Thomas Tuchel. Daniel Meuren
als Assistent beim VfB Stuttgart beigetragen hatte, in den Schatten. An diesem Tag gewinnt ein Außenseiterklub dank des besseren Matchplans seines Trainers gegen eine handverlesene Auswahl an Toptalenten. Nach dem Spiel bekommt Tuchel die bei Meisterfeiern üblichen Duschen ab – allerdings noch ganz unschuldig mit Wasser. Auch Jan Kirchhoff schüttet dem Trainer einen Wassereimer über. „Und dann haben wir gefeiert. Wir waren schon eine echt geile Truppe, die durch Tuchel einen unglaublichen Mannschaftsgeist entwickelt hat“, sagt Kirchhoff. Der Verein zeigt ebenfalls seinen Stolz über die Leistung des Nachwuchses. Manager Christian Heidel stellt den Meistertitel der A-Junioren „fast auf eine Stufe mit dem Bundesligaaufstieg nur fünf Wochen zuvor“. Und das für die Jugendabteilung zuständige Vorstandsmitglied Hubert Friedrich, Vater des ein Jahrzehnt zuvor in Mainz ausgebildeten späteren Nationalspielers Manuel Friedrich, verweist auf die rein sportliche Komponente dieses Titels, der noch wenig mit Kommerz und den Abwegen des Profisports zu tun habe: „Diese Meisterschaft ist für uns umso schöner, als dieser Jugendtitel ein Produkt von Vereinsarbeit und nicht von Transfertätigkeit ist.“ Die Mainzer seien noch weit entfernt von den andernorts üblichen Entlohnungen von Talenten. „Bei uns werden nur Fahrtkosten erstattet. Wir haben die Prämisse, dass die Spieler zu uns kommen wegen der Qualität in der Ausbildung.“
Damit war insbesondere auch Tuchel gemeint. Der lässt sich auch in der Euphorie des errungenen Meistertitels nicht von seinem analytischen Weg abbringen. Er freut sich für seine Jungs, aber er hat auch den Spielverlauf im Kopf. Die Dortmunder bestimmen die erste Halbzeit nach Belieben. Die Jung-Borussen vergeben aber ein halbes Dutzend Großchancen fahrlässig, während die Mainzer in der 26. Minute mit dem ersten Schuss aufs gegnerische Tor durch Eugen Gopko in Führung gehen. Nach Mario Götzes Ausgleichstreffer kurz vor der Pause sind die Rheinhessen immer noch gut bedient. „Wir saßen in der Halbzeit in der Kabine und waren dankbar, dass wir noch im Spiel waren“, gesteht Tuchel später. Nach Wiederanpfiff dominiert sein Team aber plötzlich das Geschehen, sodass der Sieg durch den Treffer des eingewechselten Robin Mertinitz in der 67. Minute verdient ist. Schon mit dem Erfolg bringt Tuchel Bewegung in den Verein. Geschäftsführer Michael Kammerer muss nämlich neues Briefpapier in Auftrag geben. „Diesen Meistertitel schreiben wir natürlich neben unseren bislang einzigen Eintrag von der Amateurmeisterschaft 1982“, kündigt er an. Gut, dass in einem Briefkopf kein Trainername steht. Den müssten die Mainzer sonst auch bald wieder ändern.
Denn Tuchels Beförderung zum Cheftrainer erfolgt viel schneller als erwartet – auch für Tuchel. Bei der Vorstellung verrät Manager Heidel en passant, dass Tuchel kurz zuvor auch noch ein Angebot vorliegen hatte, unter Rainer Adrion Assistenztrainer der deutschen U21-Nationalmannschaft zu werden. Doch jetzt steht der in Fachkreisen so umworbene Coach erstmals auf dem Trainingsplatz einer Bundesligamannschaft. Es ist der 4. August 2009. Ein Dienstag. In vier Tagen muss Mainz 05 gegen Bayer Leverkusen antreten.
MIT AL PACINO ZUM SIEG ÜBER DIE BAYERN
Psychotricks und Regeln brechen
Das erste Training verläuft bemerkenswert unspektakulär. Die Beobachter, gleich ob Journalisten oder die für Mainzer Verhältnisse recht zahlreichen, gut fünf Dutzend Kiebitze, haben ein Feuerwerk an revolutionären Übungen erwartet, die Übungseinheit eines jungen Fußballlehrers, der meint, sich beweisen zu müssen. Aber Tuchel ist viel mutiger. Er wagt die Einfachheit. Der Trainer kommt unprätentiös mit einer Stoppuhr und einer Trillerpfeife um den Hals auf den Trainingsplatz, spricht kurz zu seiner neuen Mannschaft, und dann sieht man eine halbe Ewigkeit lang Profis, die sich Bälle ganz simpel über sieben oder acht Meter zuspielen und sich dabei ihre Namen zurufen. Die Einheit vermittelt den Eindruck eines Kennenlernspiels in einer bunt zusammengewürfelten Jugendmannschaft. Doch die Übung hat ihren Sinn. Tuchel hat unter anderem zwei große Defizite bei seinem Team ausgemacht: Das Passspiel ist ihm zu lasch, entsprechend hört man ihn in dieser wie in den Trainingseinheiten der folgenden Wochen immer wieder das Wort „schärfer“ über den Platz schreien. Jeder Pass soll so scharf gespielt werden wie möglich und nötig. Und die Namensnennung beim Passspiel soll dafür sorgen, dass eine in der Krise mit dem Vorgänger verstummte Mannschaft dazu findet, dass die Spieler wieder miteinander sprechen. „Ich weiß noch, dass nach dem Training viele gesagt haben, der macht jetzt Schüler- oder Jugendtraining“, sagt Christian Heidel. „Aber die Mannschaft dachte das überhaupt nicht. Tuchel kam gut an, seine Ansprache kam an. Vor dem Training hat er mit der Mannschaft fünf Minuten geredet – da war der Jugendtrainer in die Kabine gekommen. Und als die Mannschaft aus der Kabine rauskam, war er der Profitrainer.“ Tuchel zeigt vom ersten Moment an ein Charisma, mit dem er die Mannschaft für sich gewinnt.
Andreas Ivanschitz beurteilt das aus Sicht eines damaligen Führungsspielers ähnlich. „Das waren schon spannende Tage“, erinnert sich der damalige Topverdiener im Mainzer Kader. Gut drei Wochen zuvor ist der 25-jährige österreichische Nationalspieler als erfahrener Stareinkauf verpflichtet worden. Er soll als Spielgestalter das Herzstück des Mainzer Teams werden. „Die Entlassung von Andersen war dann erst mal ein Schock. Es wird ja schließlich jener Trainer gefeuert, der dich geholt hat. Und du entscheidest dich ja auch wegen Gesprächen mit dem Trainer und dessen Ideen für einen Transfer. Dazu bist du bei einem Bundesliganeuling. Es gibt sicher angenehmere Situationen“, sagt Ivanschitz. „Aber dann schwemmte Thomas Tuchel diese ganze Angst, diese Bedenken mit seinem ersten Auftritt weg. Er kam als junger Trainer in die Kabine und hat mit seiner Ausstrahlung und Lockerheit die Zweifel genommen. Er strahlte und hatte Bock auf den Job. Er war bereit. Das spürte man einfach. Spätestens auf dem Platz war dann jeder von ihm überzeugt. Die ersten Stunden in der Kabine und auf dem Platz waren einfach beeindruckend. Mir hat das direkt die Unsicherheit genommen.“
Tuchel registriert mit feinem Gespür, dass der erste Auftritt vor seiner neuen Mannschaft gelungen ist. Er stellt sich schon am selben Tag einem Interview mit der FAZ. Damals ist er noch offen für solche Gespräche, die ihn schon drei Jahre später zu langweilen beginnen, als er sich mehr und mehr auf die Pflichtveranstaltungen für Trainer beschränkt. „Heute war ein schöner Tag für mich“, sagt er. „Ich habe mich auf den Job gefreut. Und das kann man mit einem Lachen zeigen. Dann kriegt man auch ein Strahlen zurück. Wenn die Spieler das so bemerkt haben, ist das ein gutes Zeichen.“ Wenige Tage später reflektiert er seinen beruflichen Aufstieg noch einmal etwas ausführlicher. „Ich profitiere von einer absolut glücklichen Fügung. Es war für mich schon Glück, so sehr wertgeschätzt zu werden als Trainer der A-Junioren. Sicher war auch wichtig, dass der Verein bei Jürgen Klopp mit einer ähnlichen Entscheidung gute Erfahrungen gemacht hat“, sagt er. „Ich kenne viele andere gut ausgebildete Trainer, die das Glück noch nicht hatten. Wir haben uns auf den Tagungen der U19-Trainer immer wieder gefragt, wie man in den Profibereich kommt, ohne die obligatorischen Länderspiele und Bundesligaeinsätze im dreistelligen Bereich. Da gehört einfach Glück dazu, einen Verein zu haben, der sich was traut. Ich glaube, dass mein Werdegang bei fast keinem anderen Verein möglich gewesen wäre.“
Tuchel rechtfertigt das Vertrauen umgehend. Vier Tage nach seinem Dienstantritt läuft eine völlig andere 05-Elf auf, als zum Saisonauftakt Bayer Leverkusen in Mainz zu Gast ist. Thomas Tuchel beginnt seine Laufbahn als damals jüngster Trainer der Bundesliga ausgerechnet in einem Duell mit dem damals ältesten Coach. Altmeister Jupp Heynckes, 64, hatte 22 Jahre zuvor für einen Wutausbruch bei seinem heutigen Gegenüber gesorgt: Als Heynckes seine Mönchengladbacher Borussia 1987 Richtung Bayern München verließ, riss im schwäbischen Krumbach ein 13 Jahre alter Borussen-Fan aus Ärger ein paar Poster von der Wand. Jetzt, in Mainz, begegnet Tuchel seinem einstigen Idol mit dem gebotenen Respekt abseits des Spielfelds, aber auf dem Platz fordert seine Mannschaft den Favoriten aus Leverkusen erstaunlich couragiert heraus: Nach fünf Minuten bringt Tim Hoogland die Rheinhessen in Führung. Torhüter Heinz Müller wehrt anschließend noch einen Elfmeter von Tranquillo Barnetta ab. Trotzdem liegt Bayer zur Pause 2:1 vorn dank Treffern von Derdiyok und Kießling kurz vor dem Halbzeitpfiff. In den zweiten 45 Minuten plätschert das Spiel vor sich hin. Das Bundesligadebüt von Thomas Tuchel scheint mit einer Niederlage zu enden. Aber dann trifft der eingewechselte Daniel Gunkel. Der Mittelfeldspieler drischt einen Freistoß aus 22 Metern mit perfekter Schusstechnik über die Mauer hinweg ins Tor. „Ich weiß von Leuten aus seinem Trainerteam, dass Thomas Tuchel noch heute immer mal wieder erzählt, dass seine Karriere auch hätte