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Thomas Tuchel. Daniel Meuren
Möglichkeiten wir als Fußballer in dieser Parallelwelt haben. Sicher ist Demut auch ein Leitfaden für mich. Ich versuche, danach zu leben, bescheiden zu sein und jeden Tag positiv anzugehen. Man sollte generell dankbar sein für die Talente, die man hat“, sagte er in einem Interview mit der FAZ vor dem Spiel gegen die Bayern und führt weiter aus: „Demut soll wohlgemerkt nicht verwechselt werden damit, dass wir uns kleiner machen, als wir sind. Wenn jetzt ganz konkret die Bayern an den Bruchweg kommen, dann wollen wir keineswegs den Anschein erwecken, dass wir die Guten und Braven sind, die keine Chance haben. Dann wollen wir auf dem Feld auch böse werden.“ Die Boshaftigkeit hilft. Nicht nur der drei Punkte wegen. Abseits des Feldes sind die Mainzer plötzlich „Everybody’s Darling“. Die Fußballwelt wundert sich, dass ein vermeintlicher Chaosklub kaum vier Wochen nach der Trennung vom Aufstiegstrainer die Bayern bezwingen kann.
Tuchels Antrittsvorlesung in Psychologie
Zu verdanken haben die Mainzer den erfolgreichen Start in die Zusammenarbeit mit Tuchel ihrer verblüffenden Effektivität: Sie nutzen fast 40 Prozent ihrer Torchancen für Treffer. Vor allem Andreas Ivanschitz hat einen Lauf. Der Österreicher ist an neun der ersten zwölf Tore beteiligt, die dem Klub bis zum achten Spieltag stolze 14 Punkte bescheren. „Thomas Tuchel und der Verein haben gerade in diesen ersten Monaten von mir profitiert“, sagt Ivanschitz. „Aber ich habe genauso von Thomas Tuchel profitiert.“ Ivanschitz wird zu einem jener Spieler, mit denen der Trainer am härtesten ins Gericht geht. Nicht nur im Training, auch in den Spielen schreit er den Österreicher von der Seitenlinie aus immer wieder an, fordert ihn zu mehr Wachheit und Einsatz auf. Mitspieler erkennen keinen Grund, warum sich der Trainer teilweise persönlich, teilweise auch verletzend auf Ivanschitz einschießt. „Natürlich waren diese Ansagen oft unangenehm, und ich dachte mir immer mal wieder: Was will er jetzt schon wieder, warum immer auf mich?“, erinnert sich Ivanschitz. „Aber gerade in der Rückschau muss ich sagen, dass es ihm immer um den Erfolg der Mannschaft ging und darum, dass ich mein Optimum abrufe.“ Tuchel liegt bei seinem österreichischen Spielmacher vermutlich richtig damit, dass er ihn mit einer derartigen Ansprache zu mehr Leistung treiben kann. Ist der harte Umgangston also der Preis, den man als Profi zahlen muss? Viele Ehemalige sehen das anders und sagen in der Rückschau, dass der überragende Fußballfachmann Tuchel nicht wegen seines harten Tons, sondern trotz seiner Ausraster erfolgreich ist. Sie sind sich sicher, dass Tuchel ein noch erfolgreicherer Trainer werden könnte, wenn er sich besser im Griff hätte, wenn er mehr Respekt zeigen würde gegenüber allen Spielern. „Wenn er eine Legende werden will wie Hitzfeld oder Heynckes oder auch Klopp, dann muss er dazulernen. Aber er hat ja noch Zeit, und das Alter wird ihm vielleicht helfen“, sagt ein ehemaliger Spieler Tuchels, der nicht genannt werden will.
In seiner Anfangszeit erweckt Tuchel freilich noch den Eindruck, dass er weiß, wie er auch zarter besaitete Spieler anzupacken hat. Seine Sicht der Dinge bezüglich der Kunst der Mannschaftsführung legt er einmal in einer jener Presserunden dar, die gelegentlich wie Antrittsvorlesungen in Fußballwissenschaft daherkommen. Dort verortet Tuchel sich – aufbauend auf seinem Erfahrungsschatz aus zehn Jahren im Nachwuchsbereich – in der Tradition der Sozialpsychologie. Er referiert über die drei Typen des Fußballspielers und die entsprechenden Anforderungen, die diese an einen Trainer stellen. So gebe es den Spieler, bei dem man den Aggressionstrieb reizen müsse für entsprechende Leistungen, wie Aristide Bancé. Den Mainzer Toptorjäger habe man mit Belohnungen bezüglich Rang und Status in der Mannschaft und der Gehaltshierarchie zu Spitzenleistungen bewegen können.
Bei dem damaligen Mainzer Shootingstar André Schürrle oder eben auch bei einem Andreas Ivanschitz sieht Tuchel die Lage ähnlich, allerdings aufgrund anderer psychologischer Erkenntnisse. Diesen Spielern attestiert er einen natürlichen Spieltrieb, der sie ansporne zu Trainingseifer und Spitzenleistungen. „Sie saugen alles unglaublich neugierig auf. Dieser Spielertyp hat eine Spiellaune wie ein kleiner Hund, wenn er den Trainingsplatz betritt“, sagt Tuchel. „Da muss man eher bremsen.“ Im dritten Teil zur Psychologie der Mannschaftsführung erläutert er den Bindungstrieb, der manche Spieler trotz der vielen verwirrenden Möglichkeiten im Profigeschäft zur Entscheidung für einen Arbeitgeber wie Mainz 05 dränge: Klassische Mannschaftsspieler, wie es beispielsweise die stets aufs Schicksal des Klubs achtenden und kurz zuvor abgetretenen Marco Rose und Dimo Wache waren, brauche der Verein auch künftig.
Einige Jahre später spricht er in dem Buch „Edge: Leadership Secrets from Football’s Top Thinkers“ des englischen Sportjournalisten Ben Lyttleton nochmals ausführlicher über seine Art der Führung von Spielern. Und er spricht vor allem darüber, welche Rolle Vertrauen spielt. „Wir sprechen von ‚den Augen‘. Hat er gute Augen? Kann ich diesem Kerl vertrauen? Es geht um Bindung und Respekt und Glaube. Wenn du nur ein dumpfes Gefühl hast, dass das im Spieler nicht drin ist, dann ist es schon schwierig.“
Am besten in Tuchels Verständnis von Personalführung kann sich wohl Andreas Ivanschitz versetzen. „Ich habe das so für mich umgesetzt, dass ich es ihm nach harter Kritik dann zeige. Ich wusste immer, wenn ich das schaffen will bei einem 1A-Trainer, dann muss ich das in positive Energie ummünzen. Auch Ansprachen vor dem Spiel waren oft sehr gezielt auf mich abgerichtet. Er baute Druck auf mich auf.“ Wenn Ivanschitz dann ein starkes Spiel mit spielentscheidenden Aktionen gelingt, gibt es freilich auch Lob des Trainers. Er habe sich sichtlich für den Spieler gefreut, dass Ivanschitz umgesetzt habe, was er mit dem Spieler unter der Woche erarbeitet hat. „Das Abfeiern nach dem Spiel zeigte dann, dass er alles für unsere Leistung getan hat. Er konnte sich unfassbar für einen mitfreuen. Er fiel mir nach Spielen in den Arm und zeigte einem, dass wir es gemeinsam geschafft haben“, sagt Ivanschitz.
Wenn der Österreicher sich nun einordnen soll unter den drei Charakteren der Tuchel’schen Typenlehre, dann sieht er sich eindeutig als den neugierigen Spieler, der spielen will und den man nicht motivieren muss. „Aber selbst dann geht es eben auch um Druck. Du brauchst jede Woche einen Ansporn zu Höchstleistung“, sagt er. Genau das, vermutet Ivanschitz, habe Tuchel im Sinn gehabt und zugleich gewusst, dass er ihn so anpacken könne. Ivanschitz kann sich – ohne Namen zu nennen – aber auch an Spieler erinnern, die mit dem Druck von Tuchel nicht zurechtgekommen sind. Andernorts waren solche Spieler, die Mainz als Ersatzspieler verlassen haben, freilich auch nur selten erfolgreicher. „Rückblickend betrachtet, waren die vier Jahre unter Tuchel herausragend für meine Person und die Mannschaft.“
Alle Spieler, die einen längeren Weg mit Tuchel in Mainz gegangen sind, bestätigen dieses Urteil. Tuchel macht Spieler besser. Er treibt sie zu Höchstleistungen. Aber es gibt auch Spieler, die sich sicher sind, dass Tuchel mit einem anderen Umgangston noch ein paar Prozent mehr hätte herausholen können. „Thomas Tuchel war gerade in der Anfangszeit zum allergrößten Teil ein Trainer, mit dem man auch viel lachen konnte“, erinnert sich ein Spieler, der mehrere Jahre mit Tuchel zusammengearbeitet hat. „Man konnte sich abseits des Platzes unterhalten, er ist intelligent und witzig. Aber so 20 Prozent der Zeit war er immer schon der Psychopath, der es übertreibt, der überehrgeizig ist. Dann wurde er persönlich, vergriff sich im Ton, war beleidigend. Von Jahr zu Jahr näherte sich das Verhältnis immer mehr zu 50:50. Er wurde immer ungeduldiger, wenn Spieler nicht die Fortschritte machten, die er sich erhofft hatte. Ich glaube schon, dass er viele Spieler kaputt gemacht hat auf diese Weise.“
Niko Bungert beurteilt Tuchel deutlich positiver. Der langjährige Innenverteidiger von Mainz 05 ist eines der Paradebeispiele für einen Akteur, der sich durch Tuchels Training stark weiterentwickelte. Bungert wurde von Jahr zu Jahr im selben Maß besser, in dem es auch das gesamte Team wurde. Als fleißiger Tuchel-Schüler lernte er dazu und schaffte es deshalb, ein Jahrzehnt in der Bundesliga, am Ende ein wenig gebremst durch Verletzungen, Stammspieler zu sein, obgleich er von seiner schmächtigen Statur her denkbar ungeeignet schien für die tragende Rolle als Innenverteidiger. Der langjährige Kapitän von Mainz 05, der unter Tuchel seine Entwicklung vom 21 Jahre alten, talentierten Aufstiegshelden zum etablierten Bundesligaprofi nahm, weiß noch, wie sich Trainingseinheiten bei Tuchel anfühlten. „Er hat mich wahnsinnig geprägt, ich werde nicht müde zu betonen, dass er einen riesigen Anteil daran hat, dass ich zehn Jahre Bundesliga gespielt habe. Ich glaube, einem 21 Jahre jungen, wissbegierigen Spieler kann nichts Besseres passieren, als ihm zu begegnen. Wenn man sich auf ihn einlässt, bekommt man individuell und auch als Mannschaft die bestmögliche Ausbildung“, sagt