Thomas Tuchel. Daniel Meuren
wird bei Mainz 05 noch immer regelmäßig zusammen gegessen, und bei den Mahlzeiten gilt, dass keiner aufsteht, solange andere noch essen. Tuchel hat diese Regeln eingeführt, weil ihm zu wenig Kommunikation im Team herrschte. Die Regeln förderten das Miteinander. Ähnlich wirkte auch die Einführung eines Frühstücks, bei dem die Spieler einmal in der Woche reihum selbst für den Einkauf zu sorgen hatten. „Das hat Thomas in seiner dritten Saison hier eingeführt. Immer drei Spieler pro Woche sind verantwortlich, kaufen ein und präsentieren“, sagt Bungert. „Die Jungs mussten eigenständig im Supermarkt einkaufen und eine Liste abarbeiten. Es sollte natürlich keine fette Lyonerwurst dabei sein, stattdessen fettarme Putenwurst. Da musste man gegen 7:30 Uhr aufstehen, weil der Einkauf noch vor dem Trainingsbeginn erledigt sein musste.“
Solche Mosaiksteine sind es, die zum Erfolg beitragen, den Tuchel mit seinem Team erreicht. Vor allem aber fühlt sich die Mannschaft sicher, wenn sie von Tuchel auf den Gegner vorbereitet wird. „Nach der Vorstellung des Matchplans verließ man den Besprechungsraum und wusste, heute kann uns nichts passieren. Man ist ohne Nervosität und mit positiver Überzeugung rausgelaufen“, erinnert sich Niko Bungert. „Es war ziemlich detailliert. Das Trainerteam hat nicht nur Stärken und Schwächen des Gegners vorgestellt, sondern exakt auch aufgezeigt, wie wir darauf reagieren müssen. Ein Beispiel: Sechser rauslocken, dann Chip auf unseren Zehner spielen, der dann Platz hat, weil die Innenverteidiger nicht rausrücken. Und in 90 Prozent der Geschichten hat das mit dem Matchplan geklappt. Tuchel hat zwar immer gesagt, das ist ein Fußballspiel, und ihr müsst spontan entscheiden – aber achtet auf diese eine Situation, die wird häufig vorkommen. Und so war es eben auch, und so haben wir oft Erfolge gefeiert.“
Bei der Vorbereitung auf die Spiele weicht Tuchel bewusst von den Usancen der Branche ab. In einem bemerkenswerten, auf YouTube zugänglichen Vortrag unter dem Motto „Rulebreaker“ führt er 2012 aus, wie er bei Mainz 05 in jener Zeit Regeln gebrochen hat. „Die Grundregel in der Bundesliga war damals: ‚Man muss sich für ein Spielsystem entscheiden. Dieses muss man perfektionieren. Und wenn es dann irgendwann automatisiert ist, dann wird man immer besser‘“, sagt Tuchel in dem Clip. Er habe aber für sein Team die Notwendigkeit gesehen, das eigene System auf das des individuell meist besser besetzten Gegners abzustimmen. Woche für Woche sucht er also mit seinem Trainerteam nach Wegen, das gegnerische System lahmzulegen. Meist läuft es darauf hinaus, das System des Gegners zu spiegeln. Wenn der in einem 4-2-3-1 aufläuft, tendieren die Mainzer beispielsweise zu einem Tannenbaum-System im 4-3-2-1, um im Mittelfeld die Räume zuzustellen.
Tuchel gefällt sich sichtlich in der Rolle des „Regelbrechers“. In einem Gewölbekeller in Rorschacherberg am Schweizer Ufer des Bodensees, in dem er einen Vortrag hält, spricht er über jene Anfangszeit vor erfolgreichen Managern. Diese haben sich in der sogenannten Rulebreaker Society zusammengeschlossen, einem Thinktank aus Großunternehmern wie Media-Markt-Gründer Walter Gunz oder dem innovativen Medizinunternehmer Gabor Forgacs. Vor diesen Leuten verspürt der ehemalige BWL-Student Tuchel Hochachtung. Sie werden seinem elitären Anspruch gerecht, die Dinge selbst zu steuern, zu bewegen und vor allem keinen Stillstand zu dulden. Im Manifest des Thinktanks stehen Sätze wie „Wenn ich mich nicht selbst kannibalisiere, dann macht das jemand anderes“ oder „Die Entwicklung eines Geschäftsmodells geschieht durch kreative Zerstörung und zuvor ungekannte Neukombination von Teilen des Geschäfts“ oder „Wenn Regelerzeuger nervös werden, dann bin ich auf dem richtigen Weg. Wenn Regelerzeuger anfangen, gegen mich zu kämpfen, dann bin ich fast am Ziel“. Tuchel sieht sich durch das Interesse dieser Leute an seiner Person bestätigt in seiner Philosophie. Er gewinnt durch die Begegnungen mit wichtigen Menschen aus der Wirtschaft an Selbstüberzeugung. Er geht seinen Weg weiter nach seinem eigenen Matchplan.
Wobei er den Begriff„Matchplan“ schon sehr bald aus seinem Wortschatz verbannt. Tatsächlich verwendet er ihn gerade mal noch in seinen ersten Wochen als Profitrainer: Als „Matchplan“ dann zu seinem Markenzeichen gemacht wird, verweigert er sich dem Wort. Er will nicht reduziert werden auf Zuschreibungen wie „Taktikfuchs“ oder „Motivationsguru“. Tut es doch jemand, reagiert Tuchel alsbald geradezu allergisch. „Das ist nur das Was, aber das Wie entscheidet Spiele“, antwortet er einmal barsch einem Journalisten. Was Tuchel sagen will: Die taktischen Vorgaben des Trainers sind nichts wert, wenn sie nicht dazu führen, dass die Spieler ihre Tugenden auf den Platz bringen. Die Grundformation muss in seiner Mainzer Zeit vor allem dazu beitragen, dass seine Spieler in Zweikämpfe kommen. Gewonnene Zweikämpfe sind Erfolgserlebnisse, die Zutrauen geben zum Spielansatz. Selbstbewusste Spieler wiederum sind in der Lage, den Mut aufzubringen, das eigene Spiel mit dem Ball durchzusetzen und somit auch die Laufintensität ins Spiel zu bringen, die der Trainer sich wünscht.
Tuchel fördert bei seiner Mannschaft diese Bereitschaft, sich zu verausgaben und in Zweikämpfen aufzureiben. Er gibt gerade in den ersten Jahren keine Ergebnisziele vor. Aber er misst seine Mannschaft an Laufdaten. Wenn sie ein Spiel verliert, aber die kumulierte Laufdistanz, die Zahl an Sprints und an intensiven Läufen stimmt, die Zweikampfquote den Wünschen entspricht, dann vermittelt Tuchel seinem Team das Gefühl, dass es alles für den Erfolg getan hat. Umgekehrt kann er mit seinen Spielern hart ins Gericht gehen, wenn sie ein Spiel gewinnen, aber die Grundtugenden vermissen lassen. Die Spieler schätzen diese Art der Kritik, weil es sich um klar vereinbarte Ziele im Team handelt, die umsetzbar sind unabhängig von individueller Qualität.
Gerade in den ersten Monaten geht Tuchel freilich auch mit den großen Augen eines Newcomers durch die Fußballwelt. Ein freies Wochenende nach einem Freitagspiel nutzt er beispielsweise zu einem Ausflug, den er sich vorher allein finanziell vielleicht nicht hätte leisten können. Teammanager Axel Schuster organisiert ihm einen Trip zu einem Spiel von Real Madrid. Tuchel fliegt mit einem Freund in die spanische Hauptstadt, die Tickets führen die beiden in eine Loge des Estadio Santiago Bernabeu. Tuchel staunt nicht schlecht, als er wenige Meter neben sich die Meistertrainer Radomir Antic und Bora Milutinovic erkennt. Er fragt sich, wie er die Trainerroutiniers ansprechen könne. Am Ende entscheidet er sich dazu, dass er sich bei ihnen vorstellt mit den Worten: „Hi, I am a young coach from Germany.“ Milutinovic antwortet ihm: „We are young coaches too.“ Das gemeinsame Gelächter ist groß. Tuchel gefällt der erste Kontakt mit der ganz großen Fußballwelt. Solche Erlebnisse motivieren ihn.
Zu Hause in Mainz bleibt er seinem Weg treu. Woche für Woche wird akribisch an der Spielidee für den kommenden Gegner gearbeitet. Und tatsächlich haben die Mainzer schnell den Ruf, ein äußerst unangenehmer Gegner zu sein. Wenn Tuchels Elf verliert, dann nur selten deutlich. Und eine Spielidee ist stets zu erkennen. Mainz 05 wird als Bereicherung der Bundesliga angesehen. Und der junge Trainer an der Seitenlinie als ein etwas kauziger, aber spannender neuer Charakter. Der Klub beendet die Spielzeit auf Rang neun. Besser waren die 05er noch nie platziert. Und Tuchel überrascht sich selbst: Vor der Saison war er sich noch sicher, dass er in jedem Fall erstmals am Ende der Saison mit einer Mannschaft mehr Niederlagen als Siege auf dem Konto haben würde. Tatsächlich beendet Mainz die Spielzeit mit zwölf Siegen bei nur elf Niederlagen sowie elf Unentschieden. Bis zum Ende seiner Amtszeit in Mainz nach fünf Spielzeiten wird Tuchel diese Bilanz aufrechterhalten und 65 Siege bei nur 61 Niederlagen einfahren. In der Tuchel-Tabelle, die auf eine ab 2012 von Heidel aufgestellte saisonübergreifende Rechnung zurückgeht, schneidet Mainz 05 in den Jahren unter Tuchel als fünftbester Klub ab: Nur Bayern München, Borussia Dortmund, Schalke 04 und Bayer Leverkusen sammeln in den Spielzeiten von 2009 bis 2014 mehr Punkte. In 170 Bundesligaspielen stehen für Mainz unter Tuchel 239 Punkte, also 1,41 Punkte pro Spiel zu Buche – ein unfassbarer Wert für einen Klub dieser Größenordnung.
„THIS IS AN EMERGENCY CASE!“
Weshalb der Spieler Tuchel es nicht nach oben schafft
Am 3. Mai 1997 trifft Oliver Wölki einen alten Freund. Aber nicht im Café oder im Restaurant. An diesem Tag muss die Freundschaft mit Thomas Tuchel sogar ruhen. Zumindest für die 90 Minuten Fußball, in denen die beiden Gegner sind. Wölki bleibt jene Begegnung zwischen dem VfR Mannheim und dem SSV Ulm an diesem Frühlingstag aus zwei Gründen besonders in Erinnerung. Er spielt gegen seinen alten Klub, von dem er erst im Sommer zum VfR gewechselt ist. Und: Er und sein alter Freund Thomas agieren auf ungewohnten Positionen – und spielen direkt gegeneinander.
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