Thomas Tuchel. Daniel Meuren
vielen altgedienten Profis in den so bundesligaunerfahrenen Trainer. In der Woche darauf spielen die Mainzer in Hannover das nächste Unentschieden ein. Und dann kommt der erste große Festtag: Bayern München erscheint am Bruchweg mit dem neuen Trainer Louis van Gaal. Tuchel und sein Team messen sich also nach nicht einmal drei Wochen der Zusammenarbeit mit einem der besten Teams der Welt und einem der erfolgreichsten Trainer im Weltfußball. Van Gaal, einst mit Ajax Amsterdam Champions-League-Sieger und beim FC Barcelona sowie mit der niederländischen Nationalmannschaft recht erfolgreich, gehört zu jenen, an denen Tuchel sich orientiert hat bei seinem Werdegang. Der Niederländer, der die Öffentlichkeit und auch viele seiner Spieler mit seiner knorrigen Art verstört, ist ein Verfechter des Positionsspiels. Und er ist ein Tüftler, wenn es um die Feinheiten des Trainings geht. In seinem zu jener Zeit erschienenen Buch „Louis van Gaal – Biographie & Vision“ beschreibt van Gaal zahlreiche Beispielübungen, die jenen ähneln, die Tuchel für sein Team zu jener Zeit entwickelt hat. Immer ging es Tuchel dabei darum, seine Spieler durch Aufgabenstellungen zu zwingen, sich intuitiv so zu verhalten, wie es Tuchel für den Spielansatz im Wettkampf wünscht.
Schon im dritten Spiel seiner Cheftrainerlaufbahn gegen die Bayern sind Fortschritte durch Tuchels Arbeit zu sehen. Die Passschärfe fällt ins Auge. Aber gegen die Übermannschaft des deutschen Fußballs geht Mainz 05 vor allem mit einer Überzeugung ins Spiel, die durch die zwei Unentschieden an den ersten beiden Spieltagen gewachsen ist. Die Ergebnisse sind vermutlich ideal für den Ansatz des Trainers: Sein Team spürt, dass es wettbewerbsfähig ist, es besteht aber auch kein Grund für Leichtfertigkeit, wie sie durch allzu schnelle Erfolge entstehen könnte. So wächst die Neugier im Team, die Aufnahmebereitschaft scheint unermesslich, wie man bei den Trainingseinheiten sehen kann. Manche Spieler wie Schürrle oder auch Ivanschitz, die nach dem Training noch fleißig Freistöße üben, scheinen gar nicht genug bekommen zu können. Die Situation erinnert an jene bei den A-Junioren, als in den ersten Wochen im Trainingslager Einheiten erst durch die einbrechende Dunkelheit beendet wurden, da die Spieler einfach nicht vom Feld wollten. Die Profis vertrauen ihrem Coach nach kurzer Zeit bereits blind. „Die ersten beiden Ergebnisse haben uns darin bestärkt, dass der Trainer ganz genau weiß, was er tut. Deshalb haben wir das auch vor dem Bayern-Spiel geglaubt“, sagt Ivanschitz.
Tuchel selbst ist in den Tagen vor dem Spiel klug genug, nicht von einem Sieg gegen die Bayern als Ziel zu sprechen. Stattdessen gibt er seinem Team eine Aufgabe mit auf den Weg, die ergebnisunabhängig zu verwirklichen ist. „Unser Anspruch muss mindestens sein, dass die Bayern, wenn sie was holen, es mit blutiger Nase tun. Dann müssen sie nachher im Bus sitzen und sagen: Gut, dass wir das hinter uns haben“, sagt Tuchel. Die Bereitschaft seines Teams für die denkbar schwerste Aufgabe bereits am dritten Spieltag verstärkt Tuchel dadurch, dass er erstmals bei den Profis ein später immer wieder gerne genutztes Mittel einsetzt. Während die Spieler beim Aufwärmen auf dem Platz sind, werden in der Kabine eine Leinwand aufgebaut, ein Notebook und ein Projektor eingerichtet. Nach ein paar letzten Worten zum Spiel schaltet Tuchel das Licht in der Kabine aus, und von der Leinwand spricht nur noch Al Pacino. Vier Minuten und 20 Sekunden lang peitscht der Hollywoodstar in „Any given Sunday“ („An jedem verdammten Sonntag“) in der Rolle des Footballtrainers Tony D’Amato ein krisengeschütteltes Team derart auf, dass es anschließend aus der Kabine stürmt und den hochfavorisierten Gegner besiegt. Pacino sagt Sätze wie „Entweder bestehen wir als ein Team oder wir zerbrechen“, „In jedem Kampf gewinnt nur der, der für ein Stückchen Erde sein Leben einsetzt!“ oder „Seht euch den Mann neben euch an, ich glaube, dann werdet ihr jemanden sehen, der genauso denkt wie ihr“. Dann gehen die Spieler aufs Feld, im Kopf sind die letzten Worte Al Pacinos: „Entweder bestehen wir jetzt als ein Team, oder wir werden untergehen als Einzelgänger.“
Die Mainzer gehen tatsächlich bemerkenswert couragiert in die Begegnung und suchen ihr Heil in einer überfallartigen Pressingoffensive. Getragen wird das Ganze durch noch recht simple, klare taktische Vorgaben des Trainers, der den Spielaufbau der Bayern als Schwachpunkt ausgemacht hat. Die Münchner haben nach gut acht Wochen der Zusammenarbeit mit van Gaal noch lange nicht verinnerlicht, was der Niederländer mit seiner Lehre vom Positionsspiel von ihnen verlangt. Seine Spieler wirken statisch und unbeweglich, im Kopf gehemmt durch die neuen Anforderungen van Gaals. Tuchel hat diese Schwäche erkannt und lässt seine Mainzer aus einer 4-1-4-1-Grundformation heraus wie wild anrennen – vor allem auf den verunsicherten Bayern-Neuzugang Edson Braafheid, der als Linksverteidiger zahlreiche Fehlpässe spielt oder den Ball gleich ins Aus drischt. Das Mittelfeldzentrum verdichten die Mainzer zudem so sehr, dass Bastian Schweinsteiger an der Seite von Neuzugang und Königstransfer Anatolij Timoschtschuk kaum zu einem geordneten Passspiel findet. Die Mainzer belohnen sich für ihren Harakiri-Fußball mit zwei Toren bis zur Pause. Beim 1:0 durch Andreas Ivanschitz in der 25. Minute hilft Bayern-Schlussmann Michael Rensing freundlich mit. Das Tor ist eine besondere Pointe: Genau vor einem Spielzug wie diesem mit Ivanschitz als schussstarkem und torgefährlichem Mittelfeldspieler hatte vor dem Spiel Hansi Kleitsch gewarnt. Kleitsch, einst Förderer von Tuchel beim VfB Stuttgart, hatte sich mit der Gegneranalyse bei den Bayern quasi um eine Beschäftigung beworben. Dafür sezierte Kleitsch vor allem das Mainzer 2:2 gegen Leverkusen. „Für diese Analyse habe ich mit Thomas gesprochen, er hat mir sehr geholfen“, sagt Kleitsch. Tuchel waren die Freundschaft zu Kleitsch und dessen Aussichten auf einen Job bei den Bayern so wichtig, dass er einem kommenden Gegner quasi in der Vorbereitung half. Van Gaal und sein Trainerteam vernahmen die Warnung, schlugen sie aber in den Wind. Van Gaals Assistent Andries Jonker antwortete Kleitsch, dass sie Ivanschitz nicht so offensiv sehen. Später wird sich van Gaal bei Kleitsch persönlich entschuldigen: „Wenn du was sagst“, so der Niederländer zu Keitsch, „dann glauben wir das ab jetzt immer!“
Im Spiel kommt es noch besser für Mainz: Das 2:0 gegen die Bayern erzielt in der 38. Minute Aristide Bancé, die schillerndste Figur in Tuchels erster Saison in Mainz. Der wegen der Bürgerkriegswirren in seiner Heimat vornehmlich in der Elfenbeinküste aufgewachsene Nationalspieler aus Burkina Faso hat die Mainzer in der Saison zuvor mit seinen Toren in die Bundesliga geschossen. Der fast zwei Meter große Hüne mit dem extrem muskulösen Körper bereitet dem Klub aber auch immer wieder Sorgen. Um sein Knie ist es so schlecht bestellt, dass er häufige Trainingspausen einlegen muss. Zudem hat Bancé ausgerechnet am ersten Trainingstag Tuchels in Mainz für einen Eklat gesorgt. Auf dem Parkplatz neben dem Bruchwegstadion soll er eine 23 Jahre alte Frau mit einem kleinen Kind in ihren Armen geschlagen haben. Die Frau behauptet noch dazu, dass Bancé, der frisch verheiratet und Vater eines sechs Monate alten Kindes ist, auch der Vater ihres Kindes sei. Tuchel geht in den Folgetagen klug mit der Geschichte um. Er stellt klar, dass Bancés Verhalten inakzeptabel sei, aber er nimmt die Mannschaft und sich als Trainer in die Pflicht, Bancé aufzufangen. „Ich habe genau beobachtet, wie er sich verhalten hat. Er hat sich sehr zurückgenommen, den Vorfall nicht ansatzweise verniedlicht oder Späße gemacht“, sagt Tuchel. „Auch die Mannschaft ist sehr gut damit umgegangen. Das war ein gutes Zeichen und der richtige Umgang mit der Sache.“ Tuchel weiß, wie er einen solchen Spielertyp zu führen hat. Der eigenwillige, aber vom Wesen her gutmütige Bancé dankt es Tuchel mit einer formidablen Saison und zehn Toren.
Gegen die Bayern ist Bancé in der zweiten Halbzeit, die in der 47. Minute mit dem Anschlusstreffer von Thomas Müller beginnt, mit seiner Kopfballstärke gefragt, vor allem im eigenen Strafraum. Bancé befördert ein Dutzend Bälle bei Standards aus dem Strafraum. Und was der Stürmer und seine Feldspielerkollegen nicht zu verhindern wissen, das wehrt im Sturmlauf der Bayern 05-Torwart Heinz Müller ab. Der Schlussmann erlebt einen der besten Tage seiner Karriere, und Mainz 05 gewinnt erstmals in der 104-jährigen Vereinsgeschichte gegen Bayern München. Selbst Klubikone Jürgen Klopp ist in der Bundesliga sechsmal und einmal im Pokal mit seinen Mainzer Teams an dieser Aufgabe gescheitert. Zur Belohnung darf Torwartheld Müller am Abend ins ZDF-Sportstudio. Dort wollten sie eigentlich Thomas Tuchel sehen. Der lehnt aber ab. Er hat sich wenige Minuten zuvor schon den Feierlichkeiten am Zaun des Fanblocks mit klugen Worten verweigert. „Ich bin heute keinen einzigen Meter gelaufen, habe keinen Zweikampf geführt, kein Tor vorbereitet und kein Tor geschossen“, sagt Tuchel. „Deshalb soll sich die Mannschaft da feiern lassen.“ Tuchel, der sich sicherlich geschmeichelt fühlt von einer Einladung in die Sendung, die nur fünf Kilometer vom Mainzer Stadion entfernt auf dem Lerchenberg produziert wird, setzt in die Tat um, was er in den Tagen zuvor gepredigt hat: Demut. Jenes Wort