Thomas Tuchel. Daniel Meuren
des Klubs hat damals – neben einem Job im rheinland-pfälzischen Wissenschaftsministerium – eine Halbtagsstelle bei 05, als Inhaber der Fußballlehrerlizenz besitzt sein Wort Gewicht bei der Besetzung des Trainerpostens. „Ich habe vorgeschlagen, dass wir uns mal mit Thomas Tuchel treffen sollten“, sagt Volker Kersting. „Ich wusste, dass ich bei Stefan nicht sagen durfte, dass Thomas zu 100 Prozent passe, weil er sonst vielleicht eine Ablehnungshaltung entwickelt hätte“, sagt Kersting. Die beiden Mainzer fahren also nach Stuttgart ins SI-Centrum, ein Erlebniszentrum mit einem Musicalhaus, einer Spielbank, Kinosälen und eben auch ein paar Cafés, in denen man sich zu Gesprächen dieser Art treffen kann. Tuchel ist unfassbar gut vorbereitet und nimmt beide direkt für sich ein. Er unterbreitet bereits Vorschläge, wo er in Mainz in der Entwicklung ansetzen kann. „Als nach kurzer Zeit nur noch Thomas und Stefan miteinander über den Fußballlehrerlehrgang und andere Dinge gefachsimpelt haben und ich mich zurücklehnen konnte, da wusste ich, dass es was wird“, sagt Kersting. Kurz nach dem Einsteigen ins Auto in der Tiefgarage verpasst Hofmann seinem Kumpel Kersting dann einen blauen Fleck, als er ihm freundschaftlich auf die Schulter haut. „Du Drecksack, du wusstest doch schon vorher, dass er genau der Richtige ist.“ Die beiden Nachwuchsförderer aus Mainz sind bester Laune. Selten zuvor haben sie eine Personalentscheidung gemeinsam mit ähnlicher Überzeugung getroffen. Der Besuch Tuchels in Mainz, wo er sich die Trainingsstätte genau anschaut und man die Vertragsinhalte bespricht, wird zur Formsache. Der Trainer ist ebenfalls Feuer und Flamme für die neue Aufgabe, da er in Augsburg keine Entwicklungsmöglichkeiten für sich mehr sieht. Und es fehlt ihm in dem Klub, in dem er zum Jugendnationalspieler gereift war, auch an der Wertschätzung. Deswegen hatte Tuchel, unabhängig von neuen Optionen, beim FCA bereits seinen Abgang angekündigt. Dem Klub wird er in den kommenden Jahren bei Begegnungen in der Bundesliga stets mit einer erstaunlichen Distanz begegnen. Eine besondere Bindung ist nicht geblieben aus den immerhin sechs Jahren am Rosenaustadion.
In Mainz legt Tuchel gleich los wie die Feuerwehr. „Vom ersten Training an war da ein Feuer, das ich nie zuvor erlebt hatte. Die Jungs waren mit einem Eifer bei der Sache, die wollten gar nicht mehr runter vom Trainingsplatz“, erinnert sich Volker Kersting. „Im ersten Trainingslager mussten wir die Nachmittagseinheiten nach über vier Stunden abbrechen – weil es dunkel wurde.“ Die jungen Mainzer Spieler spüren von Anfang an, dass der neue Trainer sie Tag für Tag besser macht. Tuchel beeindruckt sie durch seine bedingungslose Fokussierung. „Er hat in dieser Zeit nur in seiner Aufgabe gelebt. Viele andere Trainer im Jugendbereich schielen nur auf den nächsten Schritt und überlegen, wie sie den schaffen können“, sagt Kersting. „Thomas hat mit großer Gelassenheit im Moment gearbeitet. Im Vertrauen darauf, dass sich alles Weitere irgendwann findet.“ Tuchel hat diese Herangehensweise nach einer persönlichen Begegnung von einem Hockeytrainer übernommen, wie er in einem Interview mit der FAZ sagt: „Ein englischer Trainer, der in Indien Sportchef des indischen Verbands ist, sagte mir mal: ‚Wenn ihr U17-Trainer seid, wollt ihr eigentlich schon U19 trainieren. Wenn ihr Co-Trainer seid, wollt ihr eigentlich schon Chef sein. Das ist ein Fehler!‘ Da ist was dran. Wer in seinem Job aufgeht und sich frei macht von Eitelkeiten, der wird in seiner Qualität dazugewinnen. Und das wird irgendwann erkannt. Mein Sprung war nur möglich, weil ich es nie zwanghaft wollte. Ich habe der U19 alles gegeben und mir gesagt, dass ich alles andere eh nicht beeinflussen kann.“
Entsprechend geht Tuchel in seiner neuen Aufgabe in Mainz auf. Ein Spieler wie Jan Kirchhoff, der – beginnend mit dem A-Juniorenjahr – fünf Jahre lang mit Tuchel zusammenarbeiten wird, kann sich nicht mehr an Details der ersten Wochen erinnern. Aber er weiß noch, wie dieser Trainer alle für sich eingenommen hat. „Wir sind unglaublich schnell ein unfassbar verschworener Haufen geworden, weil es einfach Spaß gemacht hat, zusammen sehr hart zu arbeiten“, sagt Kirchhoff. Und der Trainer trägt seinen Teil dazu bei mit besonderen Ideen. Im Trainingslager fragt er Kersting spontan, ob er das Budget habe, Mountainbikes für das gesamte Team ausleihen zu können für eine Gipfeltour. Der ganze Kader stürmt anschließend mit den Rädern auf Zeit hinauf zur Simmeringalm, dort gibt es Kaasspatzn beim wunderschönen Blick ins Inntal und später auf dem Gipfel des Simmering in 2.096 Metern Höhe eine jener Ansprachen, mit denen Tuchel seine Teams für sich begeistert. Er gibt als Ziel vor, dass die Mannschaft ein Endspiel erreichen soll. In Mainz denken sie dabei eher ans deutsche A-Jugend-Pokalfinale, das mit nur drei Siegen zu erreichen ist. Bei der Rede packt der Trainer auch noch einen kleinen Trick aus, der später in der Saison noch einmal Bedeutung erhalten wird. „Thomas fragte mich, ob ich irgendwas mit Symbolwert dabei hätte, was man als Schatz vergraben könne“, erinnert sich Kersting. „Ich habe einen 05-Pin in der Tasche gehabt. Wir haben den dann in ein Snickerspapier eingewickelt und an einer markanten Stelle verbuddelt. Ich sehe das noch heute genau vor mir.“ Tuchel sagt seiner Mannschaft, dass sie nach dem Finaleinzug noch einmal alle zusammen auf diesen Berg gehen werden, um den Schatz auszugraben.
Der Mannschaftsrat marschiert zum Trainer
Die Mainzer gewinnen nicht sofort alle Spiele. Die Saison beginnt mit einer Niederlage gegen Hoffenheim, Gegentreffer in der Nachspielzeit. Tuchel ist enttäuscht, verbreitet in seiner Mannschaft aber Optimismus. Er überzeugt die Jungs von seinem Weg, auch wenn das Ergebnis erst einmal nicht stimmt. Nach einer Siegesserie im Herbst, die dem Team Platz zwei hinter Tabellenführer SC Freiburg mit dessen Trainer Christian Streich beschert, folgt zudem das Ende des ersten Traums: Im DFB-Pokal-Achtelfinale unterliegen die Mainzer Borussia Dortmund mit 3:5. Der Schatz auf dem Simmeringgipfel, so scheint es, muss nicht mehr ausgegraben werden. Rund um diese Pokalbegegnung verlieren Tuchels Jungs in der Liga auch gegen ihre direkten Verfolger Bayern München und VfB Stuttgart. Die Mainzer Nachwuchskicker sind auch deshalb in der Krise, weil ihr bester Mann fehlt. U19-Nationalspieler André Schürrle, der spätere erste Weltmeister mit Mainzer Fußballausbildung, fällt mehrere Wochen lang aus. Tabellenplatz zwei geht verloren, der für die Teilnahme an der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft berechtigt. Die Stimmung ist erstmals im Keller. Tuchel kann nicht aus seiner Haut. Sein Umgangston im Training wird noch härter und direkter, als er es ohnehin schon ist. Die jungen Spieler sind verunsichert, sie fühlen sich ungerecht behandelt. So nimmt sich der Mannschaftsrat um Jan Kirchhoff und André Schürrle ein Herz und marschiert zum Trainer. „Wir haben ihm gesagt, dass wir anders behandelt werden wollen. Wir haben ja nicht absichtlich verloren, es lief nur einfach ein paar Wochen nicht so gut“, erinnert sich Kirchhoff später, als er gemeinsam mit Schürrle bei Tuchels Berufung zum Cheftrainer in Mainz von Journalisten zu ihren Erfahrungen mit dem Trainer befragt wird. Die beiden Jugendnationalspieler sind die einzigen A-Junioren, die Tuchel direkt zu den Profis folgen werden. Tuchel hört sich die Beschwerde der Spieler an und ändert sich. Fortan wahrt er Grenzen, wenn er seine Nachwuchsspieler kritisiert. Und das scheint gut so. Das Team festigt sich. Es spielt immer in einem 4-2-3-1-System, ständige Wechsel, wie sie später bei Tuchel an der Tagesordnung sind, gibt es noch nicht. Im Jugendfußball würde das die Spieler zu sehr verunsichern. In diesem Alter braucht das Talent noch Sicherheit. Und zum anderen hat Tuchels Mannschaft mit den immer gleichen Spielzügen auch Erfolg. Die Gegner wissen eben nicht durch Videoanalysen oder Ähnliches wie später bei den Profis, was die Mainzer vorhaben. Das letzte Spiel vor der Winterpause gewinnen Bell, Kirchhoff, Schürrle und Co. an Nikolaus 2008 gegen den SC Freiburg, den Tabellenführer und Deutschen Meister der Vorsaison. Dessen Trainer Streich ärgert sich am Spielfeldrand schon so wie später als Bundesligatrainer. Begegnungen mit Tuchel werden für ihn immer ganz besondere bleiben. Die beiden verstehen sich außerhalb des Platzes prächtig, weil sie viele Gedanken zum Fußball teilen. Aber in den 90 Minuten herrscht zwischen ihnen fast eine Art Kriegszustand. „Mit Christian war es immer der Wahnsinn“, sagt Volker Kersting. „Vor dem Spiel innige Umarmungen, nach dem Spiel herzliche Verabschiedungen, natürlich gerne mit den Worten: ‚Glückwunsch zum Sieg, eigentlich hätten aber wir ja gewinnen müssen.‘ Aber beim Spiel hat es nach dem Anpfiff keine drei Minuten gedauert, dass er erstmals an unserer Bank auftauchte und uns aufs Übelste beleidigt hat. Thomas und er haben schon eine besondere ‚Liebesbeziehung‘.“ Die Wertschätzung geht so weit, dass Tuchel trotz der deftigen Begegnungen an der Seitenlinie Streich nach seiner Berufung zum Cheftrainer durch Kersting kontaktieren lässt und anfragt, ob er sein Assistent werden wolle. Das Vorhaben scheitert. Vermutlich zu beider großem Glück. Zwei Alphatiere auf einer Trainerbank, das wäre nicht gut gegangen, ist Kersting überzeugt. Stattdessen findet Tuchel in Arno Michels, mit dem er