumstände der Suspendierung durch den Verein zum Gegenstand der Berichterstattung wird, gibt Hinweise, weshalb sich eines der größten Trainertalente aufgrund seiner unbeugsamen Haltung selbst im Weg stehen kann auf dem Weg nach ganz oben. Er ist kompromisslos im Umgang mit seinen Vorgesetzten, erwartet von allen in seinem Arbeitsumfeld dieselbe Besessenheit, mit der er arbeitet. Immer wieder gibt es Indizien, dass er mit dieser Art die Stars bei Paris Saint-Germain gegen sich aufbringt, wenn ein Neymar ihm auf der Nase herumtanzt oder Kylian Mbappé nach einer Auswechslung den Blickkontakt verweigert.
Thomas Tuchel ist noch immer ein junger Trainer. Er hat noch Zeit, um die Erfolge zu erringen, die ihm viele seit Jahren zutrauen. Große Trainer wie beispielsweise Jupp Heynckes, einer der prominenten Fürsprecher Tuchels, haben auch viele Jahre gebraucht, um zu Führungsfiguren zu reifen mit der für Topklubs wohl nötigen souveränen Abgeklärtheit und Ausstrahlung. Nicht nur deswegen ist Thomas Tuchel eine jener Traineraktien im Weltfußball, die die meisten Phantasien weckt bei Klubverantwortlichen. Am Anfang war der Pass. Werden am Ende die Trophäen für Tuchel stehen? Oder gibt es doch noch eine Décompression in der bislang so verheißungsvoll verlaufenen Trainerkarriere?
PLÖTZLICH BUNDESLIGATRAINER
Vom Jugend- zum Cheftrainer in der ersten Fußballbundesliga
Thomas Tuchel sitzt im Bus. Rückreise vom Trainingslager mit seinen A-Junioren aus Obsteig in Tirol. Es ist Sonntag, der 2. August 2009. Die Gedanken Tuchels kreisen, ganz gegen seine Gewohnheit auf Busfahrten mit seinem Team, gar nicht so sehr um die anstehende Trainingsarbeit. Vielmehr freut er sich besonders aufs Wiedersehen mit seiner Frau Sissi und vor allem der kleinen Emma. Zwei Wochen zuvor ist Tuchel erstmals Vater geworden. Es ist die Krönung eines berauschenden Sommers, in dem dem Trainer alles zu gelingen scheint. Kurze Zeit zuvor hat er mit den A-Junioren von Mainz 05 den deutschen Meistertitel gewonnen. Dann folgte die Geburt seines ersten Kindes. In der Sommerpause. Wie es für die Familie eines Fußballtrainers nicht besser passen könnte. Die Abreise ins Trainingslager nur wenige Tage nach der Geburt war der einzige Wermutstropfen. Eine Woche hat der damals 35-Jährige seine junge Familie nun nicht sehen können. Noch ein paar Stunden im Bus, dann sind zwei freie Tage eingeplant für seine Mannschaft – und vor allem für seine Familie.
Volker Kersting,