Thomas Tuchel. Daniel Meuren
von Christian Heidel erhalten: „Es ist so weit.“ Kersting muss nicht überlegen, was der mächtige Manager von Mainz 05 ihm sagen will. „Ich wusste sofort, was die Stunde geschlagen hatte“, erinnert sich Kersting. Kurz vor Ankunft des Busses in Mainz meldet sich Heidel dann auch bei Tuchel, es folgt ein erster SMS-Austausch während der Busfahrt. Der Manager bittet den Trainer um ein vertrauliches Treffen. Die Nachwuchsspieler sollen die Entwicklung nicht mitbekommen. Nachdem der Bus Mainz erreicht hat, begleitet Kersting Tuchel erst einmal in dessen Wiesbadener Wohnung. Das neugeborene Kind soll schließlich seinen Papa auch mal wieder sehen. Kersting und Tuchel plaudern noch ein wenig über die neue Entwicklung.
Zwei Tage zuvor hat der Bundesligaaufsteiger aus Mainz in der ersten Runde des DFB-Pokals verloren. Wie schon oft in der Vereinsgeschichte war der Klub ein beliebtes Opfer für einen niederklassigen Gegner. Für Jörn Andersen sollte die 1:2-Pleite nach Verlängerung beim Regionalligaklub VfB Lübeck das letzte Spiel auf der Mainzer Bank gewesen sein. Schlimmer als die Erstrundenniederlage wiegt jedoch die schlechte Stimmung im Team. Und das, obwohl Mainz 05 mit dem Trainer Andersen nur zweieinhalb Monate zuvor in die Bundesliga zurückgekehrt ist. Vor dem Lübeck-Spiel sind aber über das Online-Portal der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) Interna an die Öffentlichkeit geraten. Dort berichteten Spieler anonym von gravierenden charakterlichen Veränderungen des Trainers, der sich plötzlich wie ein General auf und neben dem Platz zu verhalten begonnen habe. Andersen hatte bewusst eine Distanz zu seinen Spielern aufgebaut, ließ Assistenztrainer Jürgen Kramny einen Großteil der Trainingsarbeit verrichten, während er selbst den strengen Beobachter gab. In der Kabine hatte er in der Sommerpause die Spinde der Spieler von Fotos der großen Momente ihrer Karriere oder Bildern der Kinder befreien lassen. Andersen begründete solche Maßnahmen mit seiner Überzeugung, dass „ein Spieler nur Leistung bringt, wenn er Ordnung hält“. Andersens neues Credo war, dass ein Aufstiegsteam nur durch Härte des Trainers auf den Kampf gegen den Abstieg vorbereitet werden könne. Der damals 46 Jahre alte Norweger, einst Bundesliga-Torschützenkönig im Trikot von Eintracht Frankfurt, hatte den Klub in der Vorbereitung wissen lassen, dass er sich als Trainerpersönlichkeit neu darstellen wolle. Er glaubte, wie der für hartes körperliches Training bekannte Felix „Quälix“ Magath auftreten zu müssen. Dazu gehörte auch ein persönlicher Ausrüstervertrag mit einem Modelabel, das mit der Aura des „Lonely Cowboy“ wirbt.
Manager Heidel stört diese Attitüde bereits im Trainingslager im österreichischen Flachau massiv. Er versucht auf den Trainer einzuwirken, der aber stattdessen weiteren Ärger provoziert: Zu einem Empfang des Bürgermeisters der durch „Herminator“ Hermann Maier bekannten Wintersportgemeinde im Salzburger Land kommt Andersen deutlich zu spät – er hatte noch Golf gespielt. Auch dieser Vorgang wird aus der Klubführung an die Öffentlichkeit durchgestochen, der Verein hat das Vertrauen in Andersen verloren. Und so wird erstmals in der Bundesligageschichte ein Aufstiegstrainer nur fünf Tage vor seinem ersten Bundesligaspiel suspendiert. Andersen hätte sich seine Dienstreise in Begleitung von Assistent Kramny zur Beobachtung des ersten Auswärtsgegners Hannover 96 bei Eintracht Trier im DFB-Pokal sparen können. Sein Schicksal ist an diesem späten Sonntagnachmittag bereits besiegelt, Mainz-Manager Heidel muss allerdings noch Andersens Nachfolger von der Dringlichkeit einer schnellen Entscheidung überzeugen.
Thomas Tuchel fährt für das Gespräch mit Heidel spät am Abend zurück an den Bruchweg, wo er sich gegen 22 Uhr mit dem Manager trifft. Heidel erklärt Tuchel, dass er auf ihn setze. Der designierte jüngste Bundesligatrainer der neuen Saison aber zögert. „Thomas hatte sich sogar ein oder zwei Wochen Bedenkzeit erbeten“, erinnert sich Heidel. „Da musste ich ihm klarmachen, dass das im Fußballgeschäft nicht so leicht möglich ist und schon gar nicht in unserer Situation als Aufsteiger fünf Tage vor dem Auftakt der Bundesligasaison. Ich sagte ihm, dass das vielleicht eine einmalige Chance in seinem Leben ist.“ Nachts um zwei Uhr nutzt Tuchel sie. Er sagt zu. Mainz 05 hat einen neuen Trainer. Am nächsten Tag wird er der Presse vorgestellt, nachdem Heidel zuvor früh am Morgen Andersen von seinen Aufgaben freigestellt hat. Der Norweger ist zu dem Termin im Irrglauben erschienen, dass Heidel noch vor Saisonbeginn die frühzeitige Vertragsverlängerung mit ihm, dem Aufstiegsscoach, besprechen will. Stattdessen bekommt Andersen seine Papiere. Tuchel erhält einen an die neue Aufgabe angepassten Vertrag als Profitrainer mit einer Laufzeit über zwei Jahre.
Und so sitzt Thomas Tuchel am Montag, kurz nach 13:30 Uhr, auf dem Podium im kleinen, aber vollbesetzten Presseraum von Mainz 05. Er wirkt beeindruckt vom Blitzlichtgewitter, dem er sich ausgesetzt sieht. Die Nervosität ist ihm anzusehen. „Da kam ich schon ins Schwitzen. Das war eine andere Welt“, gesteht er später ein. Aber seine Aussagen sind klar und weisen den Weg. „Ich gehe mit Respekt an die Aufgabe, aber ohne Angst. Im Moment ist es ein Traum, den ich hier lebe“, sagt er. „Ich habe vom ersten Tag an bei Mainz 05 Rückendeckung und Wertschätzung für mich und meine Arbeit gespürt. Dann interpretiert man das für sich auch so, dass man irgendwann mal vielleicht auf die Liste der Kandidaten für die erste Mannschaft rutschen könnte. Dass es so schnell geht, hätte ich natürlich nicht gedacht.“ Tuchel beteuert zudem, dass er einen für Mainz typischen Stil mit Vorwärtsverteidigung und Umschaltspiel bevorzuge. „Es muss für die Gegner wieder eine Bestrafung werden, zum Bruchweg raufzufahren und 90 Minuten gegen Mainz 05 spielen zu müssen.“
Der Berufung zum Cheftrainer ist einige Monate zuvor ein intensiver Austausch mit Heidel vorangegangen. Der damals 46 Jahre alte Mainzer Manager war im Frühjahr von Tuchel um eine Vertragsauflösung gebeten worden. Tuchel wollte ein Angebot der TSG Hoffenheim annehmen, um dort als U23-Trainer zu arbeiten. Die im Vergleich zu den Mainzer Gehaltsdimensionen im Nachwuchsbereich finanziell deutlich lukrativere Offerte hatte ihm Hoffenheims Chefcoach Ralf Rangnick unterbreitet, einst Tuchels Trainer beim SSV Ulm und später Mentor beim Einstieg in die Trainerlaufbahn: Rangnick hatte den 27 Jahre alten Tuchel im Nachwuchsbereich des VfB Stuttgart als Assistenztrainer der U15 untergebracht. Gegenüber Heidel begründete Tuchel seine Wechselabsichten damit, dass er ein guter Trainer werden und in Hoffenheim das letzte Rüstzeug dafür erwerben wolle. Heidel lehnte Tuchels Bitte um Freigabe rundweg ab und erläuterte ihm dies in einer langen E-Mail. „Ich habe da einen legendären Satz geschrieben, dass ich der Auffassung bin, dass er längst so weit ist, nicht mehr lernen zu müssen, er könne vielmehr schon lehren“, erinnert sich Heidel und muss über seine untypisch gestelzte Wortwahl auch im Nachhinein noch mal schmunzeln. „Ich habe ihm zudem versprochen, dass er in meinem Kopf drin ist, wenn sich bei uns mal was tut auf dem Trainerposten.“
Tuchel schrieb dann zurück, dass er die Zusicherung toll finde, aber es ihm darum gar nicht gehe. Er wolle nur einfach ein guter Trainer werden. Er akzeptierte die Entscheidung und sagte, dass nun alles okay sei und er auch das Angebot aus Hoffenheim gar nicht mehr wolle. Er sei wieder mit Haut und Haaren in Mainz und bedankte sich für das Vertrauen.
12.500 Euro hätte Tuchel in Hoffenheim monatlich verdienen können, fast das Doppelte seines Gehalts in Mainz. „Aber Thomas ging es da nicht ums Geld. Für ihn war Hoffenheim der Anreiz, weil er überzeugt war, dort noch mehr mitnehmen zu können für seine Entwicklung. Die Bedingungen dort – mit wissenschaftlicher Arbeit, großen Betreuerstäben und Ralf Rangnick als Vordenker – waren für ihn verlockend“, sagt Kersting, der Tuchel ein Dreivierteljahr zuvor an den Bruchweg gelotst hatte, nachdem der vorherige A-Juniorentrainer Kramny zum Assistenten bei den Profis befördert worden war.
Der Leiter des Mainzer Nachwuchsleistungszentrums kannte Tuchel von zahlreichen Begegnungen in den vorangegangenen Jahren. „Zunächst hatte ich ihn eher lose wahrgenommen als Co-Trainer von Hansi Kleitsch und später als U15-Trainer beim VfB Stuttgart. Bewusst habe ich ihn dann erlebt, als er in Augsburg Leiter des Nachwuchsleistungszentrums wurde, wo er auch die U23 trainiert hat“, sagt Kersting. „Bei den Tagungen der Leiter der deutschen Nachwuchsleistungszentren fiel er auf, weil interessant war, was er zu sagen hatte. Thomas dachte immer ein wenig quer. Aus den Gesprächen merkte ich, wie tief er in der Materie drin ist. Ich habe dann genauer verfolgt, wie er die U19 des FC Augsburg hat spielen lassen, und ihn dann im Kopf gehabt, als Jürgen Kramny zu den Profis befördert wurde.“ Kersting rief Tuchel an und stieß direkt auf Interesse: „In Mainz waren wir damals viel weiter als Augsburg. Dort musste er sich neben allem anderen Kram auch noch ums Aufpumpen der Bälle kümmern.“
Von Beginn an ist sich Kersting sicher, dass Tuchel die